Allgemein bekannter, fest geprägter Satz, der eine partiell gültige Lebensweisheit kurz und
prägnant wiedergibt und sich durch eine originelle sprachliche Form vom übrigen
Text abhebt. Das Sprichwort wird anonym und als sprachliches Klischee teils
mündlich über Generationen, teils schriftlich durch die Literatur überliefert. Im Unterschied zu anderen
Redewendungen (→ Phraseologie) ist das
Sprichwort ein abgeschlossener Text mit logischer Aussage, während
sprichwörtliche Redensarten erst in einen Satz eingebaut werden müssen. So
entspricht obersorb. na račej wopuši sedźeć wörtlich ,auf des Krebses
Schwanz sitzen’, übertragen ,auf den Hund kommen’, erst einer vollständigen
Aussage, wenn man es mit einem Subjekt in Verbindung bringt (z. B. obersorb.
Brojak na račej wopuši sedźi ,Der Verschwender sitzt auf des
Krebses Schwanz’). Die sorbischen Begriffe für Sprichwort, obersorb.
přisłowo und niedersorb. pśisłowo, erscheinen erstmals in
den Bibelübersetzungen und sind
Lehnübertragungen von lateinisch proverbium. Die Bezeichnungen für
sprichwörtliche Redensart, obersorb. přisłowne prajidmo, niedersorb.
pśisłowne grono, rühren von obersorb. prajić bzw.
niedersorb. groniś ,sagen’, her.
Populäre Sprichwörtersammlungen, Domowina-Verlag 1978, 1980
Sprichwörter haben nach Inhalt und Form eine anerkannte überlieferte Fassung, die
Varianten zulässt. Zu den produktivsten sprachlichen Formeln im sorbischen
Sprichwortgut zählen:
Anderes A, anderes B niedersorb. Druga wjas, drugi pjas ,Anderes Dorf, anderer
Hund’
Wie A, so B obersorb. Kajkiž ptačik, tajke hrónčko ,Wie der Vogel, so das Lied’
Wenn/Wo A, dann/dort B niedersorb. Gaby kóza dlejšu wopuš měła, by luźam wócy wubiła
,Wenn die Ziege einen längeren Schwanz hätte, dann würde sie den Leuten die
Augen ausschlagen’,
obersorb. Hdźež kury spěwaja, woněmi kapon ,Wo die Hühner krähen, verstummt der
Hahn’
Jedes A hat/lobt sein B niedersorb. Kuždy cas ma swóje nałogi ,Jede Zeit hat ihre
Sitten’
Lieber A als B niedersorb. Lubjej bósy ako w póžyconych crjejach ,Lieber barfuß als
in geborgten Schuhen’
Je A, desto B obersorb. Čim wjetši štom, ćim bliši błysk ,Je höher der Baum, desto
näher der Blitz’
Sprichwörter bedienen sich vielfältiger Mittel der Verssprache, was ihre Einprägsamkeit
fördert und sie stilistisch heraushebt. Im Sorbischen überwiegen zweigliedrige
Sprichwörter (z. B. obersorb. Wulka robota, małe twarožki ,Große Fron,
kleiner Käse’; niedersorb. Gaž guba mjelcy, ma kśebjat měr ,Wenn der
Mund schweigt, hat der Rücken Frieden’). Auffallend ist der relativ geringe
Anteil von Sprichwörtern in gereimter Form. Wo Reime auftreten, verstärken sie
den Rhythmus und betonen dem Sinn nach bedeutsame Wörter (z. B. obersorb.
Ćichi spar je Boži dar ,Ein ruhiger Schlaf ist eine Gabe Gottes’;
niedersorb. Gerc zagrajo, towzynt ból zažyjo ,Der Musikant stimmt an,
tausend Gebrechen heilen’). Da der Wortakzent im Sorbischen meist auf der ersten
Silbe liegt, sind die fallenden Versmaße Daktylus und Trochäus
vorherrschend.
Sprichwörtersammlung von Jakub Buk, 1862; Repro: Sorbische Zentralbibliothek
am Sorbischen Institut
Für die Volkssprache typische sprachliche Bilder spiegeln die Umwelt und die Gewohnheiten der
Sorben im ausgehenden 18. und im 19. Jh.
Sie zeugen von der genauen Beobachtungsgabe und von der Fähigkeit, treffende
Vergleiche zu ziehen, von der Fantasie und dem urwüchsigen Humor ihrer Schöpfer,
die meist aus dem bäuerlichen Milieu stammten. Die allegorischen Bilder sind
anschaulich und verständlich (z. B. obersorb. Mało róži, połno ćerni
,Wenig Rose, viele Dornen’; niedersorb. Derjony pjas kjawcy ,Der
getroffene Hund bellt’). Allerdings erklärt sich der übertragene Sinn häufig
erst aus der konkreten Situation, auf die sich das Sprichwort bezieht (z. B.
obersorb. Hdyž je juška jara słódka, da so bórze wutunka ,Ist die Tunke
sehr süß, wird sie schnell ausgetunkt’, d. h. allzu „süße“ Freundschaften haben
ein schnelles Ende; niedersorb. Prozne sudy nejwěcej zukuju ,Leere
Fässer klingen am meisten’, d. h. je dümmer einer ist, desto lauter macht er auf
sich aufmerksam). Mitunter ist nicht das gesamte Sprichwort im übertragenen Sinn
zu verstehen, sondern nur eine Wendung darin (z. B. obersorb. Maš-li so jako
w dźećelku zajac, njezabudź hłódnych ,Lebst du wie der Hase im Klee’ =
wie die Made im Speck ,vergiss die Hungrigen nicht’). Viele Sprichwörter kommen
ohne Metapher aus (z. B. obersorb. Lutuj, doniž maš ,Spare, solange du
hast’). Für die sorbische Sprichwörter spezifisch sind Personennamen zur
Bezeichnung bestimmter Eigenschaften, oftmals ganzer Charaktertypen (z. B.
chromy Pětr ,der lahme Peter’, pyšna Wórta ,die eitle
Wórta’, zaspany Mots ,der verschlafene Mots’ oder Njerodźic
Kašpor ,Liederlichs Kasper’). Überhaupt ist die Personifikation
einzelner Charaktere und Gegenstände ein beliebtes Mittel der bildlichen
Darstellung (z. B. obersorb. Młoda lubosć pře wšě płoty łazy ,Junge
Liebe steigt über alle Zäune’; niedersorb. Lěto ma dłujki pysk ,Das
Jahr hat einen langen Schnabel’).
Vergleicht man das sorbische Sprichwortgut mit dem anderer europäischer Völker, so ergeben
sich zahlreiche Parallelen. Die Internationalismen gehen auf ein schon seit dem
Mittelalter in Europa populäres Gemeingut zurück, das die Verständigung mit den
die Lausitz durchwandernden Händlern, Handwerkern, Wandermönchen, Spielleuten
bzw. unter Söldnern in den ethnisch gemischten Heeren erleichterte. Die
Verbreitung der in vielen Sprachen bekannten Sprichwörter funktionierte bei den
Sorben v. a. durch Weitersagen, nicht aber durch Übersetzung der klassischen
Literatur. Die schriftliche Überlieferung setzte hier erst mit dem Druck der
Bibel und der Verbreitung religiöser Lehrtexte im 18. Jh. ein. Aus der Bibel
sind besonders viele Sprichwörter noch heute geläufig (z. B. obersorb. Štož
syješ, to žnjeješ = Was man sät, das erntet man, niedersorb. Chtož
smołu pśimjejo, se z njeju wumažo = Wer Pech anfasst, besudelt sich).
Von den griechischen und lateinischen Klassikern hingegen haben sich im
Sorbischen lediglich die Formeln durchgesetzt, die dann allerdings produktiv mit
neuen Inhalten ausgefüllt wurden. So hat z. B. das lateinische Multum
clamoris, parum lanae = Viel Geschrei und wenig Wolle zur
Variantenbildung angeregt (obersorb. Wulki dakot a drobne jejko ,Großes
Gegacker und ein winziges Ei’; obersorb. Wjele pluwow a mało zorna
,Viel Spreu und wenig Korn’).
In vielen Fällen beziehen Sprichwörter einander widersprechende Positionen: obersorb.
Štož dźensa hotowe, jutře njemórči ,Was heute fertig ist, brummt
morgen nicht mehr’ mahnt zur Eile, während Bóle chwataš, bóle šmjataš
,Je mehr du eilst, desto mehr bringst du durcheinander’ gerade davor warnt.
Sprichwörter klingen vertraut und überzeugend; sie wirken belehrend und
autoritär, da sie eine immer wieder bestätigte Erfahrung wiederholen. Daher
dienten Sprichwörter seit jeher zur Erziehung in der Familie, in Schule und
Kirche (z. B. niedersorb. Wótśejšy pšut, lubše jo góle ,Je schärfer die
Rute, desto lieber das Kind’; obersorb. Hotowe dźěło, witany swjatok
,Fertige Arbeit, willkommener Feierabend’). Einige Sprichwörter zeugen von ihrer
einstigen Funktion als Rechtsspruch (z. B. niedersorb. Nuza jo bźez
kazni = Not hat kein Gebot, regelt die Straffreiheit bei Mundraub, oder
obersorb. Prózdny dyrbi rumować ,Der Leere muss weichen’, d. h.
derjenige, der weniger geladen bzw. zu tragen hat, muss Platz machen).
Sprichwörterlexikon von Susanne Hose, Lusatia Verlag 1996
Die ersten Sammlungen entstanden im 17. und 18. Jh., als Sprichwörter wegen ihres lehrhaften
Charakters im Sinne einer „alten Weisheit“ benutzt wurden. Dies trat besonders
bei Handroš Tara zutage, der im
Kapitel „Das Traubüchlein“ seines Katechismus „Enchiridion Vandalicum“ (1610)
seinen Worten mittels Sprichwörter mehr Gewicht verlieh. Ansonsten wurden
Sprichwörter als sprachliche Formeln in Wörterbüchern und Grammatiken angeführt, z. B. in Johann
Gottlieb Hauptmanns „Niederlausitzischer Wendischer Grammatica“
(1761), oder erschienen in persönlichen Niederschriften, die das zunehmende
Interesse an der Volkssprache ab Ende des 18. Jh. bekundeten. Zu einer
intensiven Sammeltätigkeit kam es in der ersten Hälfte des 19. Jh. unter den
sorbischen Studenten an den Universitäten in Breslau, Prag und v. a. bei der
Wendischen
Predigergesellschaft in Leipzig. Der
katholische Pfarrer Jakub Buk war in
den 1850er Jahren der Erste, der die bis dahin in obersorbischen Zeitungen, Zeitschriften und Kalendern
verstreuten Sprichwörter zusammentrug, systematisierte und veröffentlichte („1 000 serbskich přisłowow a přisłownych prajidmow“,1862, 1 000 sorbische
Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten). Im niedersorbischen Sprachraum
zeichneten besonders der Papitzer Lehrer Hendrich
Jordan und der Dichter Mato
Kosyk Sprichwörter auf, in der Schleifer Region Pfarrer Matej Handrik. Die Redakteure des
„Bramborski Casnik“ Kito Šwjela und
Bogumił Šwjela regten zur weiteren
Suche und Veröffentlichung in ihrer Zeitung an. Als bester Kenner des
obersorbischen Sprichwortguts erwies sich Jan
Wjela-Radyserb. Seine Sammlung „Přisłowa a přisłowne hrónčka a
wusłowa Hornjołužiskich Serbow“ (Sprichwörter und sprichwörtliche Sprüche und
Redensarten, 1902; Neubearbeitung von Gerhard
Wirth 1997) zählt mehr als 9 000 Einträge und enthält neben
Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten auch Bauern- und Wetterregeln,
Kinderreime, religiöse Lehrsätze und Aphorismen. Indem er alles aufschrieb, was
ihm sprichwörtlich, sprachlich reizvoll oder moralisch sinnvoll erschien,
hinterließ er ein Kompendium authentischer Aussagen von Zeitzeugen am Ende des
19. Jh., welches das von Kirche und Schule, v. a. aber von den
Alltagserfahrungen geprägte Weltbild der in und um Bautzen lebenden Sorben widerspiegelt. Regeln für gutes Benehmen
(Njezmyta ruka za blido njesmě ,Die ungewaschene Hand darf nicht an
den Tisch’) stehen neben praktischen Arbeitsanweisungen (Mlokowe sudobja
maja so z kopřiwu parić ,Milchbottiche müssen mit Brennnesseln gebrüht
werden’), Vorurteile gegenüber Fremden (Žid wobrězuje dźěći a złotki
,Der Jude beschneidet Kinder und Goldstücke’) neben Gedanken zum Zeitgeschehen
(Saksam je ze škodu, hdyž jich wjerch wo Pólsku jězdźi ,Den Sachsen
ist’s zum Schaden, wenn ihr Fürst um Polen reitet’). Solche
nichtsprichwörtlichen Aussagen wurden für das „Sorbische Sprichwörterlexikon“
(1996) aussortiert. Dieses folgt Kriterien der kontrastiven Erforschung
europäischer Sprichwörter und würdigt die seit den 1960er Jahren von Pawoł Nedo und Izolda Gardoš unternommenen Untersuchungen
am sorbischen Sprichwortgut.
Lit.: L. Röhrich/W. Mieder: Sprichwort, Stuttgart 1977; S. Hose: Sprüche klopfen.
Sprichwörter im Kommunikationsprozess, in: Proverbium 17 (2000).