Ausdruck ländlich-bäuerlicher Musikkultur im Gegensatz zum standardisierten
Gesellschaftstanz höfisch-aristokratischer Herkunft. In ritueller oder
geselliger Form über Generationen weitergegeben, erfüllt der Volkstanz im Alltag
und bei Festen des Jahres- oder Lebenszyklus eine gemeinschaftsbildende
Funktion. Seit dem ausgehenden 19. Jh. gilt er als Gemeingut, das durch sog.
Tanzmeister oder Volkstanzgruppen gepflegt wird. Dabei haben sich
unterschiedliche Tanzarten ausgeprägt, die zur Stärkung des nationalen
Bewusstseins beitragen können.
Aufführung des Schustertanzes zur Dresdener Ausstellung des sächsischen Handwerks und Kunstgewerbes, 1896; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Ritueller Brauttanz vor dem Gehöft nach der Trauung, um 1930; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
In der „Historia populi et rituum Lusatiae Superioris“ (um 1720) von Abraham Frencel finden sich erste
Beschreibungen, die sich v. a. auf die Art des Tanzens beziehen. Trotz der
Popularität des Reigens wird hier bereits das kollektive Tanzen in Paaren und
das Zurücktreten der Musik hinter den Tanz geschildert. Karl Gottlob von Anton berichtet 1783 in
ähnlicher Weise, Jan Hórčanski nennt
die Sorben 1782 musikalisch und tanzlustig.
Das Schwenken eines Arms über dem Kopf, fröhliches Rufen und lautes Jauchzen
erwähnt er ebenso wie Frencel. Außerdem beschreibt er ein Trinkritual, mit dem
die Tänzerin umworben wurde, was dem eigentlichen Tanz vorausging. Auch den
Hochzeitstanz und den Lobetanz bezeichnet Hórčanski als Volkstanz der Sorben (→ Hochzeit). In seinen Beobachtungen wird
bereits der Wandel des Tanzrepertoires durch moderne Einflüsse deutlich. So
erfreuten sich auch andere Tänze wie Menuett oder Polonaise wachsender
Beliebtheit. Im frühesten bis heute erhaltenen Notenmaterial, dem Kralschen
Geigenspielbuch, das zwischen 1780 und 1790 als Sammlung eines sorbischen Bauern
und Musikanten entstand und sukzessive vervollständigt wurde, befinden sich u.
a. 44 sorbische Volkstanzlieder. Anhand der Noten und der Beschreibungen wird
erkennbar, dass Spring- und Schreittänze in Reigen- und Paarformationen zum
Repertoire der Sorben gehörten. Der früh dokumentierte Paartanz bildet eine
Besonderheit.
Paartanz beim Zapust in der Niederlausitz, um 1920; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Jan Arnošt Smoler berichtet in den „Pjesnički
hornych a del’nych Łužiskich Serbow = Volkslieder der Wenden in der Ober- und
Nieder-Lausitz“ (1841/43), dass die Sorben nur einen einzigen Nationaltanz
besäßen, der Ähnlichkeiten mit der Polonaise und dem Menuett aufweise. Das Volk
nannte diesen Tanz serbska reja ,sorbischer Tanz’ bzw. deutsch den
„wendischen Tanz“. Er ließ sich nach allen Melodien tanzen, die mit tempo di
menuetto, polacca und serbski bzw. wendisch bezeichnet wurden. Smoler
beschreibt den „wendischen Tanz“ sehr detailliert: Die Vortänzer stehen bei den
Musikanten. Der Tänzer nimmt die Tänzerin bei der rechten Hand, hebt sie hoch
und sie beginnt sich um sich selbst zu drehen. Sie dreht sich weiter, nachdem
der Tänzer sie losgelassen hat. Die Arme sind dabei fest an den Körper gepresst.
Der Tänzer beginnt die Tänzerin mit seinem ganzen Können zu umwerben. Ist die
Tänzerin bereit für den gemeinsamen Tanz, streckt sie die Arme in die Luft, der
Tänzer umfasst ihren Körper und sie tanzen nun zusammen. Alle anderen Tänzer
suchen sich eine Partnerin und beteiligen sich am Tanz, bis die Vortänzer zur
gemeinschaftlichen Tour aufrufen. Die Paare stellen sich einander gegenüber und
beginnen zu chaussieren, bis die Vortänzer wieder zum Paartanz übergehen. Diese
Wechsel finden statt, bis die Musik verklungen ist. Bis heute berufen sich
Tänzer und Tanzforscher auf diese Beschreibung als wichtigste Quelle des
Volkstanzes bei den Sorben.
Mädchen in Hoyerswerdaer Tracht beim Kreistanz, 1921; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Im 19. Jh. wurden Einflüsse neuer Modetänze aus den urbanen Zentren Berlin, Dresden und Prag sichtbar. Der
„wendische Tanz“ war noch lange im Gebrauch, wandelte sich aber durch das
Aufkommen neuer Rundtänze wie Walzer, Galopp, Schottisch usw. in der Ausführung.
Der Gegensatz zwischen Volks- und Gesellschaftstanz, wie er etwa in der
deutschen Kultur besteht, existierte bei den Sorben zunächst nur als Gegensatz
zwischen ländlichem sorbischen Volks- und städtischem deutschen
Gesellschaftstanz. Der Wandel durch Industrialisierung und Modernisierung führte zur Einführung der
städtischen Gesellschaftstänze, aber auch zur staatlichen Kontrolle über den
Volkstanz der ländlichen Gebiete. So setzten sich auf den sorbischen Dörfern
nicht nur öffentliche Tanzabende durch, es folgten auch Tanzregulative, in denen
u. a. Dauer und Häufigkeit von Veranstaltungen geregelt waren. Bis dahin waren
Verbote von Tanz und Tanzmusik in der Lausitz nur sporadisch aufgetreten. In den
Reiseaufzeichnungen der tschechischen Volkskundler Ludvík Kuba und Adolf Černý vom Ende des 19. Jh. finden sich
detailgetreue Tanzbeschreibungen, die bestätigen, dass der sorbische Volkstanz
sowohl durch moderne Gesellschaftstänze als auch durch die sozialen
Rahmenbedingungen beeinflusst oder überlagert wurde.
Schustertanz in Drachhausen, 1957; Fotograf: Jan Rawp, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Um eine Wiederbelebung bzw. Erhaltung des sorbischen Volkstanzes bemühten sich Anfang des 20.
Jh. Bjarnat Krawc und Měranka Lešawic mit ihrer Sammlung „Wjerć
mje pola herca! 15 serbskich ludowych rejow = Dreh’ mich ’rum im Kreise! 15
wendische Volkstänze“ (1930). Beide Autoren hatten in der gesamten Lausitz nach
alten Volkstänzen gesucht und das zugehörige Schrittmaterial durch
Tanzbeschreibungen vervollständigt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in der DDR eine Anzahl von Institutionen mit Interesse an
Pflege und Förderung des Volkstanzes. Das 1952 aus der sorbischen
Laientanzbewegung hervorgegangene Staatliche sorbische Volksensemble für Musik
und Tanz (→ Sorbisches
National-Ensemble) publizierte 1953 „Naše reje“ (Unsere Tänze). Diese
Schrift beruhte auf den Tanzbeschreibungen von Krawc und Lešawic. Durch die
intensive professionelle Beschäftigung mit dem Volkstanz entwickelte sich das
Ensemble zum wichtigsten Träger der sorbischen Tanzfolklore. Für Laiengruppen
veröffentlichte das Haus
für sorbische Volkskunst 1956–1974 die Reihe „Wjesele do rejki“
(Fröhlich zum Tanz) in 22 Heften. Die erste umfassende wissenschaftliche
Übersicht, auf die bis heute zurückgegriffen werden kann, ist die Examensarbeit
von Hanka Elic „Dotalny staw slědźenja
na polu serbskeje ludoweje reje 1700–1945“ (Der bisherige Forschungsstand auf
dem Gebiet des sorbischen Volkstanzes 1700–1945) von 1957. Die Bestandsaufnahme
enthält alte Reiseberichte, Notenmaterial, Tanzbeschreibungen u. a. schriftliche
Quellen. Weitere Grundlagen für die Beschäftigung mit dem Volkstanz finden sich
in „Sorbische Volksmusikanten und Musikinstrumente“ (1963) des sorbischen
Musikforschers und Komponisten Jan
Rawp (→ Musik, → Musikwissenschaft, → Volksmusikinstrumente).
Der Volkstanz wird bei den Sorben heute als Folklore bzw. Bühnenkunst präsentiert
und ist für viele Ausdruck ethnischen Bewusstseins. Zu den häufig praktizierten
Beispielen zählen beim Paartanz „Katyržinka“ (Kathrinchen), „Šewc“
(Schustertanz), „Dwuskokowa“ (Zweisprung) und „Wjerćak“ (Dreher) sowie das von
südslawischen Kreistänzen abgeleitete „Koło“ (Kreis).
Lit.: H. Elle: Dotalny staw slědźenja na polu serbskeje ludoweje reje 1700–1945,
Leipzig 1957 (Examensarbeit); J. Raupp: Sorbische Volksmusikanten und
Musikinstrumente, Bautzen 1963; Z. Jelínková: „Serbska reja“, in: Lětopis C 4
(1959/60); H. Faßke: Der Tanz „Serbska reja“ – einige Aspekte der Form, Funktion
und des Wandels, in: Der ältere Paartanz in Europa. Konferenzbericht, Stockholm
1980; Th. Jacobs: Der Volkstanz der Sorben in Geschichten und Diskursen, Bautzen
2014.