1. Bildung von Wörtern durch Verbindung von Wurzelmorphemen mit anderen
Wortstämmen oder Affixen nach bestimmten Modellen zwecks Wortschatzerweiterung,
-differenzierung oder -präzisierung.
2. Wortbildungslehre; d. h. zwischen Lexikologie, Semasiologie und Grammatik
einzuordnende Lehre von den Grundsätzen und Verfahren der Wortbildung (siehe
1.).
Zu 1.: Die Wortbildung ist neben der lexikalischen Entlehnung eine der
wichtigsten Quellen für den Ausbau des Wortschatzes. Sie ist abzugrenzen
einerseits von der Flexion (Bildung von Wortformen), weshalb auch zwischen
Wortbildungsmorphemen (Affix, das an einem Wortbildungsprozess beteiligt ist)
und Flexionsmorphemen (Affix, das eine flektierte Form bildet) unterschieden
wird, andererseits von der Wortschöpfung (Bildung neuer Wurzelmorpheme). Die
wichtigsten Wortbildungsverfahren im Sorbischen sind Derivation (Ableitung) und
Komposition (Zusammensetzung). Daneben treten Kürzung (Abkürzungen und
Kurzwörter), Konversion (Wortartwechsel) und Kontamination (Wortmischung)
auf.
Bei der Derivation erfolgt die Wortbildung mithilfe von
Derivationsmorphemen (bzw. Affixen: Präfixe, Suffixe), die an eine
Wortbildungsbasis angefügt werden. Sie kommen nicht frei vor und gehören keiner
Wortart an. Aus synchroner Sicht wird zwischen produktiven und unproduktiven
Affixen unterschieden. Beispiele für Suffigierung: obersorb. rjan-osć,
niedersorb. rědn-osć ,Schönheit‘ (< obersorb. rjany,
niedersorb. rědny ,schön‘), obersorb., niedersorb. such-ota
,Trockenheit‘ (< obersorb. suchi, niedersorb. suchy
,trocken‘), obersorb. čit-ar, niedersorb. cyt-aŕ ,Leser‘ (<
obersorb. čitać, niedersorb. cytaś ,lesen‘), obersorb.
čołm ować, niedersorb. cołn owaś ,Kahn fahren‘ (<
obersorb. čołm, niedersorb. cołn ,Kahn‘), obersorb. wčer
awši, niedersorb. wcor ajšny ,gestrig‘ (< obersorb.
wčera, niedersorb. cora ,gestern‘), obersorb., niedersorb.
dopokaz ,Beweis‘ (< obersorb. dopokazać, niedersorb.
dopokazaś ,beweisen‘); Beispiele für Präfigierung: obersorb.
dosłowo ,Nachwort‘ (< dosłowo), obersorb., niedersorb.
pralěs ,Urwald‘ (< pra-lěs); Beispiele für
Präfix-Suffix-Derivation: obersorb. nachribjetnik, niedersorb.
nakśebjatnik ,Rucksack‘ (< obersorb. na-chribjet-nik,
niedersorb. na-kśebjat-nik). Präfigierung tritt besonders häufig bei
Verben auf, sie ist das wichtigste Mittel zum Ausbau des verbalen Wortschatzes,
z. B. obersorb. wustupić, niedersorb. wustupiś ,austreten‘
(< wu- ,aus-‘ und obersorb. stupić, niedersorb.
stupiś ,treten‘). Bei Substantiven und Adjektiven kommt
Präfigierung vor allem bei Deverbativa (obersorb. nadpad ,Überfall‘)
und Lehnübersetzungen (obersorb. podskupina, niedersorb.
pódkupka ,Untergruppe‘) vor, ansonsten sind hier Suffigierungen
häufiger.
Bei den Derivaten werden unterschieden (a) nach der Wortart substantivische (obersorb.
njezbožo, niedersorb. njegluka ,Unglück‘, obersorb.,
niedersorb. lubosć ,Liebe‘), adjektivische (obersorb.
načerwjeń, niedersorb. nacerwjeny ,rötlich‘) und verbale
Derivate (obersorb. popjec ,überbacken‘, napisać
,aufschreiben‘, niedersorb. wobźěłaś ,bearbeiten‘, rozkuskowaś
,zerstückeln‘); (b) nach der Wortart des Wurzelmorphems denominale (obersorb.
mužik, niedersorb. mužyk ,Männlein‘ < obersorb.,
niedersorb. muž ,Mann‘, obersorb. próškowy ,Staub-‘,
niedersorb. proškaty ,staubig‘ < obersorb., niedersorb. proch
,Staub‘), deadjektivische (obersorb. rjanosć, niedersorb.
rědnosć ,Schönheit‘ < obersorb. rjany, niedersorb.
rědny ,schön‘) und deverbale Derivate (obersorb.
připosłuchar, niedersorb. pśisłuchaŕ ,Zuhörer‘ <
obersorb. připosłuchać, niedersorb. pśisłuchaś ,zuhören‘); (c)
nach semantischen Klassen, z. B. Nomina agentis (Personenbezeichnung für den
Träger einer Handlung; obersorb. běhar, niedersorb. běgaŕ
,Läufer‘, obersorb. wučer, niedersorb. wucabnik ,Lehrer‘),
Nomina instrumenti (Gerätebezeichnungen; obersorb. točawa
,Schleifmaschine‘, niedersorb. wjerśawa ,Bohrmaschine‘), Nomina
diminutiva (Verkleinerungsformen; obersorb. konik, niedersorb.
kónik ,Pferdchen‘, obersorb. ručka, niedersorb.
rucka ,Händchen‘).
Bei der Komposition wird aus mindestens zwei Wurzelmorphemen oder
Morphemverbindungen ein komplexes Wort (Kompositum) gebildet. Im Altsorbischen
entstandende Komposita sind als solche z. T. schwer erkennbar (niedersorb.
kołoźej ,Stellmacher‘). Komposita können aus indigenen
Bestandteilen gebildet sein oder fremdsprachige Elemente enthalten. In letzterem
Fall spricht man von Hybridkomposita (obersorb. šlofstwa, niedersorb.
šlafštuba ,Schlafstube‘, obersorb. live-wustup
,Live-Auftritt‘, obersorb. last-minute-poskitk ,Last-Minute-Angebot‘).
Auch Abkürzungen können Bestandteil von Komposita sein (obersorb. USB-
tykačk ,USB-Stick‘).
An der Nahtstelle zwischen den Gliedern der Komposition steht bei einem Großteil der
Komposita das Interfix -o-: obersorb. prawopis, niedersorb.
pšawopis ,Rechtschreibung‘, obersorb., niedersorb.
žołtozeleny ,gelbgrün‘. Im Niedersorbischen ist die Bildung
von substantivischen o-Komposita weniger produktiv. Als Bindeglied treten auch
erstarrte Kasusformen auf, häufig die Genitivendung: obersorb.
bohabojazny, niedersorb. bogabójazny ,gottesfürchtig‘,
obersorb. dušepastyr, niedersorb. dušepastyŕ ,Seelsorger‘,
obersorb., niedersorb. zemjepis ,Erdkunde‘, außerdem die Dativendung,
obersorb. bohudźak, niedersorb. boguźěk ,Gott sei Dank‘, oder
die Akkusativendung, vgl. obersorb. prochsrěbak ,Staubsauger‘,
niedersorb. glukužycenje ,Glückwunsch‘. Letztere sind meist aus
Syntagmen entstanden, vgl. obersorb. kofej pić ,Kaffee trinken‘ >
kofejpiće ,Kaffeetrinken‘, niedersorb. kulki zběraś
,Kartoffeln lesen‘ > kulkizběranje ,Kartoffellesen‘.
Monografie zu den Deminutiva im Obersorbischen, Wydawnictwo Uniwersytetu
Gdańskiego 2012
Konversion liegt z. B. vor bei obersorb. Němska, niedersorb.
Nimska ,Deutschland‘ (Substantiv) < obersorb. němski,
niedersorb. nimski ,deutsch‘ (Adjektiv), obersorb. škoda,
niedersorb. škóda ,schade‘ (Adjektiv) < obersorb. škoda,
niedersorb. škóda ,der Schaden‘ (Substantiv), niedersorb. casy
,manchmal‘ (Adverb) < erstarrter Instrumental Plural von cas ,Zeit‘
(Substantiv).
Das Resultat von Kürzungen sind Abkürzungen und Kurzwörter. Häufigste
Form von Abkürzungen sind Akronyme (meist für nominale Ausdrücke), in denen die
Anfangsbuchstaben der Bestandteile des Syntagmas oder eines Kompositums für den
ganzen Ausdruck stehen. Geschrieben werden sie meist in Großbuchstaben ohne
Punkt: SLA = Serbski ludowy ansambl, SN = Serbske
Nowiny, NC = Nowy Casnik. Deutsche Abkürzungen werden
heute unverändert übernommen, z. B. EDV, LKW, UNO. Im Sorbischen können
Abkürzungen auch die Basis für Ableitungen sein, z. B. obersorb. CDnik
,CD-Laufwerk‘, CDka bzw. cejdejka ,CD‘, CD-ROMowy
,CD-ROM‘. Kurzwörter sind meist deutsche Lehnwörter wie die ungekürzten
Versionen, z. B. lok, deko, foto, limo, uni. Sie sind besonders typisch für den
mündlichen Sprachgebrauch und können auch als Erstglied in Zusammensetzungen
auftreten: obersorb. infokašćik ,Infokasten‘, multikultiwječor
,Multikultiabend‘, demopask ,Demoband‘.
Beispiele für die Kontamination sind obersorb. Nukstock als
Bezeichnung eines unkommerziellen Metal-Rock-Techno-Festivals (< Ortsname
sorb. Nuknica und Woodstock), obersorb. snobjed
,Brunch‘ (< snědań ,Frühstück‘ und wobjed ,Mittagbrot‘
analog zur englischen Entsprechung), niedersorb. bogala ,um Gottes
willen‘ (< boga dla), niedersorb. dobrejtšo ,Guten Morgen‘
(< dobre zajtšo).
Zu 2.: Zur sorbischen Wortbildung liegen bisher nur Einzeluntersuchungen vor. Eine
systematische Darstellung steht sowohl für das Obersorbische
als auch das Niedersorbische noch aus. Für das Niedersorbische gibt Manfred Starosta in seinem Lehrbuch
(1991/92) eine Übersicht über die wichtigsten Verfahren. Für das Obersorbische
wurden einige Beobachtungen schon in den frühesten obersorbischen Grammatiken festgehalten, ausführlicher erstmals bei Jan Pětr Jordan (1841), allerdings ohne
Anwendung wissenschaftlicher Methoden. Eine die Derivation zusammenfassende
Abhandlung stellte Mikławš Just vor
(»Wo słowotwórbje w serbšćinje«, Über die Wortbildung im Sorbischen; »Časopis
Maćicy Serbskeje« 1914). Mikławš
Krječmar (1954) beschreibt neben der Derivation auch die
Komposition, Kürzung und Hybridisierung als Mittel der Wortbildung. Eine
Übersicht über sämtliche Suffixe sorbischer Substantive und Adjektive bietet
Filip Jakubaš in der Zeitschrift
»Serbska šula« (Sorbische Schule, 1956). Hinc
Schuster-Šewc behandelt in seiner Morphologie des Obersorbischen
(21984) die Wortbildung in den einzelnen Kapiteln
zur jeweiligen Wortart. Präfigierungen beschreibt er – anders als Krječmar – als
Teil der Derivation. Einen Überblick über die obersorbische Wortbildung wird
auch im obersorbisch-russischen Wörterbuch von Konstantin K. Trofimowič (1974), in den grammatischen Tabellen
für den Sorbischunterricht (1978) sowie in dem 2016 erschienenen Teilband zur
Wortbildung in den Sprachen Europas, verfasst von Anja Pohontsch, gegeben. Helmut
Jenč (1963) widmete sich einzelnen Problemen der sorbischen
Komposita. Eduard Werner beschrieb
erstmals ausführlicher die Bildung von Verben mittels Affigierung (»Die
Verbalaffigierung im Obersorbischen«). In den letzten Jahren haben sich v. a.
polnische Slawisten und Sorabisten mit Fragen der obersorbischen Wortbildung
beschäftigt (so Bogusław Kreja,
Małgorzata Milewska-Stawiany,
Tadeusz Lewaszkiewicz).
Lit.: M. Krječmar: Tworjenje słowow w hornjoserbšćinje, in: Lětopis 2 (1954); K. K.
Trofimowič: Hornjoserbsko-ruski słownik, Bautzen/Moskwa 1974; H. Šewc: Gramatika
hornjoserbskeje rěče: Fonetika, fonologija a morfologija, 2. nakład, Budyšin
1984; M. Starosta: Niedersorbisch schnell und intensiv, Teil 2, Bautzen 1992; E.
Werner: Die Verbalaffigierung im Obersorbischen, Bautzen 2003; M.
Milewska-Stawiany: Górnołużyckie deminutywa w systemie językowym i w tekście,
Gdańsk 2012; A. Pohontsch: Upper Sorbian, in: Word-Formation 40.4. An
International Hand¬book of the Languages of Europe, Hgg. P. O. Müller/I.
Ohnheiser/S. Olsen/F. Rainer, Berlin-Boston 2016, S. 2811–2831