Gattung der Literatur, deren Werke auf eine Inszenierung im Theater angelegt
sind. Die Dramatik hat sich bei den Sorben erst im letzten Viertel des
19. Jh. innerhalb der Jungsorbischen Bewegung herausgebildet. Bis 1948 handelte es sich um
Spielvorlagen für Laienensembles, danach auch für die einzige sorbische
Berufsbühne in Bautzen. Die
frühesten Angebote dramatischer Texte (Korla
Awgust Jenč, Handrij
Zejler nach 1850) waren folgenlos geblieben. Korla Awgust Kocor vertonte jedoch die
volkstümlichen Libretti „Jakub a Kata“ (um 1870) von Handrij Zejler sowie
„Wodźan“ (Der Wassermann, 1895) von Handrij
Dučman, die schließlich 1966 bzw. 1994 als Singspiele vom Deutsch-Sorbischen
Volkstheater szenisch aufgeführt wurden.
Die relativ kurze Theatertradition – ab 1862 in Obersorbisch, ab 1882 in Niedersorbisch – beruhte zunächst fast nur auf Übersetzungen nicht
sorbischer Werke. Parallel zur Übertragung bzw. Bearbeitung zweier tschechischer
und einer deutschen Komödie zwischen 1879 und 1881 verfasste Jakub Bart-Ćišinski noch als Student den
ersten originär sorbischen Theatertext, das fünfaktige Schauspiel „Na Hrodźišću“
(Auf dem Burgwall, 1880). Er glaubte, „dass nur ein eigenständiges Schaffen der
sorbischen Dramatik zu einer lebhaften und gesunden Entwicklung verhilft“
(1881). Bart-Ćišinski betrachtete sein Historiendrama als ersten Teil einer
(nicht fortgeführten) Trilogie „Milecy“ (Die Milzener), die den Kampf
elbslawischer Stämme um politische Unabhängigkeit im 9. Jh. darstellen sollte;
es wurde 1897 erstmals von Laien, 1981 vom Berufstheater aufgeführt.
Um 1900 existierten 16 sorbischsprachige Theatertexte, darunter noch kaum Originale. Ab 1905
kamen neue hinzu, sodass der Lehrer Franc
Kral-Rachlowc im Handbuch „Naše dźiwadło“ (Unser Theater, 1913)
den Vereinen 66 Stückvorlagen anbieten konnte. In der Mehrzahl waren es
„Lustspiele, unschuldige Schwänke und Possen mit billigen Effekten und ohne
große Probleme“ (Rudolf Jenč 1960). In
der Weimarer Republik entstanden neue Stücke, die Domowina bemühte sich um deren Vertrieb.
Vladimír Zmeškal in Prag zählte 1937 – zum 75. Jubiläum des
sorbischen Theaters – bereits 136 Texte, davon 45 Übersetzungen (v. a. aus dem
Tschechischen und Deutschen). Doch selbst unter den scheinbaren Originalen –
davon vier in Niedersorbisch – waren zahlreiche Bearbeitungen, deren Ursprung
nicht bekannt ist. In der Zwischenkriegsperiode erschienen im Druck 63
dramatische Vorlagen, nun wurden auch Stücke für das Schüler- und Puppentheater
geschrieben bzw. übertragen.
Handbuch für sorbische Laientheater, 1913; Repro: Sorbische
Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Szene aus „Na Hrodźišću“ auf der Kopschiner Schanze, 1921;
Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Das Amateurtheater konnte sich vor 1945 auf eine Reihe produktiver Autoren stützen, die
häufig auf konkreten Bedarf reagierten. Marja
Kubašec, die erste ausgebildete sorbische Lehrerin, schrieb ab
1911 Kinderstücke für Schulfeste sowie 1925 das lyrische Schauspiel „Chodojta“
(Die Hexe), das in mittelalterlich-mystischer Szenerie das Schicksal einer
jungen Frau vorführt. Der katholische Pfarrer Józef Nowak, geleitet von Bart-Ćišinskis Idee eines sorbischen
Nationaltheaters, wollte durch Rückgriff auf die frühe Geschichte die sorbische
Identität des Publikums stärken: mit der Adaption eines romantischen deutschen
Dramas „Posledni kral“ (Der letzte König, 1916) und dem Stück „Swobody
njewjesta“ (Die Freiheitsbraut, 1919), die jeweils zur Schadźowanka inszeniert wurden. Das
symbolische Spiel „Lubin a Sprjewja“ (Drohmberg und Spree, 1928) artikulierte
auf einem sorbischen
Volkstreffen in Großpostwitz pathetisch die Klage über das Los des kleinen
Volkes. Der Lehrer Jurij Wjela
betrachtete Theater als „hohe Schule“ der sorbischen Jugend und ermöglichte mit
seinen originellen Stücken dem Verein Radosć in Hochkirch in den 1930er Jahren sichtbare Wirkung unter den
evangelischen Sorben. Seine drei wichtigsten Stücke – „Knjez a roboćan“ (Herr
und Fronbauer, 1931), „Zhubjena njewjesta“ (Die verschwundene Braut, 1935) und
„Naš statok“ (Unser Gehöft, 1937) – bilden einen expressiven Zyklus über das
Leben der Bauern im Feudalismus. Mit dem allegorisch-phantastischen Schauspiel
„Paliwaka“ (Der Lindwurm, 1935) kritisierte Wjela indirekt die NS-Politik, was
ihm und seinem jungen Ensemble ein Aufführungsverbot eintrug. Als Dramenautoren
erfolgreich waren zudem der Lehrer Mikławš
Hajna, der für katholische Vereine mehrere Lustspiele übertrug
und bearbeitete (u. a. „Hdyž Kocor kamor ćazaše“ – Als Kocor den Schrank
pfändete, 1914), sowie dessen Sohn Feliks
Hajna, der die zeitgenössische Komödie „Njezacpěj swojeho
bratra!“ (Verachte deinen Bruder nicht!, 1931) verfasste.
Zum ersten dramatischen Autor der Niedersorben wurde Ende des 19. Jh. Mato Kosyk, dessen früheste Versuche nicht
erhalten sind. Daher gilt die kurze patriotische Szene „Božemje serbskich
wojakow“ (Abschied der wendischen Soldaten) als Auftakt der selbstständigen
niedersorbischen Dramatik; der Verfasser inszenierte sie 1882 zum 85. Geburtstag
von Kaiser Wilhelm I. in Werben. Aus demselben Jahr stammt Kosyks
lyrisch-dramatischer Text „Cesć łužyskego ryśarja“ (Ruhm eines Lausitzer
Helden), der dem Bautzener katholischen Pfarrer Michał Hórnik gewidmet war, aber nie aufgeführt wurde. Nach 1900
legte der Lehrer Mato Rizo aus
Sielow einige Lustspiele in
Niedersorbisch vor, die z. T. von Pädagogikstudenten gezeigt wurden. Der spätere
Pfarrer Herbert Cerna schrieb 1931 für
ein sorbisches Fest die Szenenfolge „Moja domownja“ (Meine Heimat). Den
Höhepunkt der bis 1945 lediglich fünf originalen niedersorbischen Theatertexte
bildeten die beiden am Naturalismus geschulten Stücke der Fabrikarbeiterin
Marjana Domaškojc aus Zahsow: „Z chudych žywjenja“ (Aus dem
Armenleben, 1929) und „Šwickojc pytaju źowku“ (Schwitzkes suchen ein
Dienstmädchen, 1932). Beide wurden in der Lausitz nicht inszeniert, Ersteres jedoch 1932 durch den Prager
Bund slawischer Frauen auf Tschechisch einstudiert.
Marjana Domaškojc; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Szene aus dem musikalischen Drama „Chodźić po rukomaj – Alojs
Andricki“ (Auf Händen gehen – Alois Andritzki) von Jěwa-Marja Čornakec und
Ulrich Pogoda, Uraufführung 2014; Fotograf: Miroslaw Nowotny, Deutsch-Sorbisches
Volkstheater Bautzen
Nach 1945 verlagerte sich das Interesse der Autoren vom vielschichtigen Laien- zum
Berufstheater; die Anzahl der gedruckten Texte nahm tendenziell ab. Den
Neuanfang prägte Jurij Brězan mit
tagesaktuellen Stücken wie „Nawrót“ (Die Heimkehr, 1947) oder „Ćěkancy“
(Flüchtlinge, 1947; es kritisierte die Abwanderung junger Sorben ins
prosperierende Nordböhmen). Weder diese noch weitere ernste oder komische Stücke
wurden vom Berufstheater inszeniert (z. B. „Hara wo njewjestu“ – Lärm um die
Braut, 1948, „Wutroba na rozpuću“ – Herz am Scheideweg, 1950), da Intendant
Jan Krawc sie für ideologisch
überfrachtet hielt. So gelangte eine dramatische Vorlage Brězans erst 1959 unter
Jurij Wuješ zur Aufführung: Das
Stationendrama „Marja Jančowa“ (1959), das sich an Bertolt Brechts „Mutter Courage“ anlehnte,
bildete sorbische Geschichte des 20. Jh. mit Stilmitteln modernen epischen
Theaters ab. Von Józef Nowak inszenierte Krawc 1956 „Na cuzej zemi“ (Auf fremder
Erde), die Dramatisierung einer Szene aus dem einzigen Roman von Bart-Ćišinski.
Die kontrovers aufgenommene professionelle Aufführung von Nowaks Mysterienspiel
von 1957 „Krabat a Maruša“ in verschiedenen katholischen Kirchen der Oberlausitz
(1995) erlebte der Verfasser nicht mehr. Nachdem Pětr Malink mit dem historischen Festspiel „Wotprošenje“ (Die
Abbitte, 1961) den Lohsaer Aufstand von 1794 szenisch gestaltet hatte, wandte er
sich in seinem herausragenden Drama „Wotmołwa“ (Die Antwort, 1973)
Bart-Ćišinskis existenziellem Konflikt mit der kirchlichen und weltlichen
Obrigkeit zu. Mit den beiden Zeitstücken „Nócny pacient“ (Der Nachtpatient,
1966) und „Wuj Šmitka ze Sibirskeje“ (Onkel Schmittka aus Sibirien, 1976)
dramatisierte er politische und ökonomische Probleme der DDR-Realität mit
aktuellem sorbischen Bezug. Der Cottbuser Jurij
Koch erwarb sich mit seinem Debüt „Mjez sydom mostami“ (Zwischen
sieben Brücken, 1970) und besonders mit der dramatischen Ballade „Mój wuměrjeny
kraj“ (1978; „Landvermesser“, 1977) den Ruf eines kritisch-konstruktiven Autors,
der den Widerspruch zwischen industrieller Entwicklung und Erhaltung sorbischer
kultureller und sprachlicher Tradition überzeugend darstellte.
Dank Koch entstand seit den 1970er Jahren eine unterhaltsame niedersorbische Dramatik, die
das Berufstheater meist auch in Obersorbisch aufführte. 1978 bearbeitete der
Autor die Vorlage „Fryco a Majka“ (1935) von Mina
Witkojc, 1982 schrieb er „Jagaŕ Bagola“ (Der Wilddieb Bagola) und
ein Jahr später „Wjelika gluka“ (Das große Glück, 1983); 1999 folgte der Schwank
„Serski milionaŕ“ (Ein wendischer Millionär), 2006 das gesellschaftskritische
Stück „Złoty palc“ („Der goldene Finger“, 2007). Anlässlich des 150. Geburtstags
von Kosyk legte Róža Domašcyna 2003
die biografische Szenenfolge „W paradizu wšyknych swětow“ (Im Paradies aller
Welten) vor, die 2004 auf Niedersorbisch inszeniert wurde.
Szene aus „Mój wuměrjeny kraj“ (Landvermesser), Aufführung 2015;
Fotograf: Miroslaw Nowotny, Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen
Sorbische Dramen in einer Publikationsreihe des
Domowina-Verlags; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
In den 1980er Jahren konnte das professionelle Theater die Rate seiner Uraufführungen
erhöhen. Dies ermöglichten Autoren wie Beno
Budar („Na křižerjach“, Zum Osterreiten, 1985), Helmut Rychtar („Njezbožo“, Der Unfall,
1988; „Přirunanje wo wódnym mužu“, Gleichnis vom Wassermann, 1989) oder
Jan Pawoł Nagel
(„Duett“/„Passacaglia“, 1989) mit zeitgenössischen Stoffen aus dem sorbischen
sozialen oder familiären Milieu. Der Lyriker Kito
Lorenc, der 1988 die Posse mit Gesang „Kołbas“ (Schlachtfest)
vorgelegt hatte, bot in den 1990er Jahren zwei originär deutsch verfasste
Monumentaldramen mit philosophischem Anspruch: die Tragigroteske „Die wendische
Schiffahrt“ (1994) sowie das Tierstück „Kim Broiler“ (1996). In Ersterer deutete
er die romantische Metapher von der sorbischen Insel im deutschen Meer zur
offenen Dreierbeziehung Meer–Insel–Schiff um. Unter den jüngeren Autoren haben
Lubina Hajduk-Veljkovićowa und
Dušan Hajduk-Veljković sowie Ingrid
Hustetowa einige dramatische Vorlagen publiziert, die der
Aufführung harren. Achtungserfolge in Sorbisch und Deutsch erzielte 2008/09
Jěwa-Marja Čornakec mit dem
Familiendrama „W sćinje swěčki“ („Im Schatten der Kerze“) und 2012 mit der
Bildfolge „Za sydom durjemi“ (Hinter sieben Türen) zum 100. Jubiläum der
Domowina.
Von den über 50 sorbischen Dramentexten, die nach 1945 entstanden, ist nur knapp ein Viertel
separat publiziert, die meisten in der von Christiana Piniekowa edierten Reihe „Serbska dźiwadłowa zběrka“
(Sorbische Theatersammlung, Hefte 1–10, 1994–2009). So zeigten sich der
gegenüber den Genres Prosa und Lyrik deutlich geringere Umfang und die seltenere
Rezeption sorbischer dramatischer Werke, die von wenigen Autoren für ein
Berufstheater und einige aktive Laienbühnen produziert werden.
Lit.: R. Jenč: Serbske dźiwadło, in: Ders.: Stawizny serbskeho pismowstwa, Bd. 2,
Budyšin 1960; D. Scholze: Zur Entfaltung des sorbischen Dramas, in: Perspektiven
sorbischer Literatur, Hg. W. Koschmal, Köln/ Weimar/Wien 1993; M. Völkel:
Dramatiska literatura, in: Přinoški k stawiznam serbskeho pismowstwa lět
1945–1990, Budyšin 1994; Ch. Piniekowa: Serbska dramatika, přełožki a róla jich
publikowanja w serbskim dźiwadłownistwje, in: Sorabistiske přednoški II, Budyšin
1995.