Darstellung von geschichtlichen Ereignissen in Abhängigkeit von politischen und
gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die Geschichtsschreibung rekonstruiert
Entwicklungen aus dem Bereich der Politik- und Sozialgeschichte, der Kultur-,
Kirchen- und Wirtschaftsgeschichte sowie der Personengeschichte mit dem Ziel
einer bewusstseinsbildenden Wirkung.
Frido Mětšk (1916-1990); Fotograf: Kurt Heine; Sorbisches Kulturarchiv am
Sorbischen Institut
Die Anfänge einer Geschichtsschreibung über die Sorben reichen bis ins
Mittelalter zurück. Zunächst waren es Chronisten, die Informationen über die
elbslawischen Stämme in den ersten vier Jahrhunderten nach der Besiedlung lieferten, so der fränkische Chronist
Fredegar (7. Jh.), der arabische
Geograf Ibn Khordadhbeh (9. Jh.), der
jüdische Kaufmann Ibrahim ibn Jacub
(10. Jh.) und der sächsische Bischof Thietmar von
Merseburg (Anfang 11. Jh.). Doch erst seit der Frühaufklärung
kann man von einer systematischen und wissenschaftlichen Geschichtsschreibung
sprechen, betrieben von Sorben und Deutschen. In ihrem Streben nach einer
umfassenden Weltsicht richteten die Forscher ihr Augenmerk auch auf die Sorben
und versuchten, auf idealistischer Grundlage die Gegenwart aus der Vergangenheit
zu erklären. Sie empfanden das Sorbische z. T. als schützens- und erhaltenswert
und verteidigten es gegen Verleumdung und Diffamierung. Im Mittelpunkt standen
Untersuchungen zu Altertümern, zur Mythologie, zur Kirchen- und Kulturgeschichte. Zu den bedeutendsten
Vertretern dieser Periode gehörten der Sorbe Abraham Frencel mit seiner Chronik „Historia naturalis Lusatiae
Superioris“ und der Deutsche Christian
Knauthe, der das enzyklopädische Werk „Derer Oberlausitzer
Sorberwenden umständliche Kirchengeschichte“ (1767) verfasste. Erwähnung
verdienen Juro Krygaŕ, Hadam Bohuchwał Šěrach, Jan Boguměr „Ohnefalsch“ Rychtaŕ und
Carl Christian Gulde, die mit
ihren Schriften dazu beitrugen, Vorurteile abzubauen und der sorbischen
Bevölkerung den ihr gebührenden Platz in der Geschichte einzuräumen. Diesem Ziel
sah sich auch die 1789 in Görlitz gegründete Oberlausitzische
Gesellschaft der Wissenschaften verpflichtet. Jan Hórčanski und Karl Gottlob von Anton, später dann
Christian Adolph Pescheck und
Karl Benjamin Preusker
bereicherten mit ihren Forschungen die historischen Kenntnisse. Mit der Wende
zum 19. Jh. machten sich erste antisorbische Tendenzen bemerkbar. Christian Gottlieb Schmidt, Wylem Boguchwał Korn und Jan Křesćan Rychtar verunglimpften die
Sprache und Kultur der Sorben und forderten deren rasche Germanisierung.
Dokumentation von Hartmut Zwahr, Domowina-Verlag 1984
Einen gewissen Auftrieb erlebte die Geschichtsschreibung über die Sorben ab Mitte
des 19. Jh., als sich eine Nationalbewegung herausgebildet hatte. Führende Vertreter des
sorbischen Bürgertums rückten Forschungen zur Geschichte und Kultur ihres Volkes
in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Mit der Gründung der Maćica Serbska 1847 schufen sie
sich ein organisatorisches Zentrum, mit der Zeitschrift „Časopis Maćicy Serbskeje“ ein Publikationsorgan und mit
der 1855 entstandenen Sektion Archäologie/Geschichte eine Fachabteilung.
Historische Abhandlungen, in denen jedoch die Kulturgeschichte überwog,
verfassten u. a. Jan Arnošt Smoler,
Jan Pĕtr Jordan, Korla Awgust Jenč, Kito Wylem Broniš, Jan Bohuwěr Mučink, Měrćin Kral, Ota Wićaz, Arnošt Muka
und Jurij Pilk sowie Jakub Wjacsławk, der sich erstmals
sozialhistorischen Fragen zuwandte. Von deutscher Seite bemühten sich v. a.
Hermann Knothe, Alfred Moschkau und Eduard Oskar Schulze mit landeskundlichen
Studien um eine objektive Betrachtung der sorbischen Geschichte. Einen Höhepunkt
bildete die 1884 erschienene erste Gesamtdarstellung „Historija serbskeho
naroda“ (Geschichte des sorbischen Volkes), verfasst von dem Polen Wilhelm Józef Bogusławski, ergänzt und
herausgegeben von Michał Hórnik.
Weitere Überblicke folgten von Jan
Bryl mit „Serbske stawizny w zańdźenosći a přitomnosći“
(Sorbische Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart, 1920) und Bogumił Šwjela mit „Das Wendentum in der
Niederlausitz“ (1929). Dies waren Entgegnungen auf antisorbische Publikationen,
die zunächst nach 1871 und dann verstärkt in der Zwischenkriegszeit erschienen,
so Richard Andrees „Wendische
Wanderstudien“ (1874), August Meitzens
Arbeit über die Besiedlung der Slawengebiete (1879) und Otto Eduard Schmidts Hetzschrift „Die
Wenden“ (1926). Autoren wie Woldemar
Lippert, Walter
Frenzel, Rudolf Lehmann,
Felix Burkhardt und Rudolf Kötzschke setzten diese Linie fort,
wobei sie es meist verstanden, ihren antisorbischen Thesen einen
wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen.
Quelleneditionen zur sorbischen Geschichte zwischen 1789 und 1918; Fotografin:
Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Deutliche Fortschritte machte die sorbische Geschichtsschreibung nach dem Zweiten
Weltkrieg. Mit dem 1951 in Bautzen
gegründeten Institut für sorbische Volksforschung (→ Sorbisches Institut) und dem wenig jüngeren
Institut für Sorabistik
an der Universität Leipzig entstanden erstmals staatliche Einrichtungen, in
denen sich Wissenschaftler professionell mit der Erforschung sorbischer
Geschichte beschäftigten. Allmählich wurde die vorherrschende Orientierung auf
sprachliche und kulturelle Fragen überwunden und der historische Prozess in
seiner Komplexität dargestellt. Schwerpunkte bildeten zunächst das frühe
Mittelalter und die Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus samt
richtungweisenden Arbeiten zur Siedlungsgeschichte, Agrargeschichte,
historischen Demografie und zur Nationalitätenstatistik und -politik, verfasst
von Jan Brankačk, Frido Mětšk und Jan Šołta. Seit Anfang der 1960er Jahre
erfolgte eine Konzentration auf die sorbische Geschichte des 19. und 20. Jh.,
besonders auf die Zeit nach 1945: Měrćin
Kasper schrieb über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus, Frank Förster über die Industrialisierung der Lausitz, Hartmut Zwahr, Erhard Hartstock und Peter Kunze über nationale und kulturelle
Aspekte sowie über die Nationalitätenpolitik im 19. Jh., Klaus J. Schiller und Manfred Thiemann über die ersten Jahrzehnte
nach dem Krieg. Diese Forschungen, denen sich weitere über das Wendische Seminar in Prag, über die Entwicklung der Domowina und über die Lage der ländlichen
Industriearbeiter im Braunkohlenbergbau anschlossen, schufen die Grundlage einer
vierbändigen Gesamtdarstellung, der „Geschichte der Sorben“, deren letzter Band
1979 erschien. Vorausgegangen war ein 1976 in sorbischer, deutscher und
polnischer Sprache publizierter „Abriss der sorbischen Geschichte“ von Jan
Šołta, dem 1995 eine „Kurze Geschichte der Sorben“ von Peter Kunze folgte. Seit
der politischen Wende 1989 bemühen
sich deutsche und sorbische Historiker um eine objektive Darstellung der
sorbischen Geschichte, um politisch motivierten Verzerrungen oder Verkürzungen
v. a. aus der DDR-Zeit entgegenzutreten und
bislang vernachlässigte Themen aufzuarbeiten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf
der neueren und neuesten Geschichte. Peter
Schurmann beschäftigt sich vor allem mit der sorbischen
Nachkriegsgeschichte sowie der Geschichte der Sorben in der Niederlausitz.
Biografischen und institutionellen Untersuchungen widmet sich Annett Bresan, zur rechtlichen Stellung der
Sorben sowie zur Sprachenpolitik arbeitete Ludwig
Elle. Schul- und Kirchenwesen, Industrialisierung sowie Sozial-
und Alltagsgeschichte werden in den Arbeiten von Edmund Pech thematisiert. Timo
Meškank forscht zu sorbisch-tschechischen Beziehungen der
Zwischenkriegszeit sowie zur Überwachung und Instrumentalisierung der Sorben in
der DDR-Diktatur. Michael Richter
beschreibt das Wirken deutscher Parteien in der zweisprachigen Oberlausitz nach
dem Zweiten Weltkrieg. Seit einigen Jahren verstärkten sich die Bemühungen, die
Forschungslücken zur Frühen Neuzeit zu schließen. Richtungsweisende Arbeiten
legte Peter Milan Jahn vor, dabei
handelt es sich um biografische sowie mikrohistorische Studien. Lubina Mahling wendet sich
konfessionspolitischen und biografischen Schwerpunkten der frühneuzeitlichen
Oberlausitz zu. Friedrich Pollack
untersucht die sorbische evangelische Geistlichkeit in der frühneuzeitlichen
Oberlausitz und widmet sich ferner der Wissenschafts- und Wissensgeschichte
dieser Epoche. Mittelalterliche und frühgeschichtliche Forschungen zur
sorbischen Geschichte werden vordergründig von den Landesämtern für Archäologie
Sachsens bzw. Brandenburgs sowie von einigen universitären Lehrstühlen in den
neuen Bundesländern übernommen.
Lit.: Berichte zur sorbischen Geschichtsforschung, in: Zeitschrift für
Geschichtswissenschaft 8 (1960) 1; 18 (1970), Sonderband; 28 (1980), Sonderband;
J. Šołta: Die Geschichtsschreibung im Rahmen der sorbischen Volksforschung. Zur
Entwicklung der Abteilung Geschichte, in: 30 Jahre Institut für sorbische
Volksforschung. 1951–1981, Bautzen 1981; P. Kunze: Forschungen zur sorbischen
Geschichte von 1980 bis 1989, in: Lětopis B 38 (1991); T. Meškank: Zur
sorbischen Geschichtsschreibung in Vergangenheit und Gegenwart, in:
Österreichische Osthefte 34 (1992) 2.