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Ludowa medicina
Susanne Hose

Volkstümliche Krankheitsvorstellungen und Kenntnisse über Heilmittel und methoden, die bei der ländlichen Bevölkerung teilweise besondere Ausprägung erfahren haben. Volksmedizin ist historisch und literarisch vielfach belegt. Die Übergänge zwischen Volksmedizin und Schulmedizin sind fließend. Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jh., der Durchsetzung hygienischer Standards und der Profilierung des Arztberufs trat eine Abwertung von Volksmedizin als Sammelbezeichnung für „abergläubische“ medizinische Ansichten und Praktiken ein. Ethnografische Studien aus dem 19. Jh. über die Sorben beschreiben deren Schicksalsglauben und einen ritualisierten Umgang mit Krankheit und Tod, dem sich weder Arme noch Reiche entziehen konnten. In Märchen wird der (weibliche) Tod zur Gevatterin gebeten, weil sie im Gegensatz zu Mensch und Herrgott gerecht herrscht. Adäquate Ansichten widerspiegeln die Sprichwörter, in denen ebenso wie in den Sagen Krankheit und Tod in personifizierter Gestalt auftreten. Die Vorstellung, dass Krankheiten durch den Einfluss Verstorbener oder bösgesinnter Menschen entstehen, war weit verbreitet.

Todkranke wurden bis Anfang des 20. Jh. im ländlichen Raum ebenerdig auf frisches Stroh gebettet, um ihnen das Sterben zu erleichtern. Das Verbrennen des Bettstrohs und das Ausräuchern der Stube nach Eintritt des Todes gehörten ebenso wie die schnelle Beerdigung zu den wichtigen Hygienemaßnahmen. Asche und Salpeter dienten als Desinfektionsmittel. Um sich bei der Krankenpflege nicht anzustecken, kaute man Wacholderbeeren. Beschrieben werden Lungenschwindsucht, Wassersucht und Diphtherie oder Fieber und Scharlach, besonders gefürchtet waren die Geistes- und Gemütskrankheiten sowie die zła chorosć ,böse Krankheit’ – die Epilepsie. Herkunft und Verbreitung von Seuchen (Cholera, Typhus, Influenza, Viehpest) wurden mit der mythischen Gestalt der Mór erklärt, einer in der Nähe menschlicher Siedlungen umhergehenden, weiß umhüllten blassen Frau, oder aber einer weißen Wolke, die sich über die Dörfer legt. Um „verpestete“ Luft zu säubern, räucherte man die Häuser mit Alant, Wacholder und Weihrauch aus. Adolf Černý nennt in seiner Sagensammlung „Mythiske bytosće“ (Mythische Wesen, 1898) Tees aus Baldrian, Sumpfgarbe und Heilziest als Hausmittel gegen die Pest.

Illustration aus der Sammlung von Wilibald von Schulenburg, 1882; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Der Verwendung von Heilpflanzen bei Mensch und Tier lagen über Generationen überlieferte Erfahrungen zugrunde. Die Literatur führt Schäfer und Kräuterkundige (obersorb. zelowa žona, zelowy muž ,Kräuterfrau, -mann’) an, die sich am besten mit den heilenden Wirkstoffen der heimischen Pflanzen und ihren jeweiligen Erntezeiten auskannten und sie zu Aufgüssen, Badezusätzen oder Kompressen, in Salben und Pudern verarbeiteten. Ihr Wissen schlug sich auch in den Ende des 16. Jh. erscheinenden Herbarien und Pflanzenbüchern nieder. Der niedersorbische Pfarrer und Astrologe Albin Moller veröffentlichte 1582 ein Verzeichnis von 240 „Namen der vornembsten Artzney-Kreuter in lateinischer, deutscher und wendischer Sprache“. 1594 erschien der weitaus umfangreichere „Hortus Lusatiae“ des bis 1600 in Kamenz und dann in Bautzen wirkenden Arztes Johannes Franke, ein Buch, das die gesamte Pflanzenwelt der Lausitz enthält und den Einfluss der „Signaturenlehre“ von Theophrastus Paracelsus erkennen lässt, d. h. der Lehre von der Analogie zwischen der äußeren Gestalt der Pflanze, ihrer Farbe, ihres Geruchs oder Sekrets und dem medizinischen Anwendungsbereich. So soll z. B. Schöllkraut bei Gallenleiden aufgrund seines gelben Pflanzensafts helfen, Löwenzahn bei Erkrankungen der Nieren und Harnwege aufgrund seines röhrenartigen Blütenstängels.

Hohe Achtung bei der bäuerlichen Bevölkerung genossen die sog. mudri ludźo (,kluge Leute’), die auf dem Land noch bis in die 1930er Jahre meist eher zu Rate gezogen wurden als Ärzte. In der „Lausitzischen Monatsschrift“ von 1793 wurde die fehlende Ausbildung bei „wendischen Landbademüttern“ in der Niederlausitz bemängelt, die bei schweren Geburten eher auf fragwürdige Mittel zurückgreifen als einen Arzt herbeiholen würden. In der Oberlausitz hatten die Landstände 1782 eine Übersetzung des Lehrbuchs über Geburtshilfe des Kamenzer Arztes Johann Gotthelf Herzog „Unterricht vor Hebammen auf dem Lande“ (1780) ins Sorbische besorgt. Außer Hebammen und Leichenfrauen praktizierten Bader (obersorb. łazeńk, niedersorb. łaznik, auch badaŕ), die u. a. Zähne zogen, Schröpfköpfe setzten (obersorb. kórki stajić, niedersorb. kłonki stajaś) und zur Ader ließen, Ziehmänner (obersorb. runar, niedersorb. rownaŕ), die chiropraktische Behandlungen ausführten, sowie Heiler (obersorb. hojer, niedersorb. auch guslowar ,Zauberer’) bzw. Besprechfrauen (obersorb. zaprajerka, niedersorb. zagranjaŕka). Bei ihnen vermischten sich traditionelle heilkundliche Kenntnisse, handwerkliche Fähigkeiten und besondere Gaben mit manchmal dubiosen Praktiken. Karl Gander rückt die „Geheimwissenschaft kluger Männer und Frauen“ (1896), die ihr Berufswissen lediglich in der Familie weitergaben, in die Nähe der Zauberei. In der Regel besaß jeder Heiler Spezialfähigkeiten; der eine verstand sich auf das Stillen von Blut, der andere linderte Verbrennungen oder kurierte das Vieh. Die Behandlung durfte weder bezahlt noch anderen im Detail berichtet werden, weil sie dann nicht half. Großen Zuspruch fand das Besprechen, d. h. das Heilen mit der Magie der Worte, verbunden mit kultischen Handlungen wie Anhauchen, Bespeien, Bekreuzen, Handauflegen, Salben, Besprengen usw. Heilung versprach man sich bei der Behandlung der Gesichts- und Gürtelrose, von Ausschlägen und Auswüchsen, Warzen und Gerstenkörnern, von Rheuma, Koliken oder Grauem Star. Weithin bekannt waren die Heilerfolge der Besprechfrau Hana Marja Iseltowa aus Ruhetal bei Guttau.

Tote Vögel an der Stalltür als Schutzmittel vor Hexen, Feuer und Blitzschlag in der Niederlausitz, um 1930; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Die Anwendung von magischen Formeln, mit denen die Menschen ihre Umwelt – besonders hinsichtlich der Vertreibung von Krankheiten – positiv zu beeinflussen versuchten, lässt sich schon in frühen Hochkulturen nachweisen. Dazu gehört das Gesundbeten, das im Glauben an das krankmachende wie heilende Wirken übernatürlicher Kräfte wurzelt und als eine spezifisch christliche Form des Besprechens gilt (vgl. Jakobusbrief im Neuen Testament, Jak 5,13–16). Besondere Bedeutung für die katholische Bevölkerung haben bis heute religiös motivierte Handlungen wie etwa die Krankensegnung, der Exorzismus, das Pilgern an Wallfahrtsorte oder das Beichten. Traditionell erbitten Pilger bei „Unserer Lieben Frau in Rosenthal“, einer Madonnenstatue mit Kind aus Lindenholz, Fürsprache vor allem bei Augenleiden und Unfruchtbarkeit. Der Quelle neben der Rosenthaler Kirche sagt man heilende Wirkung nach. (→ katholische Region) Volkstümliche Heilmethoden bieten bis heute in vielen Fällen Alternativen zur modernen Medizin. Der Gang zum „Ziehmann“ bedeutet nichts Ungewöhnliches. Über die Arbeitsweise von Geistheilern berichtet Christel Lehmann-Enders.

Im Mittelpunkt des volkskundlichen Interesses standen zunächst die Zaubersprüche. Carly Seyfarth hatte in seinem Beitrag über „Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens“ (1913) das Gebiet der Sorben explizit ausklammert, wenngleich zu dieser Zeit schon Sammlungen vorlagen. Die von Hendrich Jordan (1877) und Wilibald von Schulenburg (1882) in der Niederlausitz, von Arnošt Muka (1907, 1909) in den Heidedörfern der preußischen Oberlausitz und von Ota Wićaz (1934) im Hoyerswerdaer Land aufgezeichneten Besprechformeln und Zauberpraktiken belegen die starke Vermischung von volksmedizinischen Vorstellungen, christlicher Frömmigkeit und Dämonenglauben. Pawoł Nedo widmete den Zaubersprüchen eine kurze Abhandlung im „Grundriß der sorbischen Volksdichtung“ (1966). Izolda Gardošowa sammelte einige Informationen über „kluge Leute“ in Groß Partwitz.

Im Zuge der Neuorientierung des Fachs Volkskunde seit den 1970er Jahren ist auch der Begriff Volksmedizin hinterfragt worden. Seine enge Bindung an die Schulmedizin ist problematisch, da die klinische Betrachtung von Krankheit bzw. Gesundheit auf der Untersuchung physiologischer Vorgänge beruht und den weiteren kulturellen Kontext, wozu etwa ethische und rechtliche Aspekte gehören, aber auch Fragen der Religiosität, Spiritualität und des magischen Denkens, Erfahrungen, Werte und Meinungen bis hin zu konkreten sozialen Beziehungen, nicht berücksichtigt. Gegenwärtige Tendenzen der Rückbesinnung auf das überlieferte Heilwissen dürften in Verbindung mit einer als hilflos erlebten Schulmedizin stehen.

Lit.: E. Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche, Graz 1880; W. v. Schulenburg: Wendisches Volkstum in Sage, Brauch und Sitte, 3. Aufl., Bautzen 1993; K. Gander: Zu dem Kapitel der Volksheilkunde, in: Niederlausitzer Mitteilungen 4 (1896); Th. Schütze: Über die Benennung und volksmedizinische Verwendung von Pflanzen im sorbischen Gebiet, in: Lětopis C 4 (1959/60); Groß Partwitz. Wandlungen eines Lausitzer Heidedorfes, Bautzen 1976; E. Wolff: „Volksmedizin“ – Abschied auf Raten. Vom definitorischen zum heuristischen Begriffsverständnis, in: Zeitschrift für Volkskunde 94 (1998) 2; C. Lehmann-Enders: Was die schwarze Kuh scheißt, das nimm. Vom Aberglauben, Heilen und Besprechen im Spreewald, Lübben 2001.

Metadaty

Titel
Ludowa medicina
Titel
Ludowa medicina
Awtor:ka
Hose, Susanne
Awtor:ka
Hose, Susanne
Klucowe słowa
Magie; chórosć; alternative Medizin; Heilpraktiken; Ziehmann; Hebamme; Volksglaube; Aberglaube; Kräuterfrau; Gesundheit
Klucowe słowa
Magie; chórosć; alternative Medizin; Heilpraktiken; Ziehmann; Hebamme; Volksglaube; Aberglaube; Kräuterfrau; Gesundheit
Zespominanje

Ludowe pśedstajenja wó chórosćach a znaśa wó gójadłach a gójeńskich metodach, ako su na jsy pó źělach wósebne formy wuwili. Etnografiske studije ze 19. stolěśa wó Serbach wopisuju jich wěru do wósuda a ritualizěrowany wobchad z chórosću a smjerśu, kótarejž njejsu se mógli daniž chude daniž bogate wuwinuś.

Zespominanje

Ludowe pśedstajenja wó chórosćach a znaśa wó gójadłach a gójeńskich metodach, ako su na jsy pó źělach wósebne formy wuwili. Etnografiske studije ze 19. stolěśa wó Serbach wopisuju jich wěru do wósuda a ritualizěrowany wobchad z chórosću a smjerśu, kótarejž njejsu se mógli daniž chude daniž bogate wuwinuś.

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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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