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Sorabistika
Dietrich Scholze

Als Teilbereich der Slawistik die Wissenschaft von der Sprache, Literatur, Geschichte und Kultur der Sorben; Sorbenkunde.

Die Beschäftigung mit den materiellen und geistigen Lebensäußerungen des sorbischen Volkes reicht in Deutschland bis ins 16. Jh. zurück. Sie resultierte zunächst aus kirchenpolitischen Zielen sowie aus Erfordernissen der Volksbildung. Früheste sorbische Sprachübungen fanden um 1550 an der Universität Frankfurt (Oder) statt. Die Rivalität von Protestanten und Katholiken in der Oberlausitz bewirkte Ende des 17. Jh. erstmals eine Förderung religiösen Schrifttums durch die Landstände. Sorbische Geistliche beider Konfessionen begannen Teile der Bibel zu übersetzen und schrieben Grammatiken ihrer Muttersprache. Frühaufklärung und Pietismus weckten das Interesse slawischer und deutscher Gelehrter am sorbischen Ethnikum. 1716 wurde in Leipzig das Wendische Predigerkollegium gegründet (→ Wendische Predigergesellschaft), 1727 in Prag das Wendische Seminar eröffnet. Die 1774 in Leipzig bestätigte Gelehrtengesellschaft Societas Jablonoviana und die 1779 begründete Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften unterstützten die Erforschung sorbischen Geschichte, Sprache, Sitten und Bräuche. In der Spätaufklärung dominierten Versuche einer historisch-vergleichenden Analyse der sorbischen Sprache(n).

1838 gründeten sorbische und deutsche Studenten an der Universität Breslau auf Initiative Jan Arnošt Smolers den Akademischen Verein für lausitzische Geschichte und Sprache. Joachim Leopold Haupts und Smolers zweibändige „Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz“ (1841/43) gelten als innovative Grundlegung des Fachs. Zur eigenständigen Wissenschaft in Deutschland wurde die Sorabistik im Rahmen der Slawistik, die in den 40er Jahren des 19. Jh. einen spürbaren Aufschwung nahm. Während diese sich auf Erforschung und Lehre der slawischen Sprachen und Kulturen des Auslands konzentrierte, richtete sich die Sorabistik – im Sinne einer Nationalphilologie – v. a. nach den Bedürfnissen der einheimischen sorbischen Bevölkerung. So kam es infolge der nationalen Wiedergeburt im Vormärz zu einer Bündelung der sorbenkundlichen Aktivitäten. 1847 wurde in Bautzen die wissenschaftlich-kulturelle Gesellschaft Maćica Serbska gegründet, die bis zum Zweiten Weltkrieg das konzeptionelle und organisatorische Zentrum für Forschungen und Publikationen blieb. Nach dem Vorbild vergleichbarer west- und südslawischer Vereine, aber ohne staatliche Zuwendungen veröffentlichten die Mitglieder in der Halbjahresschrift „Časopis Maćicy Serbskeje“ (ČMS, 170 Hefte, 1848–1937) sowie in weiteren Editionen die Resultate individueller Arbeiten. 1843–1848 war der Sorbe Jan Pětr Jordan an der Universität Leipzig als unbesoldeter Lektor für slawische Sprachen tätig, wobei er das Sorbische einbezog; ab 1870 bot August Leskien dort sorabistische Vorlesungen an. 1866 veröffentlichte Křesćan Bohuwěr Pful das erste umfassende obersorbisch-deutsche Wörterbuch.

Wissenschaftsgeschichte von Wilhelm Zeil, Domowina-Verlag 1996

„Mehr als andere Philologien für die betreffenden Völker besaß die Sorabistik für die Sorben eine nationalpädagogische, identitätsstiftende und bewusstseinsbildende Funktion“ (Wilhelm Zeil). Das Konzept der slawischen Wechselseitigkeit gewann größere Bedeutung als die Kooperation deutscher Gelehrter mit einzelnen Forschern. Zur Zeit des Kaiserreichs, aus Sicht des Faches geprägt von dem Sprachforscher und Volkskundler Arnošt Muka, erlangte die Sorbenkunde noch keine Autonomie innerhalb der Slawistik. Nationalistische Kreise in Preußen wie in Sachsen versuchten die sorbische Sprache und Kultur zu marginalisieren. Engagierte Lehrer und Pfarrer leisteten den Hauptanteil sorabistischer Arbeiten. Gestützt durch die Jungsorbische Bewegung, schufen sie um 1900 die Basis für differenzierte Untersuchungen, wie sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. das Profil bestimmen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die sorbische Philologie zu einem festen Bestandteil der Slawistik in Deutschland sowie in den jungen slawischen Nachbarstaaten Polen und Tschechoslowakei. Auf Initiative von Matija Murko und Reinhold Trautmann bot die Leipziger Universität noch bis 1937 Lehrveranstaltungen zum Sorbischen an. In Berlin förderte Universitätsprofessor Max Vasmer die sorabistische Sprachwissenschaft, indem er 1932 der Preußischen Akademie der Wissenschaften den „Plan einer Forschung über die Sprache der Wenden in der Lausitz“ vorlegte. Einige seiner Schüler, so Hans Holm Bielfeldt und Pawoł Wirth, befassten sich mit sorbischer Sprachgeschichte und Sprachgeografie (→ Dialektologie). In Prag bestand ab 1901 ein Sorbischlektorat, das Adolf Černý zwei Jahrzehnte führte. Ein Lehrstuhl für sorbische Sprache, Literatur und Kulturgeschichte wurde 1933 erstmals an der dortigen Karls-Universität eingerichtet, ihn übernahm der Sorabist Josef Páta. Zeitgleich untersuchten polnische Slawisten das Verhältnis von Ober- und Niedersorbisch sowie die Beziehungen beider zu den benachbarten slawischen Sprachen. In der NS-Zeit wurden objektive sorabistische Forschungen, die einer Stärkung der nationalen Identität und des öffentlichen Prestiges der Volksgruppe dienen sollten, als staatsfeindlich denunziert und weitgehend unterbunden. Mit dem Verbot jeglicher prosorbischer Betätigung wurden 1937 Archiv und Bibliothek der Maćica Serbska beschlagnahmt.

Die Erneuerung der Sorabistik nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte an frühere Inhalte und Methoden an. In Ausführung des ersten Sorbengesetzes wurde in Sachsen ab 1948 ein Netz von wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen aufgebaut, darunter 1951 das Institut für sorbische Volksforschung in Bautzen (→ Sorbisches Institut) und das Sorbische Institut an der Universität Leipzig (→ Institut für Sorabistik). Diese Strukturen waren später u. a. einer politisch-ideologischen Beeinflussung und Kontrolle durch staatliche Instanzen ausgesetzt. Gegenstand systematischer Tätigkeit der wissenschaftlichen Zentren waren akademische Forschung bzw. Lehre auf den Gebieten Sprache, Literatur, Geschichte, Kultur und Volkskunde der Sorben in beiden Lausitzen. Die auf Erweiterung angelegte Bautzener außeruniversitäre Einrichtung sollte sich sowohl der Grundlagen- wie der Praxisforschung widmen, wobei die Geschichte des Mittelalters und bestimmte Bereiche der Sprach- und Literaturwissenschaft zeitweilig dem Universitätsinstitut überlassen wurden; dieses verpflichtete sich zur Ausbildung des Nachwuchses für alle Fachrichtungen sowie von Lehrern für die allgemeinbildende Schule. In den 1950er Jahren konzentrierte sich die professionelle Sorabistik auf monografische Fragestellungen; diverse Synthesen folgten meist in den Perioden danach.

Lětopis, Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur, hg. vom Sorbischen Institut; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

In der DDR wurde Sorabistik traditionell als Komplex mehrerer geistes- bzw. gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen verstanden. Schon die 1946 geschaffene Wissenschaftliche Abteilung der Domowina knüpfte an Erfahrungen der Maćica Serbska an. Nach deren Auflösung wurden die Restbestände ihres Archivs und ihrer Bibliothek dem Forschungsinstitut zugeordnet (→ Sorbische Zentralbibliothek, → Sorbisches Kulturarchiv), das seit 1952 die sorabistische Zeitschrift „Lětopis“ in drei (von 1986–1991 in vier) disziplinären Reihen, seit 1992 in zwei multidisziplinären Heften pro Jahr, herausgibt. Die Abteilungsstruktur erlaubte fachspezifische Vorhaben ebenso wie interdisziplinäre Projekte mit Langzeitcharakter, die das Institut ab 1952 innerhalb der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Ost) (1972–1991 AdW der DDR) bearbeitete. Das Fächerspektrum wurde sukzessive verbreitert, etwa zugunsten von Bevölkerungsstatistik, Ethnosoziologie oder Folkloristik.

Das Bautzener Institut entfaltete eine umfangreiche wissenschaftliche Kooperation mit Slawisten in Ost-, z. T. auch Westeuropa (Prag, Warschau, Opole, Moskau, Lwiw, Oxford, Paris). Das Leipziger Universitätsinstitut begründete 1967 die Tradition der internationalen Sommerferienkurse für sorbische Sprache und Kultur (sieben Durchgänge bis 1982, seit 1992 alle zwei Jahre am Bautzener Institut). Beide Einrichtungen organisierten gemeinsam wegweisende Konferenzen zu Stand und Aufgaben der Sorabistik (Bautzen 1960, 1966), ihre Vertreter wirkten in Fachgremien wie dem Internationalen Slawistenkomitee.

Nach der politischen Wende von 1989/90 veränderten sich die Rahmenbedingungen für die Sorabistik. Infolge der Abwicklung der DDR-Akademie wurde die außeruniversitäre Forschungseinrichtung zum 1.1.1992 in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins als Sorbisches Institut/​Serbski institut in Bautzen fortgeführt, sie erhielt als Neuerung eine Arbeitsstelle in Cottbus. Institutionell gefördert wird das Sorbische Institut seit 1993 durch die Stiftung für das sorbische Volk. Auch das Institut für Sorabistik der Universität Leipzig konnte seine Selbstständigkeit nach 1990 wahren, es konzentriert sich auf die Untersuchung und Vermittlung von ober- und und niedersorbischer Sprache und Literatur und bietet ein breites Spektrum von Studiengängen an. Auf der Basis von Gesetzen und Verträgen arbeiten Sachsen und Brandenburg in sorabistischer Forschung, Lehre und Weiterbildung zusammen. An einigen slawistischen Lehrstühlen der alten Bundesländer (z. B. Hamburg, Konstanz, Regensburg, Saarbrücken) genießt die Sorabistik unterdessen einen deutlich höheren Stellenwert als vor der deutschen Wiedervereinigung.

Lit.: W. Zeil: Sorabistik in Deutschland. Eine wissenschaftsgeschichtliche Bilanz aus fünf Jahrhunderten, Bautzen 1996; D. Scholze: Sächsische Sorabistik im 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 21 (1997/98); Im Wettstreit der Werte. Sorbische Sprache, Kultur und Identität auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Hg. D. Scholze, Bautzen 2003.

Metadata

Sorabistika
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Scholze, Dietrich
Scholze, Dietrich
serbowěda; rěčespyt; slawistika; literarna wědomosć; wuměłstwowa wědomosć; kulturna wědomosć; stawizny wědomosće; ludowěda; etnologija; entnografija; Geschichtswissenschaft
serbowěda; rěčespyt; slawistika; literarna wědomosć; wuměłstwowa wědomosć; kulturna wědomosć; stawizny wědomosće; ludowěda; etnologija; entnografija; Geschichtswissenschaft

Wědomosć wo rěči, literaturje, stawiznach a kulturje Serbow; serbowěda; dźělny wobłuk slawistiki.

Wědomosć wo rěči, literaturje, stawiznach a kulturje Serbow; serbowěda; dźělny wobłuk slawistiki.

Zahrnuto v sbírce
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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