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Proza
Tomasz Derlatka

Gattung der Literatur, die Texte in ungebundener Schreib- oder Redeweise umfasst. Die Anfänge der sorbischen Prosa reichen weit in die Vergangenheit zurück, Sagen, Märchen, Anekdoten u. a. Überlieferungen bilden einen wesentlichen Teil der mündlichen Volksdichtung.

Originäre sorbische Prosa entstand erstmals im frühen 19. Jh., als der Bauer und Autodidakt Hanso Nepila aus Rohne ca. 30 autobiografische Handschriften in Tagebuchform anfertigte (wovon fünf erhalten sind; → Schleifer Dialekt). Sie waren jedoch lange unzugänglich und beeinflussten spätere Schreiber daher nicht. Schöpferische Impulse gingen hingegen von Übersetzungen aus. Ursprung der Belletristik ist ein weit verstandenes religiöses Schrifttum aus dem 18./19. Jh., wozu damals die Bibelübersetzung, sorbische Versionen deutschsprachiger Volksliteratur und nacherzählte christliche Legendenlieder (meist Apokryphen und Heiligenviten) gehörten. Die 1786 publizierte erste sorbische Erzählung „Krótka powěsć wot teho chudeho Jozefa“ (Kurze Sage vom armen Joseph) sowie ähnliche Versuche waren keine originalen Schöpfungen, sondern entweder Übertragungen oder Übernahmen von Motiven aus unbekannten deutschen Ausgangstexten.

Erzählung über die Schlacht bei Hochkirch von Jan Wjela-Radyserb, 1852

Ausgaben sorbischer Prosa; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Der eigentliche Beginn der Gattung ist verbunden mit Handrij Zejler. Sein Prosaschaffen im 19. Jh. beschränkte sich jedoch auf Kunstmärchen und Fabeln, weshalb als erster sorbischer Erzähler Jan Wjela-Radyserb gilt. Neben kurzen literarischen Formen folkloristischer Natur (z. B. Balladen) edierte er 1847 die erste Sammlung sorbischer Erzählungen „Pojdancżka k wobudźenju a k poljepschenju wutroby sa Sserbow“ (Erzählungen zur Erweckung und Erbauung der Herzen für die Sorben); weitere Versuche betrafen vornehmlich historische Themen. Wjelas Prosa wurde zum Vorbild für andere sorbische Autoren und bewirkte analoge Bemühungen. Im dritten Viertel des 19. Jh. setzte eine rasche Entwicklung ein, die Prosa erreichte ihren ersten Höhepunkt. Zwischen 1847 und 1860 entstanden über 30 meist originale Texte (von Michał Domaška, Mikławš Jacsławk u. a.), die fast alle in Buchform herausgegeben wurden. Die nachfolgende Stagnation suchte Jakub Bart-Ćišinski mit seinem Kurzroman „Narodowc a wotrodźenc“ (Patriot und Renegat, 1878/79) zu überwinden. Bis zur Jahrhundertwende wurden weitere Versuche unternommen, allerdings kam es zu keinem kontinuierlichen Ausbau der Gattung. Zu Beginn des 20. Jh. bestimmten Mikławš Andricki und Michał Nawka die sorbische Prosa thematisch und formal. Der eine bediente mit publizistischem Einschlag als Erster das Genre des Feuilletons, später schrieb er realitätsnahe Skizzen und lyrische Reflexionen über das Leben auf dem Dorf. Der andere war Vertreter eines „volkstümlichen Stils“ in Form und Inhalt, was damals eine ästhetische Neuerung bedeutete. Neben beiden steht Jurij Winger, der mit „Hronow“ (1893) erstmals einen kurzen historischen Text vorlegte.

In der Zwischenkriegszeit erfuhr die Prosa einen Aufschwung. Das höchste Niveau erreichten die Arbeiten Jakub Lorenc-Zalěskis. Auf die Erzählung „Serbscy rjekowje“ (Sorbische Helden, 1900, 1922) über die Abwehrkämpfe der Sorben im 10. Jh. und die märchenhaft-romantische Novelle „Kifko“ (1926–1928) folgte das literarisch-philosophische Prosapoem „Kupa zabytych“ (1931, „Die Insel der Vergessenen“, 2000), das „merkwürdigste Buch, das je in sorbischer Sprache erschien“ (Ota Wićaz). Das autobiografische Romanprojekt „W putach wosuda“ (In den Fesseln des Schicksals, 1933–1936) blieb Fragment. Im Schatten von Lorenc-Zalěski wirkten die Autoren Romuald Mikławš Domaška und Mikławš Bjedrich-Radlubin. Ersterer machte sich zwischen 1926 und 1936 um das historische Genre verdient, Letzterer verlieh seinen humoristischen Skizzen sprachlich-stilistischen Glanz. In dieselbe Periode fallen die Debüts jüngerer Schriftsteller. Zu den Erzählungen „Wusadny“ (Der Aussätzige, 1922/23) von Marja Kubašec und „Stary Šymko“ (1924, „Der alte Šymko“, 1961) von Jan Skala – einer der besten Novellen in der sorbischen Literatur – trat die umfangreiche dokumentarische Prosa des Grafikers Měrćin Nowak-Njechorński. Er gab dem Reisebericht eine zeitgemäße Gestalt, in den 1930er Jahren erfuhren seine satirischen Texte (besonders Kunstmärchen und Fabeln) größere Resonanz. Bis zum Verbot sorbischer Publikationen 1937 (→ NS-Zeit) entwickelte sich die Prosa stabil, blieb aber hinter der Lyrik quantitativ und qualitativ zurück. Grundlagen für eine umfassende Entfaltung der Gattung nach 1945 waren jedoch gelegt.

Suhrkamp-Ausgabe von Jurij Brězans erstem Krabat-Roman, 2004

In den ersten 20 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehr sorbische belletristische Werke veröffentlicht als in der gesamten Zeit von der nationalen Wiedergeburt Mitte des 19. Jh. bis 1937. Nun dominierte die Prosa erstmals gegenüber der Lyrik. Sie wurde dabei von der Kulturpolitik entschieden gefördert. Diese Unterstützung kam v. a. dem Roman zugute, der in der sorbischen Literatur neu war. Vor dem Krieg hatte es den Roman praktisch nicht gegeben, denn neben den Begrenzungen einer „Kleinliteratur“ war die sorbische Prosa vom „exogenen Determinismus“ betroffen (d. h. der Abhängigkeit der Literaturentwicklung von äußeren Faktoren), was eine Dominanz der kleinen Formen bewirkte. Wie z. T. in der Periode zuvor erlangten bei der beschleunigten Entfaltung der Prosa – v. a. von 1945 bis 1970 – Übersetzungen aus der Weltliteratur erneut eine inspirierende Funktion.

Die Hauptthemen der sorbischen Prosa nach 1945 lassen sich kurz zusammenfassen. Neben einer verblassenden, u. a. von Richard Iselt fortgesetzten sentimentalen Traditionslinie treten drei Stoffbereiche in Konkurrenz zueinander: Krieg, Geschichte und Gegenwart, d. h. die Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen und ökonomischen Veränderungen. Beispiele für die Abrechnung mit der Kriegszeit waren etwa Marja Kubašec’ Erzählungen aus dem Band „Row w serbskej holi“ (1949, „Das Grab in der Heide“, 1990) sowie zwei Romane Anton Nawkas: „Pod wopačnej łopaću“ (Unter falschem Spaten, 1961) und „Pod wopačnej flintu“ (Unter falscher Flinte, 1964). Als diese Welle Mitte der 1970er Jahre abebbte, rückten historische Themen ins Zentrum, wie sie schon im 19. Jh. vorgeherrscht hatten. Ben Budar verfasste 1955/56 zwei längere Erzählungen, Jurij Wjela 1968 den Mikroroman aus den Hussitenkriegen „Pětr z Přišec“ (Peter von Preischwitz). Den Wunsch der Literaturkritik nach einem großen Epos über das 18. bzw. 19. Jh. erfüllte Kubašec mit der Trilogie „Bosćij Serbin“ (1963, 1964, 1967) sowie dem Zyklus „Lěto wulkich wohenjow“ (Das Jahr der großen Brände, 1970) und „Nalětnje wětry“ (Frühlingswind, 1978).

Finnische Ausgabe sorbischer Prosa „Der blinde Buchhändler“, übersetzt von Eero Balk, 2010

Zum auffälligsten Themenkreis wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jh. die realsozialistische Gegenwart. Zu verzeichnen war ein weites Spektrum – von Jurij Brězans Romanfragment „MAS“ (1949) über schematische Werke der 1950er und 1960er Jahre bis zu Křesćan Krawc’ Bauernroman „Wočakńmy nalěćo“ (1989, „Meine Braut, deine Braut?“, 1990). Forderungen nach positiver Darstellung der Industrialisierung, der Kollektivierung der Landwirtschaft oder der gesellschaftlichen Umgestaltung in den Nachbarländern kamen mehrere Autoren nach. Brězan edierte in Berlin (Ost) das erste deutschsprachige Buch eines sorbischen Autors (Erzählungen und Gedichte mit dem Titel „Auf dem Rain wächst Korn“, 1951), mit seiner autobiografisch angelegten Felix-Hanusch-Trilogie (1958–1964) etablierte er den sozialistischen Realismus in der sorbischen Prosa. In Reportagen und Feuilletons dokumentierte Nowak-Njechorński kontinuierlich das Leben auf dem Dorf. Zwei Gegenwartsromane publizierte Jurij Koch („Mjez sydom mostami“, Zwischen sieben Brücken, 1968 und „Róžamarja abo Rozžohnowanje we nas“, Rosemarie oder Verabschiedung in uns, 1975). Zum Ereignis, das sich kaum in die genannten Schemata einordnen ließ, wurde der Roman „Dny w dalinje“ (1968, „Tage in der Ferne“, 2003); Marja Młynkowa bildete darin die Vor- und Nachkriegszeit ab. Auf formaler Ebene nutzte sie intensiv Skaz (russischer Erzählstil) und schuf ein eindringliches psychologisches Abbild der Hauptfigur, eines sorbischen Lehrers vor 1945.

Allmählich nahm das Lob der Industrialisierung, wie es z. B. Nowak-Njechorński praktizierte, ab. Ende der 1960er und besonders in den 1970er Jahren kam es zu einer Neuorientierung, die sich hauptsächlich in zwei Erscheinungen äußerte: 1. in der Erkenntnis der negativen Auswirkungen, wie sie die Betonung von „industriellen“ Themen und die Abkehr von „volkstümlichen“ Stoffen mit sich brachten; 2. im Eintritt einer jüngeren Generation in die sorbische Literatur, was eine ästhetische Veränderung bedeutete. Es erfolgte eine künstlerische Transformation folkloristischer Genres und Motive, am sichtbarsten wohl in Brězans „Krabat“-Stoff: „Čorny młyn“ (1968, „Die Schwarze Mühle“, 1968), „Krabat“ (1976, „Krabat oder Die Verwandlung der Welt“, 1976) und „Krabat. Druha kniha“ (1994, „Krabat oder Die Bewahrung der Welt“, 1995) bilden als Ganzes ein episches Panorama, das eine realgeschichtlich-national-folkloristische und eine mythisch-philosophisch-universelle Ebene besitzt. Die beiden „Krabat“-Romane zählen zu den wegweisenden Werken der sorbischen Prosa. Den Reichtum der Folklore nutzte Jurij Koch in einigen Erzählungen der Textsammlung „Wosamoćeny Nepomuk“ (1978, „Der einsame Nepomuk“, 1980) sowie in der Novelle „Wišnina“ (1984, „Der Kirschbaum“, 1984). Weitere seiner Texte, vornehmlich Reportagen und Feuilletons, veranschaulichten das wachsende Gewicht der Umweltproblematik in der DDR. Um Kito Lorenc, der den Nachwuchs förderte, scharte sich in den 1970er Jahren eine Gruppe von Autoren, unter denen in der Prosa Angela Stachowa herausragte. Viele ihrer Erzählungen beweisen eine Weiterentwicklung der Form – z. B. „Dótknjenje“ (1980, „Die Berührung“, 1981); inhaltlich überwogen Alltagsprobleme, woran Jüngere nach 1989 anknüpfen konnten. Im Gattungsgefüge nahmen in den 1970er und 1980er Jahren die großen epischen Formen zugunsten einer Kurzprosa ab, zu deren editorischem Äquivalent in regelmäßigen Abständen die Anthologie wurde – und zwar für ober- und niedersorbische Autoren gleichermaßen. Im Vorfeld der politischen Wende von 1989/90 erfuhr die Erzähltechnik des ausgesprochenen Monologs einen spürbaren Zuspruch. Sie bevorzugte Beno Budar in seinen authentischen Sammlungen „Mjez nami prajene“ (Unter uns gesagt, 1989) und „Tež ja mějach zbožo“ (Auch ich hatte Glück, 2005), ebenso Jurij Krawža in dem Abrechnungsroman „Wałporny woheń“ (1990, „Die verlorenen Söhne“, 1991).

Hörbuch „Kupa zabytych“ von Jakub Lorenz-Zalěski, Domowina-Verlag 2011

Vor dem Hintergrund der sorbischen Literaturverhältnisse weist die Prosa nach 1989 einige charakteristische Merkmale auf. Kennzeichnend sind eine sinkende Produktivität sowie wachsende Unterschiede in der künstlerischen Qualität; die Professionalität nahm dabei – auch aufgrund neuer ökonomischer Erfordernisse nach der deutschen Wiedervereinigung – ab. Der Rückgang betraf vornehmlich den Roman, den nach 1989 neben Brězan „Salowčenjo“ (1997, „Die Leute von Salow“, 1997), „Die grüne Eidechse“ (2001) nur noch K. Krawc mit seiner Familiengeschichte „Paradiz“ (2009, „Das Ende vom Paradies“, 2013) pflegte. Ein weiteres Attribut der neuen Zeit war die Dominanz junger Autorinnen in der Kurzprosa. Hier etablierten sich in den Jahren nach der Wende Měrka Mětowa, Kerstin Młynkec, Jěwa-Marja Čornakec, Dorothea Šołćina und Lubina Hajduk-Veljkovićowa. Letztere legte 2006 mit „Pawčina złósće“ (Netz des Bösen) den ersten zeitgenössischen Krimi vor.

Markante Symptome der sorbischen Prosa seit ihrer Entstehung sind ein Hang zur Didaktik sowie zur „Authentizität“, d. h. der häufige Rückgriff auf (auto)biografisches Geschehen. In struktureller Hinsicht funktioniert die Gattung eindeutig „national“. Räumlich ist sie geprägt durch die Bindung der Handlung an das „reale“ Siedlungsgebiet des sorbischen Volkes, die Lausitz; die allermeisten Werke spielen im ländlichen Milieu und die Hauptgestalt ist meist ein Sorbe, der vom Autor tendenziell idealisiert wird.

Lit.: R. Jenč: Stawizny serbskeho pismowstwa, Bde. 1 u. 2, Budyšin 1954, 1960; J. Młynk: Předsłowo, in: J. Młynk: Marja abo Wjelk w kralowskej holi, Budyšin 1964; L. Hajnec: Proza přerosće zwučene rumy, in: Přinoški k stawiznam serbskeho pismowstwa lět 1945–1990, Red. M. Völkel, Budyšin 1994; D. Scholze: Stawizny serbskeho pismowstwa 1918–1945, Budyšin 1998; T. Derlatka: K stawej wuwića serbskeje prozy, in: Sorabistiske přednoški III, Budyšin 2003.

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Proza
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Derlatka, Tomasz
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literatura; powědančko; roman
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Žanr literatury, kotryž wopřimuje teksty w njewjazanym pisanskim abo rěčenskim wašnju. Spočatki serbskeje prozy sahaja daloko do zańdźenosće; powěsće, bajki, anekdoty a dalše traděrowane wobsahi tworja bytostny dźěl ertneho ludoweho basnistwa.

Žanr literatury, kotryž wopřimuje teksty w njewjazanym pisanskim abo rěčenskim wašnju. Spočatki serbskeje prozy sahaja daloko do zańdźenosće; powěsće, bajki, anekdoty a dalše traděrowane wobsahi tworja bytostny dźěl ertneho ludoweho basnistwa.

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