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Folklore
by Ines Keller

Wissenschaft zur Erforschung und Beschreibung sowohl der Alltags- und Festkultur als auch der Lebensweise und der damit verbundenen Transformationsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart. In Anlehnung an tschechische Vorbilder wurden im 19. Jh. für die sorbische Volkskunde die Begriffe narodopis oder etnografija verwendet, erst im 20. Jh. setzte sich ludowěda als Bezeichnung für das Fach durch. In der Geschichte der sorbische Volkskunde lassen sich mehrere Perioden unterscheiden: a) die – eher sporadische – Sammlung geistiger Volkskultur, b) die systematische Erforschung der geistigen und materiellen Volkskultur und Lebensweise, c) die Einbindung der Volkskunde in die allgemeine Kulturforschung. Das Interesse an volkskundlicher Tätigkeit nahm Mitte des 19. Jh. mit der Bildung der Nationalstaaten zu. Wie andere europäische Völker versuchten sich die Sorben ethnisch zu definieren, wobei sie sich auf Sprache und Kultur konzentrierten. Zentrum dieser Bemühungen war die 1847 gegründete wissenschaftliche Gesellschaft Maćica Serbska, wo volkskundliche Fragen in der Sektion Altertümer (ab 1856) behandelt wurden.

Der evangelische Geistliche und Historiograf Abraham Frencel berichtete erstmals ausführlich über die Lebensweise seiner Landsleute: Die um 1720 entstandene „Historia populi et rituum Lusatiae Superioris“ enthält Beobachtungen zu Kleidung, Sitten und Bräuchen, zum Arbeitsverhalten und Rechtswesen der Sorben in der Oberlausitz. Vertreter der Aufklärung bemühten sich um ein vorurteilsfreies Sorbenbild. Der Lehrer Jan Hórčanski beschrieb die Lebensart der östlich von Bautzen lebenden Sorben („Von den Sitten und Gebräuchen der heutigen Wenden“, 1782), Michael Conrad ergänzte die Studie mit einem Beitrag über die Lebensweise der evangelischen Sorben um Kamenz (1783). Der Jurist Karl Gottlob von Anton erkundete frühe Geschichte, Kulturen und Sprachen der slawischen Völker, besonders der Sorben. Im Zeichen der Romantik wurden im 19. Jh. v. a. Volkslieder, Märchen, Sagen, Sprichwörter und Rätsel aufgezeichnet. Jan Arnošt Smoler gab zusammen mit Leopold Haupt die Sammlung „Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz“ (1841/43) heraus; mit ihrem volkskundlichen Anhang und der statistisch-geografischen Beschreibung beider Lausitzen bot sie erstmals Einblick in die Lebensweise der sorbischen Bevölkerung, die damals ländlich-bäuerlich und patriarchalisch geprägt war.

Volkskundliche Abhandlung über sorbische Bräuche von Jan Hórčanski, 1782; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Ende des 19. Jh. bestimmte Arnošt Muka die sorbische volkskundliche Forschung. Seine Statistik der Lausitzer Sorben (1884–1886), die als Antwort auf Richard Andrees „Wendische Wanderstudien“ (1874) gedacht war, enthält sowohl exakte Angaben über Dichte und Grenzen des Siedlungsgebiets als auch Beschreibungen des Alltagslebens in den Dörfern. Anlässlich der Ausstellung des Sächsischen Handwerks und Kunstgewerbes in Dresden 1896 war Muka an der Konzeption und Errichtung des „Wendischen Dorfes“ beteiligt. Dessen Exponate bildeten den Grundstock des Wendischen Museums in Bautzen. Programmatische Vorstellungen über die Aufgaben volkskundlicher Forschung verband Muka in der Maćica Serbska mit der Etablierung einer eigenen Sektion Volkskunde („narodopis“). Sein Arbeitsprogramm von 1898 forderte die Sammlung von Gütern der materiellen und geistigen Volkskultur, dazu Bemühungen um deren Erhaltung oder Wiederbelebung. Von tschechischer Seite widmete sich Ludvík Kuba v. a. der Musikfolklore, Adolf Černý forschte zur Volksarchitektur, zu Hochzeitsbrauchtum (→ Hochzeit), Volksliedern und Sagen. Der deutsche Volkskundler Wilibald von Schulenburg notierte Sagen, Sitten, Bräuche und Glaubensvorstellungen (1880, 1882), der Lehrer Ewald Müller historische und zeitgenössische Volkskultur (1894) der Sorben in der Niederlausitz. Der Volkswirt und Sozialwissenschaftler Robert Wuttke publizierte in der „Sächsischen Volkskunde“ über Volksdichtung, Bräuche und Trachten der Sorben in der Oberlausitz (1901). In der Zwischenkriegszeit verglich der deutsche Slawist Edmund Schneeweis die Bräuche der Sorben im Lebens-, Jahres- und Arbeitslauf mit denen anderer slawischer Völker („Feste und Volksbräuche der Lausitzer Wenden“, 1931), Friedrich Sieber sammelte Sagen (1925, 1931), von sorbischer Seite erschien die erste monografische Studie über die sorbische katholische Tracht von Maks Rječka (1936). Der Tscheche Josef Páta gab einen ersten Überblick zur volkskundlichen Fachgeschichte (1932).

Albrecht Lange bei Feldforschungen in Groß Partwitz, 1969; Fotografin: Alexandra Dallmann, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut Bautzen

1951 formulierte Pawoł Nedo die künftigen Aufgaben der sorbischen Volkskunde, wobei er sich an der sowjetischen Ethnografie orientierte. Bis Mitte der 1950er Jahre standen Bestandsaufnahme und Inventarisierung der Trachten, Volksbauweise und landwirtschaftlichen Geräte im Mittelpunkt. In den 1960er Jahren erfolgten – parallel zur zehnbändigen Dokumentation „Sorbische Volkstrachten“ – synthetische Darstellungen zu Volksmusik (→ Volksmusikanten, → Volksmusikinstrumente) und Volksdichtung, zu Volkskunst, Bräuchen und zum Museumswesen. Daneben richtete sich die Forschung auf soziokulturelle Gegenwartsprozesse. Laut Nedo, der die Volkskunde zeitweise an den Universitäten Leipzig und Berlin vertrat und gemeinsam mit Wolfgang Steinitz maßgeblich zu ihrer Profilierung beitrug, sollte sich die Disziplin, unter Einbeziehung soziologischer Methoden, mit der Lebensweise und den kulturellen Leistungen der Menschen in der Geschichte beschäftigen. Der soziale Strukturwandel und die kulturellen Veränderungen eines Ortes vom 17. Jh. bis zur Abbaggerung Ende der 1960er Jahre wurden im Buch „Groß Partwitz. Wandlungen eines Lausitzer Heidedorfes“ (Bautzen 1976) von Wissenschaftlern des Instituts für sorbische Volksforschung interdisziplinär untersucht. Seit den 1970er Jahren richtete sich das Augenmerk auf aktuelle Untersuchungen zur Alltags- und Festkultur in der Lausitz. Die Region wurde 1987 mit dem Projekt „Komplexe Gegenwartsforschung zur Kultur und Lebensweise in zweisprachigen Dörfern“ einer empirischen Untersuchung unterzogen.

Interdisziplinäre Bestandsaufnahme von Groß Partwitz vor der Ortsdevastierung, 1976, Domowina-Verlag Bautzen

Nach 1990 erfuhr die sorbische Volkskunde eine Neuprofilierung, knüpfte aber an Fachtraditionen an. So bestehen heute neben vergleichender Minderheitenforschung am Sorbischen Institut thematische Schwerpunkte bei Ethnizität, Identität und Religiosität, bei Brauch-, Volkstanz- und Erzählforschung; Kultur und Alltag werden dabei auch in hybridologischer und soziopsychologischer Perspektive untersucht.

Lit.: E. Muka: Program narodopisneho wotrjada Maćicy Serbskeje, in: Časopis Maćicy Serbskeje (1900); P. Nedo: Přehlad stawiznow serbskeje ludowědy, in: Lětopis C 1 (1953); F. Förster: Ethnographische Forschungen zur Vergangenheit und Gegenwart, in: 30 Jahre Institut für sorbische Volksforschung. 1951–1981, Bautzen 1981; L. Elle: Sorbische Kultur und ihre Rezipienten. Ergebnisse einer ethnosoziologischen Befragung, Bautzen 1992; K. Köstlin: Sorbische Kulturforschung im europäischen Rahmen, in: Lětopis 40 (1993) 2.

Metadata

Title
Folklore
Title
Folklore
Author
Keller, Ines
Author
Keller, Ines
Keywords
West Slavs; Cultural Studies; Minority comprehensive research; Ethnology; Ethnographer
Keywords
West Slavs; Cultural Studies; Minority comprehensive research; Ethnology; Ethnographer
Abstract

Science for research and description of everyday- and festive culture, as well as lifestyle and related transformation processes in the past and present. In line with Czech role models, in the 19th century, the terms narodopis or etnografija were used for the Sorbian ethnography (or folklore); only in the 20th century gained the term “ludowěda” prominence as a designation for the subject.

Abstract

Science for research and description of everyday- and festive culture, as well as lifestyle and related transformation processes in the past and present. In line with Czech role models, in the 19th century, the terms narodopis or etnografija were used for the Sorbian ethnography (or folklore); only in the 20th century gained the term “ludowěda” prominence as a designation for the subject.

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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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