Mehrepisodige Prosaerzählung über wunderbare und abenteuerliche Erlebnisse von Menschen und
Tieren, die mithilfe fantastischer Mittel und Möglichkeiten ihr Glück machen.
Die Ableitung des Begriffs bajka von obersorbisch bać,
niedersorbisch bajaś, deutsch ,Unsinn reden, faseln’, betont im
Sorbischen, dass es sich um die Wiedergabe von Fiktivem handelt. Obersorb.
bajki bać ,Märchen erzählen’ bedeutet im übertragenen Sinne auch
„flunkern, schwindeln“. Märchen werden mündlich und literarisch überliefert.
Autoren literarischer Märchen (→ Literatur)
setzen Merkmale der volkstümlichen Überlieferung wie die Naivität, die
Dreigliedrigkeit oder das Prinzip des Achtergewichts (die letzte Aufgabe bringt
die Erlösung) bewusst als Struktur- und Stilmittel in ihre Dichtung ein.
Theateraufführung »Die drei Bären« des Sorbischen Kindertheaters, 1968;
Fotograf: Kurt Heine, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Im Gegensatz zur Sage wird ein Märchen bewusst als erfundene
und unwirkliche Geschichte wahrgenommen. Wer ein Märchen erzählt, gibt zu
erkennen, dass er es nicht selbst erlebt hat, sondern Erdachtes vermittelt. Die
Wunder sind jedoch so in die Realität eingebettet, dass man gern daran glauben
möchte. Sie ereignen sich weder zu einer bestimmten Zeit, noch an einem
bestimmten Ort. Eingangs- und Schlussformeln betonen, dass die Handlung
irgendwann und irgendwo spielt (z. B. obersorb. Běše a njeběše ,Es war
und war auch nicht’, Běše pak něhdy ,Es war einmal’, A staj hišće
dźensa žiwaj, jelizo wumrěłoj njejstaj ,Und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie noch heute’).
Märchen handeln von Kontrasten, von denen der jeweils positive Teil siegt: Das Gute
triumphiert über das Böse, das schöne, meist arme, Mädchen über das hässliche,
der von der Familie vernachlässigte, jedoch schlaue jüngste Sohn über seine
tölpelhaften großen Brüder. Mut, Ausdauer und Tapferkeit führen die Helden zum
Ziel, an dem sie ein glückliches, sorgenfreies Leben erwartet. Die geschickte
Verknüpfung des Übernatürlichen mit der Alltagswelt der Menschen in der Ober-und Niederlausitz, jene Nähe des Außergewöhnlichen zum
wirklichen Leben sorgt für die faszinierende Wirkung von Märchen. In den
sorbischen Märchen heißen die Helden Jank und Hanka oder Jan, Jurij und Pětr,
aus dem „fremden Ritter“ wird der „böhmische Ritter“, Wolf und Füchsin besuchen
die Mädchen in den Spinnstuben. Im Märchen
vom Kienpeter erinnert die Darstellung der Landschaft an die Muskauer Heide (→ Muskauer
Standesherrschaft), wenngleich nur allgemein von der Kienkammer eines
Heidebewohners die Rede ist bzw. von der Stadt, wo der Kien verkauft wird, und
dem fernen Glasschloss auf dem Felsen, in dem Hanka ihren Freier erwartet. Für
das Sorbische typisch scheint die humorvolle Annäherung des Märchenhaften an die
Wirklichkeit zu sein. Im Märchen „Die schwarze und weiße Prinzessin“ soll der
Protagonist, ein Soldat, ein Paar Stiefel durchlaufen, um die Prinzessin zu
erlösen. Jedoch anstatt sich auf den langen Weg zu machen, schleift er
kurzerhand die Sohlen mit dem Schleifstein ab und erfüllt damit die Aufgabe.
Die
Märchenerzählerin Hana Chěžcyna aus Horka
Die bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. vorrangig mündlich überlieferten sorbischen
Erzählungen entsprechen in ihren Motiven dem in Mitteleuropa allgemein bekannten
Märchengut und damit dem Typenverzeichnis (ATU) von Antti Aarne und Stith Thompson von 1928, neu bearbeitet von
Hans-Jörg Uther (2004). Friedrich Sieber (1935) beurteilte das im
ober- und niedersorbischen Sprachgebiet gesammelte Material, dessen Umfang er
auf „wenigstens ein halbes Hundert“ schätzte, als reich gegenüber seinen
Aufzeichnungen im obersächsischen Raum. Pawoł
Nedo zählte für seine wissenschaftlich kommentierte
Quellenausgabe von 1956 86 Märchen aus sorbisch- und deutschsprachigen
Sammlungen und Zeitungen, die nachweisbar über mehr als zwei Generationen im
sorbischen Sprachgebiet überliefert worden waren und deren sprachliche
Gestaltung und Komposition sie als „sorbisch“ ausweisen. Einen im Vergleich zu
den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob
Grimm und Wilhelm Grimm
hohen Anteil bilden darin die Tiermärchen, von denen wiederum die Märchen von
Wolf und Füchsin durch ihre realistische und plastische Situationsschilderung
hervorstechen. In der Partnerschaft der beiden gefräßigen Raubtiere verleitet
die selbstsüchtige und listige Füchsin den dummen Wolf zu Handlungen, die stets
zu dessen Nachteil ausgehen. Auf ihr Anraten versucht er mit dem Schwanz Heringe
aus dem zugefrorenen Weiher zu fischen und friert dabei an oder säuft einen
Brunnen aus, um an den sich darin spiegelnden Mond zu gelangen, den er für einen
Käse hält. Als Allegorien zu den Verhaltensweisen der Menschen ist den
Tiermärchen wenig Fantastisches eigen. Das Märchenhafte liegt hier vielmehr im
menschlichen Auftreten der Tiere, die wie Menschen denken und soziale
Hierarchien aufbauen, sich untereinander verbünden oder im Zwist miteinander
liegen und Abenteuer bestehen müssen, um Glück und Geborgenheit zu finden.
Märchensammlung der Prager Studenten, 1899; Repro: Sorbische Zentralbibliothek
am Sorbischen Institut
Den Kern der sorbischen Märchen bilden die Zaubermärchen, deren Handlung durch übernatürliche
Fähigkeiten und Wunderdinge vorangetrieben wird. Charakteristisch ist der
optimistische Ausgang, wenngleich die sorbische Überlieferung einige Ausnahmen
aufweist. So erschlägt der Vater im Märchen vom Däumling mit dem Wolf, den ihm
der Sohn zutreibt, auch den Winzling selbst, der sich am Wolfsschwanz
festgekrallt hatte. In der sorbischen Fassung vom „Machandelboom“ wird Jank von
der Stiefmutter getötet und sein Kopf dem Vater zum Essen gereicht. Die
Schwester sammelt die Knochen, wickelt sie in ein Tuch und vergräbt sie, nicht
wie bei Grimm unter einem Wacholderbaum, sondern wie für die Lausitz typisch, unter einem Holunderbusch. Die Knochen
verwandeln sich auf magische Weise in einen singenden Vogel, der die Schwester
beschenkt und die Stiefmutter erschlägt, aber seine menschliche Gestalt, wie der
Knabe in der deutschen Fassung, erlangt Jank nicht zurück. Wie eine
Horrorgeschichte mutet das Märchen von „Patchen und Patin“ an. Die Patin,
offensichtlich der im Sorbischen weibliche Tod, lädt ihr Patenkind zu sich ein,
wo sich vor dem Mädchen unerklärliche Szenen abspielen: Das Tor ist mit einer
Menschenhand zugesteckt, in der Scheune dreschen vier Hunde, eine Katze melkt
die Kuh, im Haus buttert ein Pferdefuß und hinterm Ofen drehen sich Därme. Die
Patin erklärt, dass sie lediglich ihren Torriegel, ihr Gesinde und ihren Mann
sowie ihr trocknendes Garn gesehen habe und bringt das Mädchen um. Die
formelhafte Sprache im Frage-Antwort-Spiel zwischen Patchen und Patin mit ihren
Wiederholungen verleiht der Erzählung eine unheimliche dramatische Spannung, die
mit dem Tod des Mädchens abrupt endet. Das im Verzeichnis internationaler
Erzähltypen verzeichnete Märchen „Der Haushalt der Hexe“ (ATU 334) ist hier in
einer ursprünglichen Form belegt. Es fehlt der didaktische Impetus wie im
Märchen von „Frau Trude“ in den Kinder- und Hausmärchen, wo das eigensinnige
Mädchen trotz Warnung der Eltern das wunderliche Haus aufsucht und für seine
Neugier bestraft wird.
Auswahl sorbischer Volksmärchen, Domowina-Verlag 1964
Zaubermärchen handeln von Extremen. Treue, Freigebigkeit und Fleiß werden reich
belohnt, während Verrat, Geiz und Faulheit meist mit dem Leben bezahlt werden.
Der alte König im Märchen „Der Prinz und sein Zauberpferd“ verbrennt in
kochender Stutenmilch, die ihn verjüngen soll, was in Anbetracht seiner Menschen
verachtenden Habgier nur gerecht erscheint. Die böse Stiefmutter im „Klingenden
Lindchen“ wird mit den Haaren an den Schwanz eines Pferdes gebunden, das über
Wurzelstöcke galoppiert und schließlich nur mit dem „Skalp“ am Schwanz
zurückkehrt. Der Waldgeist Kosmatej belohnt die gegen die Tiere barmherzige
Halbwaise mit einem Schloss, während er die selbstsüchtige Tochter der
Stiefmutter zerreißt und ihre Gedärme ums Haus windet. Drastische Bestrafung und
die christlich bestimmte Haltung von Buße und Reue bestimmen die Handlung im
Märchen von der „Patenschaft der Hl. Maria“. Weil es seine Neugier nicht zügeln
konnte und das verbotene Zimmer zu öffnen versucht, schlägt die Jungfrau Maria
ihr Patenkind mit Stummheit und erweckt den Eindruck, die so behinderte junge
Mutter würde ihre eigenen Kinder fressen. Erst als diese als Kindsmörderin
verbrannt werden soll, lässt sie Gnade walten mit den Worten: „Du hast genug für
deinen Ungehorsam gelitten; gehorche aber deinem Herrn und sei redend!“
Das Auftreten der Hl. Maria bringt das Märchen in die Nähe zu den
Legendenmärchen, denen im sorbischen Repertoire jedoch zahlenmäßig kaum
Bedeutung zukommt. Die von Klerikern schriftlich tradierten Legenden über
Heilige und Märtyrer sowie das göttliche Heilswirken wurden von den niederen
Volksschichten übernommen und im Stile der Märchen umerzählt. Meist steht nicht
mehr der Heilige im Mittelpunkt der Erzählung, sondern der sündige Mensch, der
wie der Räuber Lipskulijan durch Buße erlöst wird. Verbreitet sind die
Erzählungen, wie Christus oder Gott mit dem Hl. Petrus über das Land wandeln und
die Menschen charakterisieren. In ihren Gesprächen steht der menschlich-naiven
Einschätzung von Petrus, der Gutes mit Gutem belohnen will, Gottes weise
Weltsicht entgegen. So erhält nicht das fleißige Mädchen den Tüchtigen zum Mann,
sondern die Faule, die ansonsten im Leben scheitern würde. Und nicht die
geistlichen Lieder, sondern die Volkslieder erfreuen Christus, weil sie mit
Inbrunst gesungen werden.
Die kirchlichen Motive und Themen haben ebenso wie die Novellenmärchen und die schwankhaften
Erzählungen vom dummen Teufel und von Riesen in der sorbischen Überlieferung
keine allgemeine Verbreitung gefunden. Ein Grund dafür mag im Fehlen der frühen
religiösen und höfischen Dichtung bzw. der Schwankliteratur (→ Schwank) liegen, die jene Gattungen z. B. in der
deutschen oder französischen Überlieferung nachweislich unterstützt haben. In
den Novellenmärchen ereignet sich nichts Wunderbares im Sinne von
Übernatürlichem. Es wird auf irrationale Elemente wie Dämonen, sprechende Tiere
oder Verwandlungen verzichtet. Der Held ist vielmehr ganz auf sich gestellt und
zeichnet sich durch außergewöhnliche Fähigkeiten aus. Die kluge Bauerntochter
löst das Rätsel des Gutsherrn durch ihre Gewitztheit; Müllers Hanka schlägt neun
Räubern den Kopf ab und bewahrt so das Hab und Gut ihrer Familie.
Erzählt wurden Märchen im familiären Kreis, bei halböffentlichen Gelegenheiten
sowie bei gemeinsamer Handarbeit. Eine schriftliche Tradition hat ihre
Überlieferung nicht in direktem Maße beeinflusst. Die genaue Herkunft und
Ursprungszeit der sorbischen Märchen ist daher kaum ermittelbar. Mit Gewissheit
lässt sich sagen, dass sie im 18. und 19. Jh. vor allem unter denjenigen
verbreitet waren, deren sozialen Status sie abbilden. In der Regel begibt sich
ein Armer auf die Suche nach Glück. Der Tagelöhner oder Häusler muss Fremde um
die Gevatternschaft für seine vielen Kinder bitten. Der König und sein Hofstaat
werden nur ungenau geschildert, da die Menschen ihn nur vom Hörensagen kennen.
Von den bekannten Königserzählungen wie „Der Froschkönig“, „Der getreue
Johannes“ oder „Dornröschen“ ist im sorbischen Repertoire keine Spur zu finden.
Auch die Vorliebe für komische Situationen sowie die burlesken und drastischen
Darstellungen weisen auf das Erzählen im einfachen ländlichen bzw.
vorstädtischen Milieu hin. Damit der Wolf das ausgesoffene Brunnenwasser anhält,
stöpselt ihn der Fuchs einfach zu. Dem starken Knecht verabreicht der tückische
Amtmann ein Abführmittel. Woraufhin der Knecht ohne Hose das Feld absenst und
trotz Durchfall seine Aufgabe rechtzeitig beendet, um den reichen Lohn
einzustreichen.
Anthologie westslawischer Märchen, Domowina-Verlag 1972
Zu den wesentlichen Stilelementen im Märchen gehört die Grausamkeit, jedoch wirkt sie im
Gesamtgefüge längst nicht so grausig wie in einer realistischen Erzählung.
Schreckgeschichten bilden in der Regel lediglich eine Episode innerhalb eines
Märchens. Sie steigern die Spannung; die Leistung des Helden wirkt umso
gewaltiger, je gefährlicher sein Weg geschildert wird. Das erbarmungslose
Abrechnen mit Eltern, die ihre Kinder aussetzen, oder mit Menschen fressenden
Hexen und Riesen entsprechen dem naiven Wunsch, dass das Böse mit den eigenen
Mitteln bestraft wird. Dabei erinnern das Verstümmeln und Blenden, das
Zu-Tode-Schleifen oder Verbrennen an tatsächliche Rechtspraktiken vergangener
Zeiten, die auch in den sorbischen Märchen nachwirken. Von den sprachlichen
Gestaltungsmitteln fällt wie im Volkslied
die häufige Verwendung von Diminutiva auf, die mitunter in außergewöhnlicher
Dichte auftreten. So will die Stiefmutter dem Stiefkind zunächst „z piwkom nóžce
myć a z mlóčkom hłójčku“ (mit Bierchen die Füßchen waschen und mit Milchlein das
Köpfchen). „Das Knäblein“ meint nicht etwa einen kleinen Jungen, sondern den
meist ausgewachsenen Helden der Erzählung, er hat keinen Brief, sondern ein
„Brieflein“ zu überbringen und das „Schlüsselchen“ zum Haus zu finden. Die
Verkleinerungsform zeigt emotionale Nähe zu den positiv gezeichneten Personen
und Dingen an und gehört zu den wichtigsten Stilmitteln der poetischen
Volkssprache. Von allen Gattungen der Volksdichtung stellt das Märchen die höchsten Anforderungen an die
Erzähler. Das poetische Geschick, zu dem eine sichere Stoffbeherrschung und
gestalterische Kraft gehören, war nur Einzelnen gegeben und nicht immer stießen
die Märchensammler auf die Talentiertesten von ihnen. In den Sammlungen von
Jan Arnošt Smoler verweisen
besonders die Märchen von Frau Scholze aus Kotten auf sie als eine poetisch begabte Erzählerin. Unter
Wilibald von Schulenburgs
Gewährspersonen ragen der Häusler Kito
Pank aus Burg
(Spreewald) und der Bauer und Dorfschulze Jan Hantšo-Hano aus Schleife heraus. Pawoł Nedo lernte in den 1950er-Jahren
Hana Chěžcyna (1887–1984) aus
Horka kennen, die mit ihrer
plastischen Erzählkunst nicht nur ihre Enkelkinder, sondern auch robuste
Steinbrucharbeiter in ihren Bann ziehen konnte.
Das Interesse an der sorbischen Volksdichtung regte sich zuerst unter den sorbischen
Studenten in Leipzig um 1825. Unter der
Anleitung Handrij Zejlers sammelten
sie in der Oberlausitz Sprichwörter,
Rätsel, Sagen, Märchen und Volkslieder und trugen die Ergebnisse in die
handschriftliche Leipziger sorbischen Zeitschrift „Sserska/Serbska Nowina“ (Sorbische Zeitung) ein. Die
meisten der Märchenaufzeichnungen stammen von Zejler, der aus der Beschäftigung
mit ihnen dichterische Impulse für seine eigene Dichtung ableitete und später
zahlreiche Motive aus den Tiermärchen in seinen Fabeln verarbeitete. Jan Arnošt
Smoler hielt Mitte der 1830er Jahre die sorbischen Gymnasiasten in Bautzen und die sorbischen Studenten in
Breslau zu Erhebungen in ihren
jeweiligen Heimatorten an und fügte dem zweiten Band seiner Volksliedersammlung
(1843) die erste größere Zusammenstellung sorbischer Märchen bei, die in der
Folgezeit auch für andere Editionen übernommen wurde, so 1863 in den zweiten
Band des Lausitzer Sagenbuchs von Karl
Haupt. Wie Zejler in Leipzig hatte Smoler darauf geachtet, dass
die Märchen so aufgezeichnet wurden, „wie sie im Munde des Volkes leben, ohne
Zusätze und Veränderungen“ (Neues Lausitzisches Magazin 19/1841). Die ersten
Übersetzungen aus den Grimm’schen Märchen erschienen in der Wochenschrift
„Jutrniczka“ (1842). Die Prager
sorbischen Studenten, die 1846 die Vereinigung Serbowka gegründet hatten, trugen ihre Aufzeichnungen, darunter auch
Märchen, im Jahrbuch „Kwětki“ ein. Von den literarisch stark bearbeiteten
Märchentexten heben sich die der beiden späteren katholischen Pfarrer Michał Róla und Handrij Dučman als zuverlässig und
sprachlich sowie in der Erzählweise nur wenig geglättet hervor. In der
Niederlausitz widmeten sich fast zeitgleich Hendrich Jordan, Lehrer und Kantor in Papitz, der Vetschauer Kaufmannssohn Alexander Rabenau, der Cottbuser Gymnasiallehrer Edmund
Veckenstedt und Wilibald von Schulenburg der Überlieferung von
Sagen und Märchen. Während Rabenau sich bereits in seiner Jugend
Sorbischkenntnisse angeeignet hatte, waren Schulenburg und Veckenstedt auf die
Hilfe von Übersetzern angewiesen. Alle drei veröffentlichten die Märchen in
deutscher Sprache, Veckenstedt innerhalb seiner Buchausgabe „Wendische Sagen,
Märchen und abergläubische Gebräuche“ (1880), Schulenburg in den „Wendische(n)
Volkssagen und Gebräuche(n) aus dem Spreewald“ (1880) sowie in „Wendisches
Volkstum in Sage, Brauch und Sitte“ (1882) und Rabenau im Anhang zu Engelhardt Kühns „Der Spreewald und seine
Bewohner“ (1889).
Nacherzähltes Märchen »Der starke Knecht« in fünf Sprachen, Domowina-Verlag
1981 und 1983; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Hörbuch sorbischer Volksmärchen, Domowina-Verlag 2002
In der Folgezeit stand die Publikation von Märchen mehr und mehr im Zusammenhang mit der
Bereitstellung populärer Lesestoffe für Kinder und Jugendliche. Michał Nawka stellte 1914 ein erstes Heft
mit Märchenbearbeitungen zusammen, darunter auch vier Übersetzungen aus Grimms
Kinder- und Hausmärchen. Seitdem finden sich Märchen in sorbischen Schulbüchern
und Kinderzeitschriften (→ Kinder- und Jugendliteratur), wo sie meist mit didaktischen Maximen
versehen sind und in der Spracherziehung genutzt werden. Die literarisch
nacherzählten Buchmärchen bilden den Grundstock der sorbischen Kinderliteratur.
1955 erschien die erste für Kinder aufbereitete Auswahl, „Serbske ludowe bajki“
(Sorbische Volksmärchen) in Obersorbisch, der 1958 das niedersorbische
Märchenbuch „Wužowy kral a źěśe a druge bajki z Łužyce“ (Der Schlangenkönig und
andere Märchen aus der Lausitz) folgte. Nach dem Tiermärchen vom dummen Wolf und
der schlauen Füchsin entstand in den 1950er Jahren der erste sorbische
Puppentrickfilm im DEFA-Studio für Trickfilme in Dresden (→ Film). Das
Märchenbuch „Łučlany Pětr“ (1966, „Der Kienpeter“, 1964, 5. Auflage 1975) wurde
auch ins Tschechische und Slowakische übersetzt. Die gemeinsamen Bemühungen
Nedos mit Erzählforschern aus der ČSSR und der VR Polen um die Edition
westslawischer Märchen fanden ihren Niederschlag in der Sammlung „Die gläserne
Linde“ (1972, 5. Auflage 1979, gekürzt 2003) mit Fassungen in Sorbisch, Deutsch,
Ukrainisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch und Slowenisch. Der
Domowina-Verlag eröffnete 1981 die obersorbisch, niedersorbisch und deutsch
erscheinende Reihe „Bajka“, die 20 großzügig illustrierte Bände mit jeweils
einem, von sorbischen Schriftstellern nacherzählten Märchen umfasst. Für die
illustrierte obersorbische Edition „Čerwjenawka a druhe bajki“ (Rotkäppchen und
andere Märchen) von 2003 wurden die bekanntesten Märchen der Brüder Grimm
übersetzt.
Das heutige Märchenerzählen bzw. -vorlesen, im Familienkreis wie in Kindergartengruppen,
stützt sich im Wesentlichen auf diese Buchmärchen. Vielfache literarische
Bearbeitung bis hin zur Verfilmung erfuhr das Märchen von Krabat.
Lit.: F. Sieber: Obersächsische Volksmärchen, in: Mitteldeutsche Blätter für
Volkskunde (1935); P. Nedo: Sorbische Volksmärchen. Systematische Quellenausgabe
mit Einführung und Anmerkungen, Bautzen 1956; Brüder Grimm: Kinder- und
Hausmärchen, 4 Bände, Hg. H.-J. Uther, München 1996.