Monografische Darstellungen des Systems einer Sprache auf
phonetisch-phonologischer, morphologischer und syntaktischer Ebene. Sie dienen
einerseits der Beschreibung und Erklärung der sprachlichen Erscheinungen
(deskriptiv) und andererseits ihrer Kodifizierung (präskriptiv), womit sie zur
Herausbildung und Stabilisierung der Sprachsysteme beitragen.
Die Anfänge der Grammatikschreibung bei den Sorben sind eng mit der
Entwicklung des religiösen Schrifttums im 17. Jh. verknüpft. Dabei sind drei
schriftsprachliche Traditionslinien zu unterscheiden: eine in der Niederlausitz und zwei durch konfessionelle
Unterschiede bedingte Varianten in der Oberlausitz (→ Obersorbisch, → Niedersorbisch). Die drei ersten sorbischen Grammatiken sind die
niedersorbische Grammatik von Jan
Chojnan „Linguae Vandalicae / ad dialectum districtus Cotbusiani
formandae aliqualis / conatus […]“ (Handschrift, 1650), die nur in einer
unvollständigen Abschrift erhaltene obersorbische Arbeit von Jurij Ludovici „Rudimenta grammaticae
sorabo-vandalicae idiomatis Budissinatis“ (vor 1673) und die für den Gebrauch im
katholischen obersorbischen Schrifttum gedachten „Principia linguae Wendicae
quam aliqui Wandalicam vocant“ (1679) des Jesuiten Jakub Xaver Ticin – die erste gedruckte
sorbische Grammatik. Methodologischer Ausgangspunkt waren die Grammatik der
klassischen Sprachen, insbesondere des Lateinischen, deren Begriffe und
Kategorien kritisch verarbeitet wurden. Erkannt und beschrieben wurden auch vom
Lateinischen abweichende Phänomene wie Dual, Sieben-Kasus-System, Belebtheit und
Rationalität. Erst im 18. Jh. folgten die ersten gedruckten Grammatiken für die
obersorbische evangelische Schriftsprachenvariante (Jurij Matej, „Wendische Grammatica“, 1721)
und für das Niedersorbische (Johann Gottlieb
Hauptmann, „Nieder-Lausitzsche Wendische Grammatica“, 1761).
Abschrift der ersten obersorbischen Grammatik von Jurij
Ludovici, vor 1673; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Obersorbische Grammatik von Jakub Xaver Ticin, 1679; Repro:
Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Außer den o. g. Drucken entstanden im Laufe des 18. Jh. fünf handschriftliche Grammatiken
(davon eine niedersorbische). Zwei sind von besonderem Interesse: Johann Friedrich Gottfried Schmutz verfasste
als erster Deutscher eine obersorbische Grammatik („Neue Probe einer
Oberlausitzisch-Wendischen Grammatic“, 1743). Seine Arbeit bietet eine
Neubearbeitung des Stoffs, der die Sprache der 1728 erschienenen obersorbischen
Übersetzung der Lutherbibel zugrunde liegt. Schmutz’ Handschrift war eine
wesentliche Anregung für Handrij
Zejler, den Autor der letzten Grammatik der evangelischen
Variante der obersorbischen Schriftsprache („Kurzgefaßte Grammatik der
Sorben-Wendischen Sprache nach dem Budissiner Dialekte“, 1830). Zur katholischen
Schriftsprachentradition gehört die Handschrift von Jan Jurij Prokop Hančka („Grammatica linguae
serbicae“, 1768). Sie widerspiegelt einerseits den Wandel der Dialektbasis vom
Wittichenauer zum weiter
südlichen Crostwitzer Dialekt im 18.
Jh., andererseits ist sie ein erster Versuch, Kompromisse zwischen den beiden
obersorbischen Schriftsprachenvarianten zu finden.
Im 19. Jh. brach eine neue Phase der sorbischen Grammatikschreibung an. An die Stelle der
rein praktischen, meist mit religiösen Argumenten verbundenen Beschäftigung mit
sorbischer Grammatik traten das durch die Entwicklung der Slawistik ausgelöste
wissenschaftliche Interesse an der Struktur des Sorbischen und die durch die
„slawische Wiedergeburt“ im 19. Jh. angeregte Aufwertung der Sprache als
nationales Identifikationsmerkmal (→ Nationale
Wiedergeburt). Als Grammatiker, die vorher fast ausnahmslos Geistliche
waren, traten nun auch linguistisch ausgebildete Autoren auf (Jan Pětr Jordan, Jan Arnošt Smoler, Křesćan Bohuwěr Pful, Mjertyn Moń, Arnošt Muka). Bemerkenswert ist der direkte und prägende Kontakt
fast aller sorbischen Grammatiker des 19. Jh. mit bedeutenden Vertretern der
Slawistik (Josef Dobrovský, Václav Hanka, Martin Hattala, František Ladislav Čelakovský, August
Leskien). Für die theoretische Bearbeitung wurden andere slawische Grammatiken
als Vorbilder herangezogen und Methoden der historisch-vergleichenden
Sprachwissenschaft, bei Muka später auch der junggrammatischen Schule,
angewandt.
Mit Jan Pětr Jordan („Grammatik der wendisch-serbischen Sprache in der Oberlausitz. Im
Systeme Dobrovsky’s abgefaßt“, Prag 1841) setzte das Bemühen um eine
Vereinheitlichung der obersorbischen schriftsprachlichen Norm ein. Als Kriterium
für die Auswahl von Formen aus der katholischen bzw. der evangelischen Tradition
wählte Jordan die Übereinstimmung mit anderen slawischen Sprachen; seine Arbeit
enthält den ersten Versuch einer Neufassung der Orthografie
nach dem Vorbild des Tschechischen und Polnischen. Křesćan Bohuwěr Pful
kodifizierte dann in einem grammatischen Abriss („Hornjołužiski serbski prawopis
z krótkim ryčničnym přehladom“, ČMS 1848) die von der Maćica Serbska propagierte
sog. (im Verhältnis zu den anderen slawischen Sprachen) analoge Orthografie, die
der heute gültigen obersorbischen Rechtschreibung zugrunde liegt, sowie eine
einheitliche obersorbische grammatische Norm, die verschiedene Eigenheiten der
evangelischen und der katholischen Tradition vereinigt.
Niedersorbische Grammatik von Johann Gottlieb Hauptmann, 1761;
Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Preisgekrönte niedersorbische Grammatik von Arnošt Muka, 1891;
Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Theoretische Fortschritte brachten im 19. Jh. insbesondere die „Laut- und Formenlehre der
oberlausitzisch-wendischen Sprache. Mit besonderer Rücksicht auf das
Altslawische“ von Pful (1867) und die „Syntax der wendischen Sprache in der
Oberlausitz“ von Jurij Libš (1884).
Pful setzte in seiner historisch-vergleichenden Beschreibung der obersorbischen
Morphologie systematisch das obersorbische Material zum Formenbestand des
Altkirchenslawischen in Beziehung und kam so zu einer völlig neuen,
diachronischen Sicht. Sein größtes theoretisches Verdienst ist die neuartige
Beschreibung der Aspektkategorie als Dichotomie, unabhängig von der Einteilung
nach der „Zeitdauer der Handlung“ in Durativa, Momentanea, Iterativa und
Frequentativa. Die o. g. Arbeit von Libš war die erste ausführliche Monografie
zur sorbischen Syntax überhaupt. Sie stützte sich v. a. auf Hattalas „Mluvnica
jazyka slovenského“ (1864/65) und war auf die Beschreibung des Satzbaus
gerichtet. Die Materialgrundlage wurde in der Volkssprache gesucht, wobei eine
puristische, gegen deutsche Einflüsse gerichtete Grundhaltung vorherrschte. Als
Ergänzung zu der Syntax von Libš war die obersorbische Grammatik von Jurij Kral
gedacht („Grammatik der Wendischen Sprache in der Oberlausitz“, Bautzen 1895,
Nachauflagen 1919, 1925), ein praktisches, nach didaktischen Gesichtspunkten
erarbeitetes Lehrbuch, das sich eng an die „Böhmische Schulgrammatik“ von Josef
Masařík (1878) anlehnt. Kral strebte in seiner Grammatik eindeutige Festlegungen
ohne Formdubletten an. Die Arbeit prägte mehr als ein halbes Jahrhundert die
Ausbildung der obersorbischen Intelligenz und übte großen Einfluss auf die
Entwicklung der Schriftsprache aus.
Für das Niedersorbische ist im 19. Jh. zunächst die handschriftliche „Wortlehre der
niederwendischen Grammatik“ von Moritz Hermann
Albert Ebert (1864) zu nennen. Sie beschreibt hauptsächlich die
Bibelsprache, stützt sich jedoch auch auf eine fundierte Kenntnis der
Volkssprache. Mit Mukas „Historischer und vergleichender Laut- und Formenlehre
der niedersorbischen (niederlausitzisch-wendischen) Sprache“ (1891) war ein
Höhepunkt der sorbischen Grammatikschreibung erreicht. Gestützt auf eine Fülle
sprachlicher Daten aus den Dialekten, aus älteren nieder- und obersorbischen
Grammatiken und Sprachdenkmalen sowie im Vergleich mit dem Polnischen,
Tschechischen und Altkirchenslawischen verfolgte er systematisch das Ziel, die
Sprache nicht nur in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu beschreiben, sondern den
Hergang, die Regeln und die Ursachen ihrer Entwicklung aufzudecken. Diesen
Anspruch verband Muka mit gewissen präskriptiven Zügen. Mukas Grammatik hat bei
der Standardisierung und Normierung der niedersorbischen Schriftsprache eine
herausragende Rolle gespielt, da sie der praktischen Grammatik von Bogumił Šwjela („Lehrbuch der
Niederwendischen Sprache“, Erster Teil: Grammatik, 1906) zugrunde gelegt
wurde.
Obersorbische Grammatik von Helmut Faska, Domowina-Verlag
1981
Darstellung der sorbischen Grammatikschreibung vom 17. bis 19.
Jh. von Sonja Wölkowa, Domowina-Verlag 2005
Eine Zäsur in der sorbischen Grammatikschreibung bildet das Verbot des Schrifttums in der NS-Zeit (→ Sprachverbote). Da die Restbestände der
ober- und niedersorbischen Grammatik von Kral und Šwjela vernichtet wurden,
waren nach dem Zweiten Weltkrieg für den Aufbau des sorbischen Schulwesens (→
Schule) rasch entsprechende Lehrbücher zu schaffen. Dem entsprach für
das Obersorbische die Grammatik von Pawoł Wowčerk („Kurzgefaßte obersorbische
Grammatik“, drei wenig veränderte Auflagen 1951, 1954, 1955), die zumeist die
kodifikatorischen Entscheidungen von Kral übernahm, sowie für das
Niedersorbische die von Frido Mětšk bearbeitete Neuauflage der Grammatik von
Šwjela („Grammatik der niedersorbischen Sprache“, 2. Aufl., 1952). 20 Jahre
später veröffentlichte Hinc
Schuster-Šewc seine in obersorbischer Sprache verfasste
zweibändige „Gramatika hornjoserbskeje rěče“ (1968, 1976; Nachauflage des 1.
Bandes 1984). Er stützte sich auf umfangreiche Exzerptionen aus der Literatur
und Publizistik des 19. und 20. Jh. Der erste Band enthält neben Phonologie,
Phonetik und Flexionsmorphologie auch ein Kapitel zur Wortbildung, im zweiten
Band wird in Anlehnung an die „Skladba spisovné češtiny“ von Jaroslav Bauer und Miroslav Grepl die sorbische Syntax nach den
Methoden der funktionalen Grammatik behandelt. Einen theoretischen Neuansatz auf
dem Gebiet der Morphologie bildete die „Grammatik der obersorbischen
Schriftsprache der Gegenwart“ von Helmut
Faska (unter Mitarbeit von Frido
Michałk, 1981). Ihr Konzept orientiert sich am Strukturalismus
der „Prager Schule“, bei der Behandlung der Verben wurden mit den Methoden von
Valenztheorie und Prädikatenlogik auch syntaktische Aspekte einbezogen. Außer
schriftsprachlichen Texten wurde systematisch dialektales Material mit
ausgewertet. 22 Jahre später veröffentlichte Faska für den Schulgebrauch als
gekürzte und popularisierte Fassung dieser Grammatik seinen „Pućnik po
hornjoserbšćinje“ (Wegweiser für das Obersorbische, 2003, 22012). Auf die
methodologischen und theoretischen Positionen Faskas stützt sich auch die
„Niedersorbische Grammatik für den Gebrauch der Sorbischen Erweiterten
Oberschule“ von Pětš Janaš (1976).
Eine detaillierte moderne Darstellung der niedersorbischen Grammatik ist darüber
hinaus in den Sprachlehrbüchern von Manfred
Starosta enthalten („Niedersorbisch schnell und intensiv“,
1991/92).
Neu war im 20. Jh., dass infolge des gewachsenen Interesses der internationalen Slawistik
sorbische Grammatiken (nur zum Obersorbischen) auch von ausländischen Autoren
verfasst wurden. Die ersten, sehr knapp gehaltenen Arbeiten erschienen noch vor
dem Zweiten Weltkrieg auf Tschechisch (Josef
Páta, „Krátka přiručka hornolužické srbštiny“, 1920) und Polnisch
(Zdzisław Stieber, „Krótka
gramatyka języka górnołużyckiego“, 1938); bald nach dem Kriegsende folgte
Vladimir Mohelskýs „Mluvnice
hornolužické srbštiny a slovník hornosrbsko-český“ (1948). Seit den 1960er
Jahren des 20. Jh. erschienen zumeist praktische Grammatiken des Obersorbischen
in ukrainischer (Konstantin K. Trofimowič, 1964), russischer (Maja I. Ermakova 1974; Trofimowič 1989),
englischer (Charles Wukasch 1991,
1993) und bulgarischer Sprache (Elena
Ljubenova 2003), ins Englische übertragen wurde darüber hinaus
Band 1 der Grammatik von Schuster-Šewc (übersetzt von Gary Toops, 1996, 21999).
Lit.: H. Schuster-Šewc: Das Sorbische und der Stand seiner Erforschung, Berlin
1991; W. Zeil: Sorabistik in Deutschland. Eine wissenschaftsgeschichtliche
Bilanz aus fünf Jahrhunderten, Bautzen 1996; S. Wölke: Geschichte der sorbischen
Grammatikschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Bautzen
2005.