Durch Sprachkontakt verursachte Beeinflussung einer Sprache oder Sprachvarietät
durch eine andere, was sich durch Übernahme von bestimmten Elementen, Merkmalen
und Regeln äußert. Interferenzerscheinungen, die zunächst als Verstöße gegen die
Sprachnorm gelten, können in das Sprachsystem der Zielsprache integriert werden
(Transferenz) und damit Sprachwandel auslösen.
Das Sorbische steht
seit mehr als 1 000 Jahren im Kontakt mit dem Deutschen, zunächst vermittelt
durch die Deutschkenntnisse einer Bildungsschicht und seit der Wende vom 19. zum
20. Jh. durch kollektive asymmetrische Zweisprachigkeit (nur die Sorben sind
zweisprachig). Erwartungsgemäß lassen sich zahlreiche Interferenzwirkungen in
beiden Richtungen feststellen. Die Interferenz kann alle Ebenen des
Sprachsystems betreffen, wobei sie sich zuerst in Form von Entlehnungen im Wortschatz zeigt. Zur ältesten Schicht von deutschen Lehnwörtern im
Sorbischen zählen z. B. obersorb., niedersorb. pjenjez ,Münze‘ (<
ahd. pfenning) und obersorb., niedersorb. myto ,Lohn‘ (<
althochdt. mūta ,Maut‘) sowie zahlreiche Wörter aus dem Bereich der
christlichen Terminologie (obersorb. cyrkej, niedersorb.
cerkwja ,Kirche‘, obersorb. wołtar, niedersorb.
hołtaŕ ,Altar‘). Solche frühen Entlehnungen sind meist in die
Schriftsprache integriert, lautlich und morphologisch adaptiert (vgl. obersorb.
bleša ,Flasche‘, niedersorb. žyźe ,Seide‘ <
mittelhochdt. sīde) oder bewahren den ursprünglichen deutschen
dialektalen Lautstand (niedersorb. zejpa ,Seife‘ < mittelniederdt.
sēpe). Spätere Entlehnungen aus dem Neuhochdeutschen blieben
infolge puristischer Sprachpolitik häufig auf die Dialekte bzw. die
Umgangssprache beschränkt, v. a. gilt dies für das Obersorbische
(umgangssprachlich hól(o)wać ,holen‘, měrk(o)wać ,merken‘,
šrawpštok ,Schraubstock‘). Auch die Aufnahme von Internationalismen
und Fremdwörtern (besonders Anglizismen) in neuerer Zeit ist in der Regel auf
den deutsch-sorbischen Sprachkontakt zurückzuführen. Typisch für die nicht
standardsprachliche Kommunikation von Zweisprachigen sind situationsbedingte
Ad-hoc-Entlehnungen bis hin zur sog. Sprachumschaltung (Code-Switching), wobei
die Grenze zu den ins Sorbische integrierten Lehnwörtern fließend ist.
Dialektale Bezeichnungen für „Pfifferling“ im Deutschen; Illustration aus:
„Der Niedersorben Wendisch“ (2003)
Interferenzerscheinungen auf dem Gebiet der Grammatik betreffen z. B. die Verwendung der
Pronomina obersorb. tón, ta, to, niedersorb.
ten, ta, to in Artikelfunktion oder die
Herausbildung von Passivformen mit dem Lehnwort obersorb. wordować,
niedersorb. wordowaś ,werden‘ (obersorb. wón jo sej tu nohu
złamał ,er hat sich das Bein gebrochen‘; niedersorb. pótom wordujo
blido wurumowane ,dann wird der Tisch abgeräumt‘). Beide Erscheinungen
betreffen heute meist nur die Volkssprache (Umgangssprache und Dialekte). Auf
deutschen Einfluss ist in beiden Schriftsprachen der Schwund des
präpositionslosen Instrumentals zurückzuführen (stets mit Präposition: obersorb.
pisam z pisakom, niedersorb. pišom z pisakom, vgl. deutsch
,ich schreibe mit einem Stift‘), ebenso Veränderungen in der Wortfolge, die
insbesondere im Obersorbischen zur regelmäßigen Verwendung von
Satzrahmenkonstruktionen geführt haben. In der Wortbildung äußert sich die
Interferenzwirkung des Deutschen z. B. in der Zunahme von Komposita (obersorb.
ryćerkubło ,Rittergut‘, obersorb., niedersorb. prochsrěbak
,Staubsauger‘) und in der Bildung von umgangssprachlich markierten sog.
Partikelverben (niedersorb. prědkcytaś ,vorlesen‘, obersorb.
horjećahnyć ,aufziehen‘). Phonetisch macht sich deutscher Einfluss
im Obersorbischen in den letzten Jahrzehnten zunehmend bei der jüngeren
Generation bemerkbar, so in der nicht adaptierten Aussprache deutscher
Lehnwörter mit im Sorbischen fremden Lautmerkmalen (deutsche Umlaute ö,
ü, Vokalquantität), in der vokalisierten Aussprache von r
nach Vokalen (poɐst statt porst
,Finger‘), im Schwund der rückwirkenden Stimmhaftigkeitsassimilation
(wopdźěłać statt wobdźěłać) oder in der labiodentalen
Aussprache von w wie im Deutschen statt u̯ (u-ähnlicher
bilabialer Laut). Im Niedersorbischen, das schon seit
mehreren Jahrzehnten meist nur noch als Zweit- bzw. Fremdsprache nach dem
Deutschen erworben wird, ist der Einfluss des deutschen Lautstands noch weiter
verbreitet.
Ebenso sind die von den zweisprachigen Sorben in der Ober- und Niederlausitz gebrauchten deutschen Sprachvarietäten von
Interferenzmerkmalen geprägt. Dies betrifft vor allem Phonetik, Grammatik und
Syntax, in geringerem Maße den Wortschatz, da sorbische Lehnwörter die
Kommunikation mit einsprachig Deutschen stören würden.
Darstellung des deutschen Lehnwortes „bleša“ im Obersorbischen aus: H. H.
Bielfeldt „Die deutschen Lehnwörter im Obersorbischen“ (1933)
Als typische Erscheinung der phonetischen Interferenz in sorbisch-deutsche Richtung gilt z.
B. der Schwund bzw. der unsichere Gebrauch des h im Anlaut
(Niederlausitz: Andfeger, Arke, Uhn; Oberlausitz:
at, geiert ,gehört‘). Diese h-Reduktion ist besonders in
der Niederlausitz verbreitet. Hier findet sich auch unetymologisches h
wie in Hacker, Hochse, Higel; ier astu
Schniete, komm hessen. Diese Erscheinung hält sich in der
Niederlausitz noch nach dem Sprachwechsel bei einsprachig Deutschen als
Substraterscheinung. Weitere Merkmale des sorbischen Akzents im Deutschen sind
die Stimmhaftigkeitsassimilation nach sorbischem Vorbild (tiždekn für
Tisch decken, dazgras statt das Gras),
Unregelmäßigkeiten bei der Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen
(Oberlausitz: fuhter holln ,Futter holen‘, Niederlausitz als
Substraterscheinung: Schniete, Hoff statt Schnitte,
Hof), bilabiale Aussprache von w (u̯as statt
was). Typisch im Bereich der grammatischen Interferenz sind das
Fehlen des Artikels (Niederlausitz: steckt eich Stulle ein,
Oberlausitz: Tür ist aufgeblieben), die häufige Anwendung präfigierter
Verben anstelle von Simplizia (ist das Schwein ausgemästet, dann wird es
abgeschlachtet, vgl. obersorb. wukormić, zarězać),
die doppelte Verneinung (ich habe nirgends keinen Pilz gefunden),
abweichender Gebrauch des Reflexivpronomens auf der Grundlage der sorbischen
Verbformen (machte sich die Tür auf statt wurde aufgemacht,
vgl. obersorb. durje so wočinichu; er lacht sich mir statt
er lacht mich aus, vgl. niedersorb. smjaś se někomu,
obersorb. smjeć so někomu). Eine sorbische Grundlage hat auch der
Gebrauch von sich statt mich und uns bei reflexiven
Verben (Niederlausitz: ich bedanke sich, Oberlausitz: (wir) mussten
... sich Stelle suchen). Die Häufigkeit obersorbisch-deutscher
phonetischer und grammatischer Interferenzerscheinungen hat seit 1945 deutlich
abgenommen, während umgekehrt die Einwirkung des Deutschen auf das Sorbische
wächst.
Sorbische Einflüsse im deutschen Wortschatz sind in der Niederlausitz in größerem Umfang zu
verzeichnen als in der Oberlausitz. Auch halten sich lexikalische Entlehnungen
noch nach dem Übergang zur deutschen Einsprachigkeit im regionalen
Sprachgebrauch. Neben Reliktwörtern wie Dese ,Backtrog‘ (Ober- und
Niederlausitz), Paprosch ,Farn, Farnkraut‘ (Niederlausitz),
Braschka ,Hochzeitsbitter‘ (Oberlausitz) sind Rückentlehnungen
belegt wie Heduschka ,Knöterich, Ackerwinde‘ aus niedersorb.
hejduška ,Buchweizen‘ zu deutsch Heide und
Lumpack ,Lumpensammler, Taugenichts‘ aus sorb. lumpak zu
deutsch Lump (beides Niederlausitz). Zu nennen sind ferner
Lehnübersetzungen wie Leinenschlinke ,zum Bleichen ausgelegtes Leinen‘
zu šlinka płatu (Niederlausitz) oder der Hund macht dir nichts
(obersorb. činić ,tun, machen‘). Sorbische Wortelemente enthalten
in der Niederlausitz Hahnak ,Hahn‘, Nakatz ,nackter Mensch,
Hemdenmatz‘ und Flöteraue ,Weidenflöte‘ nach dem gleichbedeutenden
Batzaue (niedersorb. barcawa).
Die obersorbisch-niedersorbische Interferenz betrifft nur die Schriftsprache. Gründe sind die
bewusste Annäherung der niedersorbischen Schriftsprache an das Obersorbische,
daneben Slawisierungsbestrebungen, Wortschatzausbau und individuelle
Sprachinterferenzen. Entsprechende Einflüsse sind z. T. in der Morphologie,
besonders aber im Wortschatz festzustellen. In den niedersorbischen Texten
lassen sich reguläre, dem Lautstand des Niedersorbischen angepasste (obersorb.
hajić > niedersorb. gajiś ,pflegen, hegen‘, obersorb.
kedźbu > niedersorb. kejźbu ,Achtung‘) und nicht reguläre
Entlehnungen (čitaŕ ,Leser‘, pśinošk ,Beitrag‘,
rozprawa ,Bericht‘) nachweisen, wobei Letztere schließlich entweder
grafisch und phonetisch adaptiert (cytaŕ, pśinosk,
rozpšawa) oder aufgegeben wurden (hudźba > muzika
,Musik‘). Etablierte, aber nicht reguläre obersorbische Lehnwörter sind
tysac ,tausend‘ und kraj ,Land‘ (nach niedersorbischem
Lautstand eigentlich *tysec bzw. *kšaj).
Darstellung des obersorbischen Lehnwortes „składnosć“ im Niedersorbischen aus:
A. Pohontsch „Der Einfluss obersorbischer Lexik auf die niedersorbische
Schriftsprache“ (2003)
Bis 1945 war obersorbischer Einfluss im Niedersorbischen eine Randerscheinung und betraf nur
einzelne Wörter. Danach erfolgte unter obersorbischer Einwirkung eine
Veränderung der lexikalischen Norm der niedersorbischen Schriftsprache:
Obersorbische Lehnwörter traten an die Stelle deutscher Lehnwörter
(lazowaś > cytaś ,lesen‘), zeitweise wurden
niedersorbische Wörter durch obersorbische ersetzt (pódwjacor >
zapad ,Westen‘). Es erfolgte ein Umbau in der Struktur der
deutschen Lehnübersetzungen (z. B. Ersatz von Partikelverben durch Verben mit
regulärem Präfix: wen dawaś > wudawaś ,herausgeben‘), vermehrt
traten Kopulativkomposita vom Typ molaŕ-spisowaśel sowie sog.
o-Komposita (swětonaglěd ,Weltanschauung‘) auf, die
Adaption von Substantiven und Verben französisch-lateinischer Herkunft erfolgte
nach obersorbischem Vorbild. Deverbale Substantive auf -nje,
-śe, -mo, -ń wurden zugunsten von Nullableitungen
(pódpismo > pódpis ,Unterschrift‘) oder obersorbischen
Lehnwörtern aufgegeben (pódejźenje > pódawk ,Ereignis‘). Seit
den 1970er und verstärkt seit den 1990er Jahren ist ein gegenläufiger Prozess
der Verdrängung obersorbische Einflüsse zu verzeichnen (→ Sprachpurismus).
Die Beeinflussung des Obersorbischen durch das Niedersorbische ist marginal und erfolgte
besonders im 19. Jh. infolge slawisierender Tendenzen (mordar >
kuna ,Marder‘) oder des Strebens nach größerer Exaktheit
(skaženy > sćekły, vgl. niedersorb. sćakły
,tollwütig‘).
Lit.: H. H. Bielfeldt: Die deutschen Lehnwörter im Obersorbischen, Leipzig 1933
(Reprint Nendeln 1968); E. Eichler: Wörterbuch der slawischen Elemente im
Ostmitteldeutschen, Bautzen 1965; S. Michalk/H. Protze: Studien zur sprachlichen
Interferenz, Band I und II, Bautzen 1967, 1974; K. Müller: Slawisches im
deutschen Wortschatz, Berlin 1995; A. Pohontsch: Der Einfluss obersorbischer
Lexik auf die niedersorbische Schriftsprache. Ein Beitrag zur
Entwicklungsgeschichte der niedersorbischen Schriftsprache, Bautzen 2003; M.
Bayer: Sprachkontakt deutsch-slavisch, Frankfurt am Main u. a. 2006; L. Scholze:
Das grammatische System der obersorbischen Umgangssprache im Sprachkontakt,
Bautzen 2008; H. Bartels: Lehnwörter im Niedersorbischen, in: Lětopis 56 (2009)
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