Volkstümliche Krankheitsvorstellungen und Kenntnisse über Heilmittel und methoden, die bei
der ländlichen Bevölkerung teilweise besondere Ausprägung erfahren haben.
Volksmedizin ist historisch und literarisch vielfach belegt. Die Übergänge
zwischen Volksmedizin und Schulmedizin sind fließend. Mit der Entwicklung der
Naturwissenschaften im 19. Jh., der Durchsetzung hygienischer Standards und der
Profilierung des Arztberufs trat eine Abwertung von Volksmedizin als
Sammelbezeichnung für „abergläubische“ medizinische Ansichten und Praktiken ein.
Ethnografische Studien aus dem 19. Jh. über die Sorben beschreiben deren Schicksalsglauben und einen ritualisierten
Umgang mit Krankheit und Tod, dem sich weder Arme noch Reiche entziehen konnten.
In Märchen wird der (weibliche) Tod zur
Gevatterin gebeten, weil sie im Gegensatz zu Mensch und Herrgott gerecht
herrscht. Adäquate Ansichten widerspiegeln die Sprichwörter, in denen ebenso wie in den Sagen Krankheit und Tod in personifizierter Gestalt auftreten. Die
Vorstellung, dass Krankheiten durch den Einfluss Verstorbener oder bösgesinnter
Menschen entstehen, war weit verbreitet.
Todkranke wurden bis Anfang des 20. Jh. im ländlichen Raum ebenerdig auf frisches Stroh
gebettet, um ihnen das Sterben zu erleichtern. Das Verbrennen des Bettstrohs und
das Ausräuchern der Stube nach Eintritt des Todes gehörten ebenso wie die
schnelle Beerdigung zu den wichtigen Hygienemaßnahmen. Asche und Salpeter
dienten als Desinfektionsmittel. Um sich bei der Krankenpflege nicht
anzustecken, kaute man Wacholderbeeren. Beschrieben werden Lungenschwindsucht,
Wassersucht und Diphtherie oder Fieber und Scharlach, besonders gefürchtet waren
die Geistes- und Gemütskrankheiten sowie die zła chorosć ,böse
Krankheit’ – die Epilepsie. Herkunft und Verbreitung von Seuchen (Cholera,
Typhus, Influenza, Viehpest) wurden mit der mythischen Gestalt der Mór
erklärt, einer in der Nähe menschlicher Siedlungen umhergehenden, weiß umhüllten
blassen Frau, oder aber einer weißen Wolke, die sich über die Dörfer legt. Um
„verpestete“ Luft zu säubern, räucherte man die Häuser mit Alant, Wacholder und
Weihrauch aus. Adolf Černý nennt in
seiner Sagensammlung „Mythiske bytosće“ (Mythische Wesen, 1898) Tees aus
Baldrian, Sumpfgarbe und Heilziest als Hausmittel gegen die Pest.
Illustration aus der Sammlung von Wilibald von Schulenburg, 1882;
Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Der Verwendung von Heilpflanzen bei Mensch und Tier lagen über Generationen überlieferte
Erfahrungen zugrunde. Die Literatur führt Schäfer und Kräuterkundige (obersorb.
zelowa žona, zelowy muž ,Kräuterfrau, -mann’) an, die sich am
besten mit den heilenden Wirkstoffen der heimischen Pflanzen und ihren
jeweiligen Erntezeiten auskannten und sie zu Aufgüssen, Badezusätzen oder
Kompressen, in Salben und Pudern verarbeiteten. Ihr Wissen schlug sich auch in
den Ende des 16. Jh. erscheinenden Herbarien und Pflanzenbüchern nieder. Der
niedersorbische Pfarrer und Astrologe Albin
Moller veröffentlichte 1582 ein Verzeichnis von 240 „Namen der
vornembsten Artzney-Kreuter in lateinischer, deutscher und wendischer Sprache“.
1594 erschien der weitaus umfangreichere „Hortus Lusatiae“ des bis 1600 in
Kamenz und dann in Bautzen wirkenden Arztes Johannes Franke, ein Buch, das die gesamte
Pflanzenwelt der Lausitz enthält und den Einfluss der „Signaturenlehre“ von
Theophrastus Paracelsus erkennen
lässt, d. h. der Lehre von der Analogie zwischen der äußeren Gestalt der
Pflanze, ihrer Farbe, ihres Geruchs oder Sekrets und dem medizinischen
Anwendungsbereich. So soll z. B. Schöllkraut bei Gallenleiden aufgrund seines
gelben Pflanzensafts helfen, Löwenzahn bei Erkrankungen der Nieren und Harnwege
aufgrund seines röhrenartigen Blütenstängels.
Hohe Achtung bei der bäuerlichen Bevölkerung genossen die sog. mudri ludźo (,kluge
Leute’), die auf dem Land noch bis in die 1930er Jahre meist eher zu Rate
gezogen wurden als Ärzte. In der „Lausitzischen Monatsschrift“ von 1793 wurde
die fehlende Ausbildung bei „wendischen Landbademüttern“ in der Niederlausitz bemängelt, die bei schweren Geburten
eher auf fragwürdige Mittel zurückgreifen als einen Arzt herbeiholen würden. In
der Oberlausitz hatten die Landstände
1782 eine Übersetzung des Lehrbuchs über Geburtshilfe des Kamenzer
Arztes Johann Gotthelf Herzog
„Unterricht vor Hebammen auf dem Lande“ (1780) ins Sorbische besorgt. Außer
Hebammen und Leichenfrauen praktizierten Bader (obersorb. łazeńk,
niedersorb. łaznik, auch badaŕ), die u. a. Zähne zogen,
Schröpfköpfe setzten (obersorb. kórki stajić, niedersorb. kłonki
stajaś) und zur Ader ließen, Ziehmänner (obersorb. runar,
niedersorb. rownaŕ), die chiropraktische Behandlungen ausführten, sowie
Heiler (obersorb. hojer, niedersorb. auch guslowar ,Zauberer’)
bzw. Besprechfrauen (obersorb. zaprajerka, niedersorb.
zagranjaŕka). Bei ihnen vermischten sich traditionelle
heilkundliche Kenntnisse, handwerkliche Fähigkeiten und besondere Gaben mit
manchmal dubiosen Praktiken. Karl
Gander rückt die „Geheimwissenschaft kluger Männer und Frauen“
(1896), die ihr Berufswissen lediglich in der Familie weitergaben, in die Nähe
der Zauberei. In der Regel besaß jeder Heiler Spezialfähigkeiten; der eine
verstand sich auf das Stillen von Blut, der andere linderte Verbrennungen oder
kurierte das Vieh. Die Behandlung durfte weder bezahlt noch anderen im Detail
berichtet werden, weil sie dann nicht half. Großen Zuspruch fand das Besprechen,
d. h. das Heilen mit der Magie der Worte, verbunden mit kultischen Handlungen
wie Anhauchen, Bespeien, Bekreuzen, Handauflegen, Salben, Besprengen usw.
Heilung versprach man sich bei der Behandlung der Gesichts- und Gürtelrose, von
Ausschlägen und Auswüchsen, Warzen und Gerstenkörnern, von Rheuma, Koliken oder
Grauem Star. Weithin bekannt waren die Heilerfolge der Besprechfrau Hana Marja Iseltowa aus Ruhetal bei Guttau.
Tote Vögel an der Stalltür als Schutzmittel vor Hexen, Feuer und Blitzschlag in der Niederlausitz, um 1930; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Die Anwendung von magischen Formeln, mit denen die Menschen ihre Umwelt – besonders
hinsichtlich der Vertreibung von Krankheiten – positiv zu beeinflussen
versuchten, lässt sich schon in frühen Hochkulturen nachweisen. Dazu gehört das
Gesundbeten, das im Glauben an das krankmachende wie heilende Wirken
übernatürlicher Kräfte wurzelt und als eine spezifisch christliche Form des
Besprechens gilt (vgl. Jakobusbrief im Neuen Testament, Jak 5,13–16). Besondere
Bedeutung für die katholische Bevölkerung haben bis heute religiös motivierte
Handlungen wie etwa die Krankensegnung, der Exorzismus, das Pilgern an
Wallfahrtsorte oder das Beichten. Traditionell erbitten Pilger bei „Unserer
Lieben Frau in Rosenthal“, einer Madonnenstatue mit Kind aus Lindenholz,
Fürsprache vor allem bei Augenleiden und Unfruchtbarkeit. Der Quelle neben der
Rosenthaler Kirche sagt man
heilende Wirkung nach. (→ katholische
Region) Volkstümliche Heilmethoden bieten bis heute in vielen Fällen
Alternativen zur modernen Medizin. Der Gang zum „Ziehmann“ bedeutet nichts
Ungewöhnliches. Über die Arbeitsweise von Geistheilern berichtet Christel Lehmann-Enders.
Im Mittelpunkt des volkskundlichen Interesses standen zunächst die Zaubersprüche. Carly Seyfarth hatte in seinem Beitrag über
„Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens“ (1913) das Gebiet der
Sorben explizit ausklammert, wenngleich zu dieser Zeit schon Sammlungen
vorlagen. Die von Hendrich Jordan
(1877) und Wilibald von Schulenburg
(1882) in der Niederlausitz, von Arnošt
Muka (1907, 1909) in den Heidedörfern der preußischen Oberlausitz
und von Ota Wićaz (1934) im Hoyerswerdaer Land aufgezeichneten
Besprechformeln und Zauberpraktiken belegen die starke Vermischung von
volksmedizinischen Vorstellungen, christlicher Frömmigkeit und Dämonenglauben.
Pawoł Nedo widmete den
Zaubersprüchen eine kurze Abhandlung im „Grundriß der sorbischen Volksdichtung“
(1966). Izolda Gardošowa sammelte
einige Informationen über „kluge Leute“ in Groß
Partwitz.
Im Zuge der Neuorientierung des Fachs Volkskunde seit
den 1970er Jahren ist auch der Begriff Volksmedizin hinterfragt worden. Seine
enge Bindung an die Schulmedizin ist problematisch, da die klinische Betrachtung
von Krankheit bzw. Gesundheit auf der Untersuchung physiologischer Vorgänge
beruht und den weiteren kulturellen Kontext, wozu etwa ethische und rechtliche
Aspekte gehören, aber auch Fragen der Religiosität, Spiritualität und des
magischen Denkens, Erfahrungen, Werte und Meinungen bis hin zu konkreten
sozialen Beziehungen, nicht berücksichtigt. Gegenwärtige Tendenzen der
Rückbesinnung auf das überlieferte Heilwissen dürften in Verbindung mit einer
als hilflos erlebten Schulmedizin stehen.
Lit.: E. Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche, Graz
1880; W. v. Schulenburg: Wendisches Volkstum in Sage, Brauch und Sitte, 3.
Aufl., Bautzen 1993; K. Gander: Zu dem Kapitel der Volksheilkunde, in:
Niederlausitzer Mitteilungen 4 (1896); Th. Schütze: Über die Benennung und
volksmedizinische Verwendung von Pflanzen im sorbischen Gebiet, in: Lětopis C 4
(1959/60); Groß Partwitz. Wandlungen eines Lausitzer Heidedorfes, Bautzen 1976;
E. Wolff: „Volksmedizin“ – Abschied auf Raten. Vom definitorischen zum
heuristischen Begriffsverständnis, in: Zeitschrift für Volkskunde 94 (1998) 2;
C. Lehmann-Enders: Was die schwarze Kuh scheißt, das nimm. Vom Aberglauben,
Heilen und Besprechen im Spreewald, Lübben 2001.