Sprachpolitisches Konzept, dessen Ziel die sprachliche Reinheit ist und das v. a.
auf Schriftsprachen angewandt wird; es ist typisch für bi- und multilinguale
Sprachgemeinschaften und speziell für Minderheitensprachen, die Schutz vor dem
Einfluss der dominanten Kontaktsprache(n) suchen.
Puristische Tendenzen im Sorbischen sind nachweisbar im Bemühen der Maćica Serbska
um Stärkung des ethnischen Bewusstseins seit Mitte des 19. Jh. (→ Wiedergeburt, nationale).
Gravierende gesellschaftliche Veränderungen im 19. und 20. Jh. (bes. nach 1945
und 1989) führten zu einem Domänenausbau der sorbischen Schriftsprachen, d. h.
zur Erschließung neuer Themenbereiche, womit die Schaffung neuer lexikalischer
Mittel verbunden war (→ Wortschatz).
Obersorbisch: Der in mehreren Phasen auftretende Sprachpurismus war
auf die Entfernung bzw. Vermeidung meist deutscher Elemente und Strukturen
ausgerichtet. Im 19. Jh. wurden zahlreiche Slawismen als Ersatz für ältere
deutsche Lehnwörter aufgenommen, die sich fest einbürgerten (obersorb.
lazować > čitać ,lesen‘ aus tschechisch čitati,
polnisch czytać; obersorb. štunda > hodźina ,Stunde‘
aus tschechisch hodina, polnisch godzina; obersorb.
lóft > powětr ,Luft‘ aus polnisch powietrze).
Auch komplexe Benennungen und Hybridkomposita, vormals geduldet und akzeptiert,
wurden nun durch eigene Bildungen (do grunta hić ,zu Grunde gehen‘ >
zahinyć; narodny dźeń ,Geburtstag‘ > narodniny;
hawptměsto ,Hauptstadt‘ > hłowne město) oder Slawismen
ersetzt (hóstny dom ,Gasthaus‘ > hosćenc aus tschechisch
hostinec, polnisch gościniec). Durch die Akzeptanz von
Fremdwörtern bzw. deren Bevorzugung gegenüber deutschen Lehnwörtern auch in der
obersorbischen Schriftsprache der Gegenwart entfernen sich Volks- und
Schriftsprache immer weiter voneinander.
Křesćan Bohuwěr Pful; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Beim Sprachpurismus muss zwischen den Wörterbüchern und dem
tatsächlichen Sprachgebrauch unterschieden werden. So bestand ein Unterschied
zwischen sprachlichem Usus und dem in Nachschlagewerken kodifizierten
Wortschatz. Das erste lexikografische Werk mit erkennbaren puristischen Zügen
war Jan Arnošt Smolers
„Deutsch-Wendisches Wörterbuch“ (1843), in dem Germanismen mit einem Sternchen
gekennzeichnet waren. Auch Křesćan Bohuwěr
Pful war in seinem Wörterbuch (1866) um gewisse Reinheit der
Sprache bemüht und ersetzte Germanismen durch Slawismen, v. a. aus dem
Tschechischen. Internationalismen wurden noch zu Beginn des 20. Jh. in
Wörterbüchern gemieden (vgl. Filip
Rězak 1920, Jurij Kral
1927 bzw. 1931) und stattdessen Neubildungen aufgenommen, die sich aber
größtenteils nicht durchsetzen konnten, z. B. hibak ,Motor‘ (später
motor), widźinar ,Idealist‘ (später
idealist), płódna kupa ,Oase‘ (später oaza).
Versuche, Internationalismen durch Neubildungen zu verdrängen, hatten auch nach 1945 wenig
Erfolg. Aktuelle Wörterbücher bieten bei Fremdwörtern Dubletten an (z. B.
joggować, běhać unter dem Stichwort ,joggen‘),
Hybridkomposita (joggingwoblek ,Jogginganzug‘) werden oft als
umgangssprachlich markiert.
Niedersorbisch: Im Niedersorbischen war der
Sprachpurismus stets geringer ausgeprägt. In der Geschichte der niedersorbischen
Schriftsprache können drei Grundtendenzen festgestellt werden: Slawisierung des
schriftsprachlichen Wortschatzes und Verdrängung von deutschen Elementen (seit
dem letzten Drittel des 19. Jh.), Entlehnung obersorbischer Wörter und teilweise
Angleichung an das Obersorbische (insbesondere nach
1945) und schließlich eine gegenläufige Entwicklung, d. h. Liberalisierung der
niedersorbischen Schriftsprache, was sich u. a. in einer Akzeptanz deutscher
Lehnwörter äußert (seit den 1970er Jahren).
Seit Mitte des 19. Jh. wurden einzelne deutsche Lehnwörter und Lehnübersetzungen durch
indigene Wortbildungen (paršona > wósoba ,Person‘),
Neubildungen (wegweizaŕ > drogownik ,Wegweiser‘) oder
obersorbische Lehnwörter (bonhof > dwórnišćo ,Bahnhof‘)
ersetzt. Für die letztgenannte Möglichkeit plädierte Jan Bjedrich Tešnaŕ in seinem
programmatischen Aufsatz „Serbske słowa serbskim wutšobam“ (Wendische Worte für
wendische Herzen, 1853). Der Versuch, Internationalismen durch eigene
Neubildungen zu ersetzen, fand nur teilweise Zustimmung
(internacionalny > mjazynarodny, aber für balkon
hat sich pśedwokno nicht durchgesetzt). Passivkonstruktionen, in denen
das deutsche Lehnwort wordowaś als Hilfsverb fungiert (wóno wordujo
naspomnjete ,es wird erwähnt‘), wurden weitgehend durch andere
Konstruktionen ausgetauscht. Damit schlug die Schriftsprache im Vergleich zu den
Dialekten einen anderen Weg ein,
der schließlich zu einer Diskrepanz zwischen Schrift- und Volkssprache
führte.
Eine verstärkte Slawisierung des niedersorbischen Wortschatzes mit dem Ziel einer Annäherung
an das Obersorbische führte nach 1945 zur Änderung der lexikalischen Norm in der
niedersorbischen Schriftsprache. Spätestens seit den 1970er Jahren verzichteten
ihre Träger jedoch auf eine weitere Slawisierung, man orientierte sich nun eher
an der Volkssprache. Diese Tendenz wurde durch die niedersorbische
Sprachkommission (→ Sprachpolitik) seit den 1980er
Jahren unterstützt, z. B. durch konkrete Vorschläge, wie obersorbische
Lehnwörter durch niedersorbische Bildungen oder ältere deutsche Lehnwörter
ersetzt werden könnten, z. B. kejźbowaś > glědaś na něco
,achten auf etwas‘, sewjer > pódpołnoc ,Norden‘. Dubletten
wurden zugelassen, z. B. dožywiś > dožywiś, dolabowaś
,erleben‘, tysac > tysac, towzynt ,tausend‘.
Sprachpuristisches Plakat, um 1950; Sorbisches Kulturarchiv am
Sorbischen Institut
Der Sprachpurismus ist für das Sorbische gut erforscht, namentlich auf
lexikalischer Ebene, für das Obersorbische u. a. von Gerald Stone (1968), Helmut Jenč (1999); für das Niedersorbische
von Manfred Starosta (1999), Anja Pohončowa (2002); einzelne grammatische
Erscheinungen behandelten Ronald
Lötzsch (1968, 1998) für das Obersorbische und Hauke Bartels (2006, 2008) für das
Niedersorbische.
Lit.: G. Stone: Der Purismus in der Entwicklung des Wortschatzes der
obersorbischen Schriftsprache, in: Beiträge zur sorbischen Sprachwissenschaft,
Red. H. Faßke/R. Lötzsch, Bautzen 1968; R. Lötzsch: Einige Auswirkungen des
Purismus auf die grammatische Normierung slawischer Schriftsprachen, in:
Sorabistiske přinoški k VI. mjezynarodnemu kongresej slawistow w Praze 1968,
Bautzen 1968; A. Pohontsch: Der Einfluss obersorbischer Lexik auf die
niedersorbische Schriftsprache, Bautzen 2002; H. Bartels: Konkurrierende
Passivkonstruktionen in der niedersorbischen Schriftsprache. Ein Beispiel für
Sprachwandel und Purismus, in: Deutsche Beiträge zum 14. Internationalen
Slavistenkongress Ohrid 2008, Hg. S. Kempgen u. a., München 2008.