Wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur, insbesondere ihrer
Geschichte, Struktur und Funktion. Der relativ späten Entfaltung eines
sorbischen schöngeistigen Schrifttums im 18. Jh. entspricht eine – z. B.
gegenüber der Sprachwissenschaft – kürzere literaturwissenschaftliche
Forschungstradition.
Die sorbische Literaturwissenschaft vor dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in drei
Perioden einteilen: 1. bio- und bibliografische Verzeichnisse sorbischer
Schriften mit Quellencharakter; 2. literaturhistorische Einzeluntersuchungen und
informative Übersichten; 3. wertende Interpretationen und erste
Gesamtdarstellungen.
Am Beginn der Literaturgeschichtsschreibung standen Vertreter der deutschen Aufklärung wie
Georg Körner
(„Philologisch-kritische Abhandlung“, 1766) und Christian Knauthe („Derer Oberlausitzer Sorberwenden
umständliche Kirchengeschichte“, 1767), die in ihren Studien sorbischsprachige
Publikationen registrierten und kommentierten. In gesamtslawischen Synthesen
berücksichtigten der Slowake Pavol Jozef
Šafárik (1826) und der Russe Aleksandr N. Pypin (1879/81) – Letzterer übertragen und ergänzt
von Jan Bohuwěr Pjech (1884) – auch
die Literaturentwicklung in der Lausitz. Als erster Sorbe sammelte Korla Awgust Jenč zur Zeit der Romantik
planmäßig Daten über evangelische Autoren und ihre Werke in der Ober- und Niederlausitz mehrfach „Přehlad serbskeho pismowstwa“
(Übersicht des sorbischen Schrifttums, im „Časopis Maćicy Serbskeje“ 1855–1881);
auf katholischer Seite leistete dies Handrij
Dučman (ebd. 1867). Die Fortsetzung solcher Aktivitäten sicherte
ab 1918 Jakub Wjacsławk mit der
„Wendischen (Sorbischen) Bibliographie“ (1929, 1952) (→ Bibliografie). Eine
erste Werkausgabe für den Nationaldichter Handrij
Zejler besorgte der junge Arnošt
Muka (4 Bände, 1883–1991).
Ota Wićaz; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Zu Beginn des 20. Jh. schrieb Jakub Bart-Ćišinski
auf Anregung Mukas eine aktuelle Darstellung der „Literatur der Lausitzer
Serben“ in Deutsch (1904); ihm folgte der Tscheche Adolf Černý mit einem sorbischsprachigen
historischen Überblick „Stawizny basnistwa łužiskich Serbow“ (Geschichte der
Dichtung der Lausitzer Sorben, 1908–1910). Produktivster Literaturhistoriker und
-kritiker war der Lehrer und Redakteur Ota
Wićaz, der sich u. a. der Volksliteratur, der sorbischen
Romantik sowie dem Begründer der sorbischen Literatur („Handrij Zejler a jeho
doba“, Handrij Zejler und seine Epoche, 1955) widmete. Neben ihm leistete der
Tscheche Josef Páta Vorarbeiten für
eine deskriptive Synthese der sorbischsprachigen Literatur („Zawod do studija
serbskeho pismowstwa“, Einführung in das Studium des sorbischen Schrifttums,
1929), wie sie der Pole Józef Gołąbek
dann als Erster vorlegte („Literatura serbsko-łużycka“, 1938). Der Tscheche
Antonín Frinta in Prag erarbeitete den faktenreichen
Überblick „Lužičtí Srbové a jejich písemnictví“ (1955), worin er die
sorbisch-tschechischen Kontakte betonte (→ slawische
Wechselseitigkeit).
Bereits 1894 hatte Muka für die sorbische Literaturwissenschaft ein umfassendes Programm
formuliert: „Darstellung der Geschichte des sorbischen Schrifttums sowie
Erarbeitung von Biographien sorbischer Schriftsteller, Fortführung der
sorbischen Bibliographie, literaturkritische Beiträge zur neuesten sorbischen
Literatur, Beschreibung von Funden älterer Schriftdenkmale, Erforschung der
Gesetze der sorbischen Metrik und Prosodie“. Wesentliche Teile daraus wurden
verwirklicht, als die Sorabistik 1951 in die Phase ihrer
Institutionalisierung trat (→ Sorbisches Institut, → Institut für Sorabistik). Angeregt durch den Bedarf der
Volksbildung, verfasste Rudolf Jenč
zwei Bände der historischen Synthese „Stawizny serbskeho pismowstwa“ (Geschichte
des sorbischen Schrifttums, 1954, 1960), die die sorbische Literatur von den
Anfängen bis 1918 beschreiben und erläutern, wie sie „aus den ökonomischen,
sozialen und kulturellen Verhältnissen entstanden ist und wie von diesen
Verhältnissen Inhalt, Form und Umfang des Schrifttums geprägt worden sind“
(Pawoł Nowotny). Das
genetisch-sozialgeschichtliche Konzept galt auch für die beiden
Fortsetzungsbände, die schließlich in den 1990er Jahren erschienen: von
Dietrich Scholze über die Zeit
1918–1945 (1998) und von einem achtköpfigen Autorenteam unter Leitung von
Měrćin Völkel für die Jahre
1945–1990 (1994). Der gesamte Zyklus beruht auf dem traditionell weiten
Gegenstandsbegriff „Schrifttum“.
Erste Ausgabe gesammelter Werke Handrij Zejlers, 1883–1891;
Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Während Literaturgeschichte einen Prozess konstituiert, erfordern Autor oder Werk die
ästhetische Analyse zu einem konkreten Zeitpunkt. Die stets kleine Gruppe von
Spezialisten an den sorabistischen Instituten nach 1945 konnte hierbei nur
ausgewählte Themen behandeln. In den 1950er Jahren erarbeitete Nowotny eine
Monografie über das „nationale Programm“ im literarischen Schaffen von
Bart-Ćišinski (1960) und Jurij Młynk
über die Ideen in der Prosa von Jakub
Lorenc-Zalěski (1962); Frido
Mětšk erforschte später den niedersorbischen Lyriker Mato Kosyk (1985). Hinzu kamen Lebensbilder
u. a. von Mikławš Bjedrich-Radlubin
(Alfons Frencl, 1984) und
Marja Kubašec (Trudla Malinkowa, 1990). Nach der
abgebrochenen Quellenedition „Pomniki serbskeho pismowstwa“ (Denkmale des
sorbische Schrifttums, sechs Bände, 1957–1969) begannen in den 1960er Jahren die
kulturpolitisch geförderten Werkausgaben klassischer sorbischer Autoren beim Domowina-Verlag (Handrij
Zejler, herausgegeben von Lucija
Hajnec, sieben Bände, 1972–1996; Jakub Bart-Ćišinski,
zusammengestellt von Pětr Malink, 14
Bände, 1971–1985; Mato Kosyk, herausgegeben von Pětš Janaš und Roland
Marti, neun Bände, 2000–2017). Zuvor waren frühe originale
Aufzeichnungen als „Sorbische Sprachdenkmäler. 16.–18. Jahrhundert“ (Heinz Schuster-Šewc, 1967) erschienen. Das
Erbeverständnis der jeweiligen Phase bezeugten mustergültig edierte Projekte wie
die Reihe „Serbska poezija“ (herausgegeben von Kito Lorenc seit 1973), das zweisprachige „Sorbische
Lesebuch/Serbska čitanka“ (herausgegeben von Lorenc 1981) oder „Die Sorbische
Bibliothek“ (seit 2000).
Der sorbischen Literaturwissenschaft ist seit jeher ein kritischer und
erzieherischer Zug eigen, der vom pragmatisch-funktionalen Auftrag zur
Literaturvermittlung in der Muttersprache herrührt. Bis Ende des 19. Jh.
unterschieden sich Geschichte und Kritik kaum. Letztere diente in den
Kulturzusammenhängen vorrangig der Information (meist getrennt nach
evangelischer und katholischer Provenienz); v. a. nationale Inhalte wurden
hervorgehoben. Von der Jungsorbischen Bewegung eingeführte kritische Elemente (von
Bart-Ćišinski bis Michał Nawka) wurden
in der Zwischenkriegszeit nicht aufgenommen. Nach 1945 waren die Vorgaben der
DDR-Kulturpolitik umzusetzen, dafür bürgten u. a. Werkdiskussionen im
Arbeitskreis sorbischer Schriftsteller und regelmäßige Weiterbildungen seines
Kritikeraktivs (→ Schriftstellervereinigungen). Die Besprechungen in Printmedien, deren
Quantität und Qualität stark schwankten, konzentrierten sich auf
Neuerscheinungen; auf Literaturkritik spezialisierte sich als Erste Marja Młynkowa, deren Rezensionen aus den
1960er Jahren gesammelt vorliegen (1973).
Gesammelte Werke von Handrij Zejler, Jakub Bart-Ćišinski und
Mato Kosyk; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Analyse und Interpretation der Werke erfolgten zunehmend in breitem kulturellem Kontext, was
sich nach 1990 in einigen gattungsgeschichtlichen Untersuchungen niederschlug:
bei Christian Prunitsch zur Lyrik
(„Sorbische Lyrik des 20. Jh.“, 2001), bei Młynk/Scholze zur Dramatik („Stawizny serbskeho dźiwadła
1862–2002“, Geschichte des sorbischen Theaters, 2003), bei Tomasz Derlatka zur
Erzählprosa (2007). Die typologischen und Kontaktbeziehungen zur deutschen, zu
slawischen sowie „Kleinliteraturen“ im Rahmen einer weit verstandenen
Kulturwissenschaft bilden hier ein produktives Potenzial. Trotz sichtbarer
Ansätze bleibt die systematische Erforschung der sorbischen Literatur und ihrer
Rezeption weiterhin Desiderat; Textkritik ist ebenso rar wie epochen- oder
generationsgeschichtliche Studien, eine sorbische Verslehre existiert bisher
nicht. Zu führenden Autorinnen und Autoren des 20. Jh. (z. B. Mina Witkojc, Jurij Brězan, Jurij
Chěžka, Marja Młynkowa, Kito Lorenc, Róža Domašcyna) fehlen monografische
Abhandlungen. Die Trennung in obersorbische und niedersorbische Literatur erwies
sich weniger als theoretisches, denn vielmehr als praktisches Erfordernis, dem
die Literaturwissenschaft zunehmend zu entsprechen suchte (Mětšk, Nowotny,
Christiana Piniekowa). Als neue
Themen wurden u. a. die Zweisprachigkeit und das
Frauenbild erschlossen. Gegenüber der dominanten Innenperspektive wurde nach der
politischen Wende die
„Außensicht“ der deutschen Slawistik auf die Literatur der Sorben gestärkt (u.
a. durch Walter Koschmal, Roland
Marti, Ludger Udolph). Zur Erkenntnis
der Besonderheiten in der literarischen Evolution haben nicht sorbische Forscher
mit ihren jeweiligen Methoden wesentlich beigetragen (u. a. Peter Barker, Aleksandr A. Gugnin, Wolodymyr A.
Motornyj, Józef
Magnuszewski, Rafał
Leszczyński, Josef
Vlášek, Helena
Filipová-Ulbrechtová).
Lit.: P. Nowotny: Entwicklung, Stand und Aufgaben der sorbischen Literaturwissenschaft, in:
Lětopis A 8 (1961); F. Šěn: Literarna wědomosć, in: Přinoški k stawiznam
serbskeho pismowstwa lět 1945–1990, Red. M. Völkel, Bautzen 1994; M. Völkel:
Literarna kritika, in: Ebd.; R. Leszczyński: Krytyka literacka i nauka o
literaturze (łużycka), in: Literatury zachodniosłowiańskie czasu przełomów
1890–1990, Red. H. Janaszek-Ivaničková, Band 1, Katowice 1994; W. Zeil:
Sorabistik in Deutschland. Eine wissenschaftsgeschichtliche Bilanz aus fünf
Jahrhunderten, Bautzen 1996; D. Scholze: Prolegomena zu einer Synthese des
sorbischen Schrifttums, in: Práce z dějin slavistiky, Prag 20 (1998); Ch.
Prunitsch: Ideologie und Theorie in der Sorabistik, in: Zeitschrift für
Slawistik 44 (1999); T. Derlatka: Sorbische Literaturwissenschaft zwischen Ost
und West, in: Germanoslavica, Praha 22 (2011) 2.