Streben nach politischer Eigenständigkeit und kultureller Selbstverwaltung zwecks
Erhalts von Sprache und Kultur, bei den Sorben oft als Reaktion auf
assimilatorischen Druck von außen (→ Assimilation). Sorbische
Autonomiebestrebungen wurden getragen von der Nationalbewegung. Deren Ziel bestand
darin, auf regionaler und überregionaler Ebene Rahmenbedingungen für die
Bewahrung des sorbischen Volkes zu schaffen. Autonomiekonzepte wurden v. a. in
Phasen historischer Zuspitzung, so in bzw. nach Kriegen, Krisen und
gesellschaftlichen Umbrüchen, entwickelt. Dies betraf speziell die Zäsuren
1918/19 (→ Weimarer Republik) und 1945–1948,
z. T. auch 1989/90 (→ politische
Wende).
Bestimmte Autonomiebestrebungen zielten darauf, die Belange der Sorben per Erlass oder Gesetz
zu regeln. Die Notwendigkeit ergab sich daraus, dass die herrschenden Kreise in
Sachsen und Preußen im 19. Jh. die sorbische Sprache und Kultur zumindest dem
„Selbstlauf“ zu überlassen suchten. Der wachsende polnische Widerstand gegen die
Minderheitenpolitik des
Kaiserreichs schärfte bei den betreffenden staatlichen Stellen auch den Blick
für die Sorbenfrage in der Lausitz,
die wiederholt mit dem von Russland ausgehenden Panslawismus in Verbindung gebracht wurde.
Nun forcierten besonders die Schulbehörden ihre Aktivitäten, „die Reste des
Wendentums ihrem Ende entgegen“ zu führen (→ Schule). Sie wiesen die sorbischen
Lehrer in der Niederlausitz an,
„kein Volkstum“ zu pflegen. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und
die Chance auf Selbstbestimmung der Völker nutzten Vertreter der Sorben, um das
Recht auf Anwendung und Pflege ihrer Muttersprache einzufordern. Sie stießen
jedoch auf Ablehnung, denn die Nachkriegsentwicklung war von nationalistischen
Tendenzen begleitet, die auch zum Aufleben von Vorurteilen führten. Gleichzeitig
sahen viele Deutsche in den Forderungen der Sorben mögliche Einflüsse der
ungeliebten tschechischen und polnischen Nachbarn und witterten Gefahr für den
ohnehin geschwächten Staat.
Nach dem Krieg kam es zur Radikalisierung nationaler Forderungen der Sorben, die aber – im
Vergleich etwa zu den Basken – nie gewaltsam verfolgt wurden. Der im November
1918 gegründete Wendische Nationalausschuss – ein von sorbischen Intellektuellen
gebildetes und mit Vertretern der Domowina besetztes politisches Gremium – strebte eine kirchliche,
schulische, wirtschaftliche und politische Selbstverwaltung und kulturelle
Selbstständigkeit an. Die Grundlage dafür sollte die verwaltungsmäßige
Vereinigung der von Sorben bewohnten Gebiete in der Ober-- und Niederlausitz bilden (→ Siedlungsgebiet). Dies ging
zeitweilig einher mit dem Wunsch nach einem eigenen Staat, der in letzter
Konsequenz der Ende 1918 neu entstandenen Tschechoslowakei als autonomes Gebiet
angeschlossen werden sollte. Der Anstoß dazu kam von Adolf Černý in Prag. Noch während der Friedenskonferenz
von Versailles distanzierte sich der
Nationalausschuss von diesem Ansinnen. Allerdings hatten seine Aktivitäten als
Gegenströmung die Bewegung sachsentreuer Wenden hervorgerufen. Dabei handelte es
sich v. a. um Intellektuelle evangelischen Glaubens, die jegliche Kritik an der
Obrigkeit zurückwiesen und vor einer zu starken Betonung des Sorbischen warnten.
Ihre Vertreter stellten das Autonomiekonzept grundsätzlich infrage, griffen
jedoch einzelne Forderungen des Nationalausschusses auf, so z. B. nach Erhalt
des sorbischen Schulunterrichts. Dies fand im sächsischen Übergangsgesetz für
das Volksschulwesen vom 22.7.1919 Niederschlag. Die Regelung für die Sorben in
Sachsen war durch den Artikel 113 der Weimarer Verfassung (→ Weimarer Republik)
erleichtert worden, der vorsah, die „fremdsprachigen Volksteile des Reichs (…)
durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen
Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht,
sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege“ zu beeinträchtigen.
Allerdings erließ der Staat keine der dafür nötigen Durchführungsbestimmungen.
1920 löste sich der Nationalausschuss auf, nachdem es ihm mit dem Wendischen
Bund v. a. in Sachsen gelungen war, Vereinigungen unter den Sorben zu gründen
bzw. zu erneuern. Darunter war die Lausitzer, später Wendische Volkspartei, die an die
Forderung des Nationalausschusses anknüpfte, das gemischtnationale Territorium
der Ober- und Niederlausitz zu einer selbstständigen Provinz zusammenzufassen.
1935 griff auch die Domowina den Wunsch nach einer Gebietsreform auf, bei der
beide Lausitzen zur Verwaltungseinheit „Reichsgau Lausitz“ vereinigt werden
sollten, um einheitliche rechtliche Bestimmungen für die Sorben zu ermöglichen.
Diese Bestrebungen blieben jedoch ohne Erfolg.
Nach 1945 brachten Vertreter der Sorben das uneingelöste Autonomiekonzept erneut
ins Gespräch. Die Pläne des in Prag neu gebildeten Sorbischen
Nationalausschusses, der für einige Monate gemeinsam mit der Domowina einen
Nationalrat als exekutive Instanz schuf und eng mit tschechischen Politikern
zusammenarbeitete, reichten wiederum vom Anschluss der Lausitz an die
Tschechoslowakei bis zur Errichtung eines unabhängigen sorbischen Staates. Auch
von polnischer Seite wurden Angebote unterbreitet, die auf eine separatistische
Lösung der Sorbenfrage abzielten. Der schließlich von der Domowina verfolgte Weg
der Unterstützung politischer und sozialer Reformen in der Sowjetischen
Besatzungszone/DDR trug den Machtverhältnissen Rechnung und sollte die Lösung
der Sorbenfrage in den Ländern Sachsen und Brandenburg befördern.
Politische Karte der Lausitz, Anlage zum Memorandum des
Lausitzisch-sorbischen Nationalrats an die Moskauer Außenministerkonferenz vom
10.3.1947; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Beeinflusst von der Idee der slawischen Wechselseitigkeit, unterwarf sich die Domowina im
Unterschied zum Nationalausschuss den Anweisungen der Besatzungsmacht und suchte
die Zusammenarbeit mit den deutschen Parteien, darunter der SED. Letztere war es
auch, die die Domowina bei der Regelung der sorbischen Belange in Sachsen aktiv
unterstützte. Ergebnis der Annäherung, die nicht konfliktfrei verlief, war das
am 23.3.1948 vom Sächsischen Landtag verabschiedete Gesetz zur Wahrung der
Rechte der sorbischen Bevölkerung (→ Sorbengesetze), das zwei Jahre später durch eine Verordnung auch in
Brandenburg in Kraft trat. Diese Regelungen, komplettiert durch die Verfassung
der DDR von 1949 (Art. 11), billigten der sorbischen Bevölkerung erstmals
staatlichen Schutz und Förderung zu, was sich auf Bildung und Kultur, auf
Wissenschaft und regionale Verwaltung erstreckte. Bereits im März 1949 hatte die
sächsische Landesregierung der Domowina den Status einer Körperschaft
öffentlichen Rechts verliehen. Sie war damit als alleinige Interessenvertretung
der Sorben anerkannt und den anderen sog. Massenorganisationen im Prinzip
gleichgestellt. Fortan blieb die sorbische Frage ein „innerdeutsches Problem“.
Allerdings wurde in den 1950er Jahren und erneut 1989/90 die Idee einer
verwaltungsmäßig „einigen Lausitz“ – bei Zusammenlegung der von Sorben bewohnten
Gebiete – geäußert, sie fand jedoch bei der deutschen und auch der sorbischen
Bevölkerung, besonders in der Niederlausitz, kaum Resonanz. Seit 1989/90 gibt es
Bemühungen der Domowina, den Handlungsspielraum speziell im Schulwesen in
Richtung einer kulturellen Autonomie zu erweitern (→ Sprachenpolitik, → Witaj-Modellprojekt).
Die Autonomiebestrebungen der Sorben wurden von der Minderheitenpolitik des
jeweiligen deutschen Staates beeinflusst, was sich unmittelbar auf das
deutsch-sorbische Verhältnis in den Lausitzen auswirkte. Keine der beiden Seiten
verfügte über ein einheitliches Konzept. Es gab unter den Sorben voneinander
abweichende und einander ausschließende Auffassungen und Programmvorstellungen,
so 1918/19 zwischen dem Wendischen Nationalausschuss und der Bewegung
sachsentreuer Wenden oder ab Ende 1945 zwischen der Domowina und dem Sorbischen
Nationalrat bzw. Nationalausschuss. Später setzte sich Pragmatismus innerhalb
der Nationalbewegung durch. Bestrebungen der Sorben um Autonomie und
Eigenständigkeit wurden von deutscher Seite stets beargwöhnt. Besonders nach dem
Ersten Weltkrieg wuchs ein tiefes Misstrauen, das bis in die DDR-Zeit nachwirkte. Trotz einer pragmatischen
Haltung bei der Lösung der sorbischen Frage wurden auch nach 1949 berechtigte
Forderungen der Domowina nach kultureller Autonomie immer wieder mit
Nationalismus und Separatismus in Verbindung gebracht. Dies war u. a. eine von
der SED angewandte Methode, um Kritik an der DDR-Minderheitenpolitik
kontrollieren und letztlich unterbinden zu können.
Lit.: F. W. Remes: Die Sorbenfrage 1918/19. Untersuchung einer gescheiterten
Autonomiebewegung, Bautzen 1993; P. Schurmann: Die sorbische Bewegung 1945–1948
zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung, Bautzen 1998; M. Kasper: Die
Lausitzer Sorben in der Wende 1989/1990. Ein Abriss mit Dokumenten und einer
Chronik, Bautzen 2000; Zwischen Zwang und Beistand. Deutsche Politik gegenüber
den Sorben vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Hg. E. Pech/D. Scholze,
Bautzen 2003.