Obersorbisch ist eine in der Oberlausitz von bis
zu 25 000 Menschen gesprochene westslawische Sprache mit der Eigenbezeichnung
hornjoserbšćina, hornjoserbska rěč (,obersorbische
Sprache‘), im Deutschen bis 1945 überwiegend Wendisch genannt. Das Obersorbische untergliedert sich in
verschiedene Dialekte und bildet
gemeinsam mit dem Niedersorbischen das Sorbische. Die obersorbische Schriftsprache der Gegenwart entwickelte
sich aus der Vereinheitlichung zweier Traditionslinien, vertreten jeweils im
katholischen und evangelischen Schrifttum und basierend auf dem Crostwitzer Dialekt im Westen bzw. dem
Bautzener Dialekt im Osten. Letzterer wurde bei der Schaffung der einheitlichen
Schriftsprache hauptsächlich zugrunde gelegt. Von ihrer Basis unterscheidet sich
die obersorbische Schriftsprache infolge von Standardisierung,
Intellektualisierung und Kondensation. Seit 1945 ist ein zunehmender Einfluss
des katholischen Dialekts auf die obersorbische Schriftsprache zu
beobachten.
Ausschnitt aus dem Gesangbuch von Gregorius B., 1593; Sorbisches
Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Das gegenwärtige obersorbische Sprachgebiet umfasst jeweils einen Teil der Gemeinden der
beiden Oberlausitzer Landkreise Bautzen und Görlitz, wobei das Obersorbische in einem Dreieck zwischen Bautzen,
Kamenz und Hoyerswerda (→ katholische Region) am besten erhalten
ist. Die obersorbische Schriftsprache besitzt sieben Vokalphoneme, das
Konsonantensystem 28 Phoneme. Der Hauptakzent liegt in Erbwörtern auf der ersten
Wortsilbe. Das Obersorbische verfügt über sieben Kasus (Nominativ, Genitiv,
Dativ, Akkusativ, Instrumental, Lokativ, Vokativ), drei Genera (Maskulinum,
Neutrum, Femininum) und drei Numeri (Singular, Plural, Dual). Innerhalb der
Maskulina gibt es die Kategorien der Belebtheit und der Beseeltheit (betrifft
männliche Personen). Im Gegensatz zum Niedersorbischen hat das Obersorbische ein
ausgebautes System von Vergangenheitsformen: Perfekt, Präteritum (Aorist,
Imperfekt), Plusquampräteritum und Iterativpräteritum.
Obersorbische Übersetzung des Kleinen Katechismus von Wjacław
Warichius, 2. Auflage 1597; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen
Institut Bautzen
Die Reformation
begünstigte das Entstehen einer obersorbischen Schriftsprache, vorerst noch ohne
einheitliche Normen. Das erste gedruckte obersorbische Buch (→ Buchdruck) stammt aus dem Jahr 1595 (Wjacław Warichius: „Der kleine
Catechismus“). Die Oberlausitzer Stände waren zunächst nicht an der Verbreitung
sorbischer Drucke unter den evangelischen Sorben interessiert. So wurden
sämtliche Exemplare der im Druck befindlichen obersorbischen Übersetzungen des
Matthäus- und Markusevangeliums konfisziert (Michał Frencl, 1670). Erst auf Drängen einiger sorbischer
Geistlicher, die über die Verwendung unterschiedlicher und z. T. schlechter
obersorbischer Übersetzungen religiöser Texte klagten (z. B. Katechismus,
Episteln), sowie angesichts der zunehmenden Gefahr einer Rekatholisierung
reagierte schließlich die Oberlausitzer Ständeversammlung und berief 1691 eine
Kommission unter Leitung von Pawoł
Prätorius, die die wichtigsten religiösen Texte ins Obersorbische
übersetzen sollte. Der sog. Prätorius’schen Kommission gehörten Geistliche aus
allen Regionen des obersorbisch-evangelischen Sprachgebiets an, wodurch die
Grundlagen einer überregional geltenden Schriftsprache gelegt wurden. Einen
vorläufigen Höhepunkt erreichte die Publikationstätigkeit der evangelischen
Obersorben mit der Herausgabe der Bibelübersetzung von 1728, nachdem bereits 1706 eine obersorbische
Übersetzung des Neuen Testaments von Michał Frencel erschienen war.
Seit Ende des 17. Jh. entstanden außerdem obersorbische Texte für die katholischen Sorben, so
eine Übersetzung des Katechismus von Jakub Xaver
Ticin (1685). Einen wichtigen Beitrag zur Kodifikation der
obersorbischen Schriftsprache leistete auch der Bautzener Domherr Jurij Hawštyn Swětlik, der zahlreiche
religiöse Texte übersetzte und sich dabei – wie schon Ticin – am Wittichenauer Dialekt orientierte, u. a.
die Evangelien und Episteln (im Druck erschienen 1696), eine Sammlung
katholischer Kirchenlieder (o. J.) sowie ein lateinisch-sorbisches Wörterbuch
(1721; → Wörterbücher). Unveröffentlicht blieb seine handschriftliche
Übersetzung der Bibel (1678–1711).
Obersorbische Evangelien und Episteln von Jurij Hawštyn Swětlik,
katholisch, 1690; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Bautzen
So hatten sich spätestens zu Beginn des 18. Jh. zwei obersorbische
Schriftsprachenvarianten herausgebildet, die in Grammatiken kodifiziert wurden:
die evangelische auf der Grundlage der südlichen und östlichen Mundarten des
Bautzener Dialekts und die katholische auf der Grundlage des Wittichenauer, seit
Mitte des 18. Jh. des Crostwitzer Dialekts. Abgesehen von einigen phonetischen,
morphologischen und lexikalischen Unterschieden sowie theologischen Vorbehalten
bestand das größte Hindernis für die wechselseitige Nutzung der Literatur in
Unterschieden bei Schreibung und Orthografie.
Im Zuge der nationalen Wiedergeburt fand die obersorbische Schriftsprache in
Sprachdomänen außerhalb des religiösen Bereichs Verbreitung, u. a. durch die
Entwicklung des Vereinswesens, die Gründung regulärer Zeitungen und Zeitschriften oder das Wirken der Maćica Serbska. Deshalb
wurde die Schaffung einer einheitlichen obersorbischen Schriftsprache notwendig,
die den Weg zu den slawischen Nachbarvölkern ebnen sollte und nicht an eine
bestimmte Konfession gebunden war. Dies fand seinen Niederschlag in neuen
Grammatiken und Wörterbüchern und wurde v. a. von Maćica-Mitgliedern
vorangetrieben (Handrij Zejler,
Jan Pětr Jordan, Jan Arnošt Smoler, Křesćan Bohuwěr Pful, Michał Hórnik). Sie beschlossen 1848 die
Einführung der sog. analogen Rechtschreibung, die in ihren Schriften und in der
Zeitschrift „Časopis Maćicy Serbskeje“ konsequent angewandt wurde.
Die sprachreformatorischen Aktivitäten waren geprägt vom Gedanken der slawischen
Wechselseitigkeit, was schließlich zu einer intensiven Einwirkung der
benachbarten Sprachen, bes. des Tschechischen, auf die obersorbische
Schriftsprache und zu einem gegen den deutschen Einfluss gerichteten Sprachpurismus führte. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bestimmte
Michał Hórnik maßgeblich die Entwicklung der obersorbischen Schriftsprache. Als
Kanonikus des Domkapitels in Bautzen verfügte er über die Autorität und
Befugnis, eine Vereinheitlichung der obersorbischen schriftsprachlichen Norm
(jedenfalls im katholischen religiösen Schrifttum) durchzusetzen. Gegen einen
allzu kategorischen Purismus auf dem Gebiet des Wortschatzes wandten sich ab
1870 insbesondere Vertreter der Jungsorbischen Bewegung. Die sprachliche Form der Werke des
obersorbischen Klassikers Jakub
Bart-Ćišinski bildete die Grundlage für die Schaffung der
modernen obersorbischen Schriftsprache und wurde durch die Autoren der
nachfolgenden Generation (Mikławš
Andricki, Jakub
Lorenc-Zalěski u. a.) popularisiert. Somit entwickelte sich seit
den 1870er Jahren die obersorbische Schriftsprache zu einer polyvalenten,
überregionalen, auch in offiziellen Situationen schriftlich und mündlich
gebrauchten Form der sprachlichen Kommunikation.
Michał Hórnik; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Die sprachpflegerischen Initiativen wurden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.
weitergeführt (u. a. von Filip Rězak
mit einem enzyklopädischen Wörterbuch, Michał
Nawka mit praktischen Sprachführern), bis sie nach dem Verbot des
Sorbischen und aller sorbischen kulturellen Aktivitäten 1937 (→ NS-Zeit) eingestellt werden mussten.
Die Erneuerung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens, der Aufbau eines
sorbischen Schulwesens (→ Schule), die Gründung sorbischer
Zeitungen und Zeitschriften sowie kultureller und wissenschaftlicher
Einrichtungen stellten nach 1945 neue Anforderungen an das
Kommunikationspotenzial der obersorbischen. Schriftsprache. Dies führte
schließlich zur Schaffung eines einheitlichen orthografischen Systems sowie zur
Entwicklung einer stabilen grammatischen und lexikalischen Norm des
Obersorbischen. Zu einem weiteren Domänenausbau (→ Fernsehen, neue Medien wie das Internet), der
zu einer Erweiterung des schriftsprachlichen Wortschatzes beitrug, kam es nach
der politischen Wende
1989/90.
Für die obersorbische Schriftsprache der Gegenwart sind folgende
Entwicklungstendenzen charakteristisch: eine zunehmende Intellektualisierung im
Bereich der Syntax (z. B. durch den Ausbau parataktischer und hypotaktischer
Konstruktionen) und des Wortschatzes (z. B. Gebrauch von Abstrakta, Aufnahme
zahlreicher Internationalismen); eine verstärkte Demokratisierung (etwa durch
das Eindringen umgangssprachlicher Elemente im syntaktischen und lexikalischen
Bereich); wachsender Einfluss des Deutschen im Satzbau, Wortschatz und
Phraseologie (→ Interferenz).
Lit.: H. Faska: Der Weg des Sorbischen zur Schriftsprache, in: Language Reform.
History and Future, Vol. VI, Hg. I. Fodor/C. Hagège, Hamburg 1994; Serbšćina.
Najnowsze dzieje języków słowiańskich, Red. H. Faska, Opole 1998; T.
Lewaszkiewicz: Obersorbisch, in: Lexikon der Sprachen des Europäischen Ostens,
Hg. M. Okuka, Klagenfurt 2002.