Sorbische Sagenfigur und Schreckgestalt, die auf Einhaltung der mittäglichen Arbeitsruhe
achtet. Die Vorstellung von einem Dämon, der zur Mittagsstunde dem Menschen
erscheint, war schon im Volksglauben der vorchristlichen Zeit verbreitet, worauf
u. a. Psalm 90,6 (bzw. 91,6) des hebräischen Originals der Septuaginta verweist.
In der sorbischen Überlieferung hebt sich die obersorbische připołdnica
bzw. niedersorbische pśezpołdnica – abgeleitet von połdnjo
‘Mittag’ – von anderen weiblichen Dämonen wie der wilden Frau (z. B. „Šćipata
Marata“ [Stichelnde Marata] bei Kubschütz), der Hexe oder dem im Sorbischen
weiblichen Alb (mórawa) und dem Tod (smjertnica) als
festumrissene Spukgestalt mit anthropomorphen Zügen ab. Sie erscheint bei
sengender Mittagshitze als weiß umhüllte, lange, dürre alte Frau und fragt
diejenigen zu Tode, die noch auf dem Feld arbeiten. Ihren Opfern stiehlt sie die
Erinnerung, straft sie mit geistiger Verwirrung und lebenslangem Siechtum oder
schlägt ihnen mit der Sichel den Kopf ab. Allegorisch sagt man über einen
Menschen, der mit seiner Fragerei anderen auf die Nerven geht, obersorb. tón
praša so kaž připołdnica ‘der fragt wie die Mittagsfrau’ bzw. über eine
Frau, die ausgemergelt und ungepflegt aussieht, niedersorb. ta uglěda ak
pśezpołdnica ‘die sieht aus wie die Mittagsfrau’ (→ Phraseologie). In den Sagen überwinden jene die Mittagsfrau, die langsam und mit vielen
Wiederholungen sprechen. Im Unterschied zur Überlieferung von der Kornmuhme in
den benachbarten deutschsprachigen Regionen bestraft sie nicht Kinder, die beim
Spiel das Korn zertreten, sondern vor allem Frauen und Mädchen, die am hohen
Mittag im Flachs arbeiten.
Mittagsfrau, Měrćin Nowak-Njechorński; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Die volkskundlichen Untersuchungen von Wilhelm
Mannhardt (1865) und die Erhebungen für den Atlas für deutsche
Volkskunde (1930–1935) zeigen eine auffällige Konzentration der Sagen über die
Mittagsfrau im sorbischen Sprachraum, besonders in der Umgebung von Bautzen und im Heidegebiet der mittleren
Lausitz. In der Niederlausitz spricht
man auch von der Serpownica, einem Sichelweib, das unabhängig von der
Tageszeit und mit einer an eine Stange gesteckten Sichel (niedersorb. serp)
auftritt. Adolf Černý verweist auf
ähnliche Gestalten bei anderen westslawischen Völkern. Die Mittagsfrau gehört
zusammen mit dem Wassermann und dem
Hausdrachen (obersorb. zmij, niedersorb. plon) zu jenen
Geistern, über deren Erscheinen man noch Mitte des 20. Jh. wie über tatsächliche
Begebenheiten berichtete. Dabei wurden meist persönliche Erlebnisse aus der
älteren Generation wiedergegeben, selten eigene Begegnungen. Die Angst vor
Hitzschlag und Wahnsinn hat in einer Zeit noch mangelnder Aufklärung und
medizinischen Wissens den Volksglauben an die Mittagsfrau bestärkt.
Die Gestalt der Mittagsfrau war häufig Gegenstand der bildkünstlerischen Auseinandersetzung
(Měrćin Nowak-Njechorński,
Maja Nagelowa).
Lit.: A. Černý: Mythiske bytosće łužiskich Serbow, Budyšin 1889; P. Nedo:
Grundriß der sorbischen Volksdichtung, Bautzen 1966; L. Petzoldt: Kleines
Lexikon der Dämonen und Elementargeister, München 32003.