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Lyrika
Christian Prunitsch

Dichtung in Versform, älteste und wichtigste der drei Gattungen in der sorbischen Literatur. Die enge Bindung des dichterischen Worts an Religion und Folklore, die für die sorbische Lyrik bis in die Gegenwart kennzeichnend blieb (→ Volksdichtung, → Kirchenlied, → Volksliteratur), wurde im späten 18. Jh. von Jurij Mjeń anhand einiger Übersetzungen aus Friedrich Gottlieb Klopstocks „Messias“ durch den ästhetischen Eigenwert der Lyrik überwunden. Klassizistische Lyrik pflegten unter den evangelischen Theologiestudenten in Leipzig etwa Handrij Ruška oder Michał Hilbjenc. Den Übergang von der Aufklärung zur Romantik leitete die Lyrik von Rudolf Mjeń ein, der das erhabene Dichtungsverständnis des Klassizismus auf volkstümliche Themen wie den bäuerlichen Jahreslauf ausweitete. Damit ging ein Perspektivenwechsel von der Außen- zur Innensicht auf die literaturfähigen Bereiche menschlichen Lebens einher.

Sorbische Fabeln von Handrij Zejler, 1855; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Die weltliche sorbische Lyrik erreichte in der Dichtung Handrij Zejlers, der als Begründer der sorbischen Literatur gilt, einen ersten Höhepunkt. Zejler verstand sich in „Artikulation der neuen Lebensstimmung des aus sozialer und nationaler Hörigkeit erwachenden Volkes“ (Kito Lorenc) als Volks-Dichter, dessen liedhafte – und vom Komponisten Korla Awgust Kocor häufig vertonte – Gedichte als Gebrauchstexte die sorbische Identität bestätigten. Der begabte, u. a. von Josef Dobrovský unterstützte Autor überschritt damit die sentimentalistische Elegiendichtung seiner Leipziger Kommilitonen Jan Łahoda, Hendrich Awgust Krygar oder Korla Benjamin Hatas und setzte das nachmalige breite Wirkungspotenzial der Lyrik innerhalb der sorbischen Kultur frei. Diesem Beispiel folgend, etablierte sich in den 1840er Jahren in der Oberlausitz eine erste Dichtergeneration, aus der Jan Wjela-Radyserb als der neben Zejler produktivste Poet vor Jakub Bart-Ćišinski herausragte. Von Wjela, der mit seinen Zeitgenossen die Begeisterung für die slawische Wechselseitigkeit teilte, stammen einige bis heute populäre Balladen, die zum Aufbau eines stark mythologisch geprägten sorbischen Geschichtsbilds beitrugen und neben der kurzen Liedform auch längere, strophisch gegliederte Texte als gestalterische Option einführten.

Lyrikreihe „Serbska poezija“, herausgegeben von Kito Lorenc; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Die sorbsche nationale Wiedergeburt gipfelte 1847 in der Gründung der wissenschaftlich-kulturellen Gesellschaft Maćica Serbska. Zugleich gelang um die Mitte des 19. Jh. die Etablierung eines stabilen Pressewesens (→ Zeitungen, → Zeitschriften), sodass Lyrik nicht länger auf das Flugblatt oder die mündliche Verbreitung angewiesen war. Davon profitierte die nächste Dichtergeneration, in der etwa Julius Eduard Wjelan, der auch aus dem Südslawischen übersetzte, zur versöhnlich-harmonischen Tonart die Satire hinzufügte. Daneben trat mit Herta Wićazec die erste sorbische Lyrikerin auf. Sie erkundete weniger den vertrauten Raum sinnlich wahrnehmbarer Diesseitigkeit als die subjektiv erfahrene Sphäre mystischer Transzendenz. Diese beachtliche Differenzierung sorbischer Lyrik wurde ab den 1850er Jahren von Michał Hórnik, einer der Integrationsfiguren sorbischer Kultur, vertieft. Hervorhebung verdienen neben dem originalen Schaffen des vielseitigen Förderers und Vermittlers seine Übertragungen europäischer Lyrik. Über routinierte dichterische Praxis verfügten Korla Awgust Fiedler, Handrij Dučman und Jan Ćěsla; Letzterer hinterließ einige bemerkenswerte Balladen sowie modellbildende intime Lyrik. Von dem früh verstorbenen Michał Bjedrich-Wjeleměr stammt ein melancholisch-elegisches lyrisches Werk.

Die 1870er Jahre markierten in der sorbischen Kultur einen bis weit ins 20. Jh. nachwirkenden Wendepunkt, den ersten evolutionären Wechsel im literarischen System, der von Jakub Bart-Ćišinski herbeigeführt wurde. Sein ironisches Pseudonym („der Stille“) konterkarierte den Aufbruch der als Jungsorbische Bewegung bezeichneten jungen Generation. In seiner eigenen Person vereinte Bart-Ćišinski kampfeslustige Selbstbehauptung mit parnassischem Formwillen. Gegen Zejlers Ästhetik der Identität setzte er eine international beachtete Ästhetik der Opposition, die selbst den damals führenden tschechischen Dichter Jaroslav Vrchlický beeindruckte. Von volkstümlichen Liedern und Moritaten grenzte er sich durch eine an europäischen Maßstäben geschulte form- und stilbewusste Lyrik ab, wie die Vielzahl von Sonetten und anderen klassischen Genres seit den beiden ersten von insgesamt 13 Gedichtbänden, „Kniha sonetow“ (Buch der Sonette, 1884) und „Formy“ (Formen, 1888), bezeugt. Die Neubelebung und Weiterentwicklung sorbischer dichterischer Ausdrucksweisen durch Bart-Ćišinski, der sich als Hórniks einzig legitimen Nachfolger begriff, trug ihm zwar nicht die ungeteilte Zuneigung der Leser, aber doch den Rang als Klassiker der sorbischer Literatur ein.

Was Bart-Ćišinski für die obersorbische Literatur leistete, gelang Mato Kosyk in der niedersorbischen Lyrik, die wegen der ungleich schwierigeren Kommunikation mit ihrem Pendant auf Dauer nicht Schritt halten konnte. Kosyks dichterisches Werk erfasste die religiös überformte Natur der Niederlausitz sowie – nach seiner Emigration in die USA – nordamerikanischer Landschaften. Damit übernahm er nach den eindrucksvollen, aber lange unbekannt und deshalb ohne spürbaren Widerhall gebliebenen Dichtungen Kito Fryco Stempels eine wesentliche Funktion bei der Ausprägung einer niedersorbischen Literatursprache.

Im 20. Jh. standen der sorbischen Lyrik mit Zejlers volkstümlicher und Bart-Ćišinskis moderner Dichtungskonzeption zwei wesentliche Varianten offen. Einen Zwischenweg beschritt Jan Lajnert mit seiner von der Lausitzer Heide inspirierten Naturdichtung. Bart-Ćišinskis pathetische Glorifizierung des Sorbentums als Widerstand gegen den nach 1871 wachsenden Germanisierungsdruck fand Nachahmer in Józef Nowak, der den Symbolvorrat von Mythos und Religion nutzte, und in Jan Skala, der politisch engagierter Rhetorik den Vorzug gab. Kosyks Werk erfuhr in der patriotisch funktionalisierten niedersorbischen Naturdichtung von Mina Witkojc eine konsequente Fortsetzung. Vereinzelt entstand – überwiegend volkstümlich orientierte – niedersorbische Lyrik auch nach Witkojc’ dichterischem Verstummen, so später aus der Feder von Jurij Koch oder Christiana Piniekowa (Pseudonym Lenka).

Stand die sorbische Lyrik insgesamt bis in die Zwischenkriegszeit in der Tradition eines romantischen Dichtungsverständnisses, so eröffnete erst Jakub Lorenc- Zalěski den Prozess der Aneignung symbolistischer Modelle. So integrierte er in seinen poetischen Roman „Kupa zabytych“ (1931, „Die Insel der Vergessenen“, 2000) eine Reihe von Gedichten, die mit den symbolischen Elementen der Handlung korrespondieren. Lorenc-Zalěskis modernistische Versuche wurden im schmalen, aber gewichtigen Œuvre Jurij Chěžkas kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vollendet. Chěžka, dessen Vorbilder besonders im tschechischen Poetismus eines Vítězslav Nezval zu suchen sind, verließ in Gedichten wie „Zelene Zet“ (1937, „Das grüne Zet“, 1998) die vorherrschende referenzielle und meist konkrete Bestimmtheit des lyrischen Zeichens und erschloss eine für die sorbische Lyrik neue, abstrakte Bedeutungsebene. Damit vollzog er den unvollendet gebliebenen Übergang in die autonome Kunstkonzeption der Moderne.

Zweisprachige Edition der Dichtung von Jurij Chěžka, Domowina-Verlag 1971

Eine Zäsur in der sorbischen Kulturgeschichte markierten das Kriegsende 1945 und der Aufbau von kulturellen Institutionen in den ersten Jahren der DDR. Chěžkas nach Maßstäben der frühen sozialistischen Ästhetik „formalistische“ Lyrik blieb dabei zunächst unbeachtet. Das literarische Feld besetzte Jurij Brězan, dessen umfangreiches Werk (überwiegend Prosa) von drei Sammlungen Gebrauchslyrik im euphorischen Duktus der Nachkriegsjahre eröffnet wurde. Als schulmäßig im Wortsinn galt sein – später widerrufenes – staatsbürgerliches Bekenntnis zum Vaterland, das die unterdrückten Sorben in Ostdeutschland sehen sollten: das Poem „Kak wótčinu namakach“ (1950, „Wie ich mein Vaterland fand“, 1954). Mit einem deutschsprachigen Prosa- und Lyrikband bereitete Brězan zugleich den für die sorbische Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jh. konstitutiven Charakter der Zweisprachigkeit vor. Seine Zeitgenossen, so Jurij Wuješ, Jurij Winar (Pseudonym Jurk) oder Jurij Młynk, verzichteten als Gelegenheitslyriker auf diese sprachliche Alternative.

Anthologie sorbischer Lyrik vom 16. Jh. bis zur Gegenwart, Verlag Das Wunderhorn 2004

Fiel mit Bart-Ćišinskis Debütbänden ein erster evolutionärer Wechsel in die 1880er Jahre, so kann der zweite auf die 1960er Jahre datiert werden, in denen mit Kito Lorenc der bedeutendste sorbische Lyriker des 20. Jh. die Abkehr von der sozialistischen Spielart der Lyrik betrieb. Angeregt von Johannes Bobrowskis poetischer Erkundung der Koexistenz unterschiedlicher Nationalkulturen im „sarmatischen Raum“ des deutschen Ostens, erkundete Lorenc, mustergültig mit „Struga“ (1967), als Erster die sorbisch-deutschen kulturellen Beziehungen auf sprachlicher und thematischer Ebene und begriff sie als Chance für einen ästhetischen Neubeginn. Für Lorenc trat der sprachkritische Aspekt solcher Dichtungspraxis ab den 1980er Jahren in den Vordergrund. Gegen die ideologisch beherrschte öffentliche Sprache setzte er das subversive Sprachspiel, das durch seine Mobilität im zweisprachigen Zeichenraum an Substanz gewann. Mit dieser flexiblen Poetik wurde er zum Pionier einer kreativen Umdeutung von Verspätung und Unvollständigkeit in der Entwicklung kleiner Literaturen.

Lorenc leitete in den 1970er Jahren einen Zirkel junger Autoren (→ Schriftstellervereinigungen), deren Schaffen die sorbische Lyrik bis in die 1990er Jahre hinein prägte. Während Beno Budar geschickt die Zejler’sche Tradition der schlichten Form aufnahm, setzte Benedikt Dyrlich auf die dynamisierende Wirkung des Appells in Nachfolge Bart-Ćišinskis, dessen Experimentierfreudigkeit er nachvollzog. Thematisch konzentrierte sich diese ebenfalls zweisprachige Lyrik auf Gesellschaftskritik, die nach dem Ende der DDR konsequent in politische und mediale Beteiligung am öffentlichen Leben mündete.

Lyrik von Kito Lorenc, ausgewählt von Peter Handke, Suhrkamp Verlag 2013

Im tendenziell apolitischen Bereich der Ästhetik verblieb neben Marja Krawcec, die an einem einsprachigen lyrischen Minimalismus arbeitete, namentlich Róža Domašcyna, deren Lyrik die Erschütterungen der deutschen Wiedervereinigung in einen intensiven Dialog mit den Nachbarkulturen überführte. Domašcynas dezidiert weibliche Sicht- und Schreibweise verknüpfte das Naturthema mit der für die sorbische Kultur existenzbedrohenden Devastierung der Lausitzer Landschaft durch den Braunkohlenbergbau sowie mit innovativen erotischen Metaphern. Sprachlich z. T. an Chěžkas Poetik anschließend, erkundete sie sorbisch-deutsche Interferenzen und verborgene Bedeutungspotenziale bis hin zu Versuchen mit einer „Drittsprache“, in der Elemente aus Sorbisch und Deutsch zu einem „Wortall“ verschmolzen wurden. Der experimentell-spielerische Umgang mit der sprachlichen Realität prägte zahlreiche Gedichte. Die Emanzipation lyrischer Sprachverwendung in Form von heiterer Eleganz erreichte bei Domašcyna, die auch ins Sorbische nachdichtet, einen weiteren Höhepunkt. Eigene Wege schlugen Měrana Cušcyna, Pětr Thiemann, Timo Meškank oder Lubina Hajduk-Veljkovićowa ein. Generell ist seit den 1990er Jahren ein hoher Anteil von Frauen an der Lyrikproduktion festzustellen. Die Literatur dürfte, wie in den Jahrhunderten zuvor, gegenwärtig die verlässlichste Zeugin des sprachlichen und ideellen Reichtums sorbischer Kultur sein.

Lit.: A. Černý: Stawizny basnistwa łužiskich Serbow, Budyšin 1910; Serbska čitanka/​Sorbisches Lesebuch, Hg. K. Lorenc, Leipzig 1981; Ch. Piniekowa: Lyrika, in: Přinoški k stawiznam serbskeho pismowstwa 1945–1990, Red. M. Völkel, Budyšin 1994; Ch. Prunitsch: Sorbische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Evolution der Gattung, Bautzen 2001; Das Meer, die Insel, das Schiff. Sorbische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Hg. K. Lorenc, Heidelberg 2004.

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Titel
Lyrika
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Awtor:ka
Prunitsch, Christian
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Prunitsch, Christian
Klucowe słowa
literatura; basnjenje; basnik; basnica; Poesie; Poet; Poetin; Lyriker; Lyrikerin
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Zespominanje

Basnjenje w smužkowej formje, nejstarša a nejwažnjejša z tśich družynow w serbskej literaturje.

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