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Sorben
von Dietrich Scholze

Westslawisches Volk in der Ober- und Niederlausitz, das im Deutschen frĂŒher meist „Wenden“ genannt wurde (z. T. auch „Sorbenwenden“ oder „Lausitzer Serben“); in der Niederlausitz heute offiziell „Sorben/​Wenden“. Es bezeichnet sich selbst durch das Ethnonym obersorbisch Serbja bzw. niedersorbisch Serby, im Singular jeweils Serb.

Als gegen Ende der Völkerwanderung germanische Völker (u. a. Burgunder, Hermunduren) den Raum östlich von Elbe und Saale verlassen hatten, rĂŒckten vermutlich nach 600 slawische StĂ€mme aus dem Karpatenvorland in das Gebiet zwischen Ostsee und Erzgebirge nach (Germania Slavica). Wie die weiter nördlich siedelnden Obodriten, Lutizen, Drawehnopolaben oder Pomoranen rechnet man auch die sĂŒdlich wohnenden sorbischen StĂ€mme meist zu den Elbslawen (→ Besiedlung). Die Vorfahren der heutigen Lausitzer Sorben, die vom Bayerischen Geographen im 9. Jh. erstmals erwĂ€hnten Lusizer und Milzener, scheinen aus Territorien östlich ihres spĂ€teren Siedlungsgebiets in die Nieder- und Oberlausitz gekommen zu sein – bei Letzteren gibt es auch andere Ansichten. Nach Auffassung zahlreicher Historiker und ArchĂ€ologen (u. a. Karlheinz Blaschke, Joachim Herrmann) bezog sich der Name der Sorben zunĂ€chst auf einige KernstĂ€mme, die zwischen Saale und Mulde siedelten und 631 in der Chronik des Fredegar als „Surbi“ erstmals genannt wurden. Erst im Laufe des frĂŒhen Mittelalters sei infolge zunehmender Verkehrsbeziehungen das Ethnonym auf die anderen altsorbischen StĂ€mme, darunter Lusizer und Milzener, ĂŒbertragen worden. Diese These stĂŒtzt sich auf archĂ€ologische Funde z. B. von Bestattungsriten (→ Totenkult, vorchristlicher), auf Keramikformen und Siedlungsbauten sowie auf Erkenntnisse der slawistischen Namenkunde.

Dagegen vertritt der sorbische Sprachwissenschaftler Hinc Schuster-Ć ewc die Auffassung, dass die Einwanderungsgeschichte zumindest der Milzener nicht von den ĂŒbrigen altsorbischen StĂ€mmen getrennt werden könne. Auch sie seien nördlich der Karpaten aufgebrochen, anschließend ĂŒber das Böhmische Becken gewandert und von dort in die Oberlausitz gelangt. Schuster-Ć ewc beruft sich dabei auf die Chronik des Cosmas von Prag (verfasst 1119–1125), in der sich der Name „Sorben“ auch auf die spĂ€teren Lausitzer Bewohner bezieht, v. a. aber auf die lautliche Entwicklung des Stammesnamens Surb/​Sorb/​Serb/​Sarb. Dieser war bereits in der slawischen Urheimat in zwei Lautvarianten (*Sьrbъ, *Sъrbъ) mit der Bedeutung ,Milchbruder‘ bzw. ,Angehöriger derselben Gens‘ entstanden und zudem identisch mit dem Namen der auf den Balkan eingewanderten Serben. Demnach habe eine Differenzierung in EinzelstĂ€mme mit eigenen Namen (wie z. B. Colodici, Glomaci) erst nach der Sesshaftwerdung in der neuen Heimat begonnen.

Die Gruppe der Sorben umfasste ursprĂŒnglich rund 20 EinzelstĂ€mme, die im 7./8. Jh. ein Gebiet von ca. 40 000 km2 bewohnten. Es lag zwischen Elbe und Saale im Westen sowie Oder, Bober und Queis im Osten, die nördliche Grenze verlief in etwa entlang einer gedachten Linie zwischen Frankfurt (Oder), Köpenick und Zerbst, die sĂŒdliche bildeten die Mittelgebirge. Die Haupterwerbszweige waren Ackerbau und Viehzucht, ergĂ€nzt durch Fischfang, Bienenzucht und Jagd. Als Zuflucht bei ÜberfĂ€llen errichteten oder nutzten die Sorben BurgwĂ€lle, wobei westlich von Oder und Neiße mehr als 600, davon in den Lausitzen rund 200, nachweisbar sind. Ab Ende des 8. Jh. bewirkte die erste deutsche Ostexpansion eine Einengung des sorbischen Sprachraums, insbesondere des Streifens zwischen Saale und Elbe bzw. Schwarzer Elster. Die in Großfamilien und SippenverbĂ€nden lebenden Slawen waren dem militĂ€rischen Druck des benachbarten deutschen Reiches auf Dauer nicht gewachsen. 929 grĂŒndete König Heinrich I. nach siegreichen KriegszĂŒgen die Reichsburg Meißen, von wo aus er weitere sorbische StĂ€mme tributpflichtig machte. 963 verloren die Lusizer und 990 die Milzener endgĂŒltig ihre politische und wirtschaftliche UnabhĂ€ngigkeit. Mit der Errichtung von BistĂŒmern wie Meißen, Merseburg und Zeitz (spĂ€ter Naumburg) im Jahr 968 begann die Christianisierung der Sorben, die bis Ende des 12. Jh. völlig in die deutsche Kirchenorganisation einbezogen wurden. Eine nationalstaatliche Entwicklung wurde damit endgĂŒltig verhindert, sorbische Sprache, Kultur und Tradition aber konnten sich in beiden Lausitzen bis zur Gegenwart behaupten.

Im 12./13. Jh. wanderten deutsche Bauern und Handwerker in großer Zahl in unbesiedelte Landstriche östlich von Saale und Elbe ein (→ Kolonisation). Dies fĂŒhrte v. a. in den westlichen und mittleren Regionen allmĂ€hlich zu unterschiedlichen Formen der Assimilation. In den Übergangszonen erließen die StĂ€dte mitunter Sprachverbote. Das Kernland der Milzener und Lusizer beiderseits der Spree war vom deutschen Landesausbau jedoch kaum betroffen. WĂ€hrend westlich der Elbe bei den Daleminzern die sorbische Sprache bis 1500 praktisch erlosch, kam es in den von den StĂ€nden beherrschten, damals zur Böhmischen Krone gehörenden Markgrafschaften Oberlausitz und Niederlausitz nach der Reformation zu einer kulturellen Eigenentwicklung. Im 16. Jh. wurden 90 % der Sorben protestantisch, ein Teil der zweisprachigen Oberlausitz blieb katholisch (13 von etwa 200 Pfarrkirchen mit 20 000–25 000 Personen; → katholische Region). Die Konkurrenz der Konfessionen förderte die Herausbildung des obersorbischen Schrifttums, die Auswirkungen des DreißigjĂ€hrigen Kriegs hemmten den weiteren Aufschwung. 1635 fielen beide Lausitzen als erbliches Lehen an den sĂ€chsischen KurfĂŒrsten (→ Traditionsrezess). Danach unterstĂŒtzte namentlich der Pietismus die Herausgabe religiöser Literatur in Ober- und Niedersorbisch. Ende des 18. Jh., im Zeitalter der AufklĂ€rung, begann die nationale Bewusstwerdung der Sorben, die in der nationalen Wiedergeburt in der ersten HĂ€lfte des 19. Jh. gipfelte. Die Nationalbewegung fĂŒhrte besonders in der Oberlausitz u. a. zur Entfaltung von Presse (→ Zeitungen, Zeitschriften) und Vereinswesen. Nach der ReichsgrĂŒndung von 1871 erhöhte sich der Germanisierungsdruck, der bereits seit Aufhebung der feudalen AbhĂ€ngigkeit wirkte; als Reaktion darauf entstand ab 1875 die Jungsorbische Bewegung, 1912 als Dachverband sorbischer Vereine die Domowina.

Die etwas liberalere Minderheitenpolitik der Weimarer Republik ermöglichte den Sorben, die traditionell auf dem Lande lebten, eine Erweiterung ihrer sprachlich-kulturellen AktivitĂ€ten, was durch die slawischen LĂ€nder unterstĂŒtzt wurde. Zugleich fĂŒhrte die fortschreitende soziale und ökonomische Modernisierung zur weiteren Anpassung an die deutsche Mehrheit, sodass die subjektive Identifikation mit dem sorbischen Ethnikum – namentlich in den industrialisierten evangelischen Gebieten – kontinuierlich schwand. Die Nationalsozialisten wollten die Erinnerung an die slawische Herkunft der „Ureinwohner“ Mitteldeutschlands auslöschen, indem sie ab 1937 jede öffentliche prosorbische TĂ€tigkeit verboten, Orte umbenannten und die aktive Intelligenz, vornehmlich Lehrer und Pfarrer, zwangsversetzten sowie die Begriffe Sorben und Wenden aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verdrĂ€ngten (→ NS-Zeit).

In der DDR wurde die Gleichberechtigung der Sorben erstmals in der Verfassung garantiert; schon zuvor erließ der SĂ€chsische Landtag das Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung (→ Sorbengesetze). In Bildung, Kultur, Wissenschaft und Verwaltung wurden die Bedingungen fĂŒr eine relative Autonomie, eine funktionale Zweisprachigkeit sowie die Pflege der Kultur geschaffen und finanziell abgesichert, wobei als vorrangiges politisches Ziel die Einbindung der Minderheit in das realsozialistische System galt. Die intensive Industrialisierung der Lausitzen, v. a. im Bereich Kohle und Energie (→ Braunkohlenbergbau), brachte nach KriegsflĂŒchtlingen und Vertriebenen einen weiteren Zustrom an deutscher Bevölkerung mit sich (→ Zuwanderung). Die Devastierung von ĂŒber 100 Dörfern mit ca. 10 000 Sorben fĂŒhrte zu Umsiedlungen in dem noch 4 000 km2 umfassenden zweisprachigen Gebiet. Nach der Wiedervereinigung suchten der Bund, Sachsen und Brandenburg die Regelungen zum Minderheitenschutz an die Erfordernisse der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaats anzupassen. Die 1991 durch Staatsvertrag errichtete Stiftung fĂŒr das sorbische Volk gewĂ€hrleistet seit 1992 den Erhalt der kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen, die sich die Sorben nach dem Zweiten Weltkrieg schaffen konnten. In beiden BundeslĂ€ndern garantieren die Verfassungen sowie neue Sorbengesetze (Brandenburg 1994, Sachsen 1999) den noch ca. 50 000–60 000 bewussten Angehörigen des Volkes (die Sprecherzahl dĂŒrfte bei etwa der HĂ€lfte liegen) – ein Drittel in Brandenburg, zwei Drittel in Sachsen, hier etwa zur HĂ€lfte historisch evangelisch und katholisch – ihre Rechte auf Schutz und Förderung nach modernen europĂ€ischen MaßstĂ€ben.

Lit.: Geschichte der Sorben. Gesamtdarstellung. 4 BĂ€nde, Bautzen 1974–1979; Die Slawen in Deutschland. Ein Handbuch, Hg. J. Herrmann, Berlin, 2. Aufl., 1985; Die Sorben in Deutschland. Serbja w Němskej. Sieben Kapitel Kulturgeschichte, Hg. D. Scholze, Bautzen 1993; H. Schuster-Ć ewc: Sorben, Milzener, Lusizer. Zu Ursprung und Ausbreitung slawischer (altsorbischer) Völker- bzw. Stammesnamen, in: Lětopis 51 (2004) 2; P. Kunze: Kurze Geschichte der Sorben, Bautzen, 4. Aufl., 2008.

Metadaten

Titel
Sorben
Titel
Sorben
Autor:in
Scholze, Dietrich
Autor:in
Scholze, Dietrich
Schlagwörter
Westslawen; Minderheit; Lausitz; Surbi; Deutschland; Sachsen; Brandenburg; Bayerischer Geograph; Fredegar
Schlagwörter
Westslawen; Minderheit; Lausitz; Surbi; Deutschland; Sachsen; Brandenburg; Bayerischer Geograph; Fredegar
Abstract

Westslawisches Volk in der Ober- und Niederlausitz, das im Deutschen frĂŒher meist „Wenden“ genannt wurde (z. T. auch „Sorbenwenden“ oder „Lausitzer Serben“); in der Niederlausitz heute offiziell „Sorben/Wenden“. Es bezeichnet sich selbst durch das Ethnonym obersorbisch „Serbja“ bzw. niedersorbisch „Serby“, im Singular jeweils „Serb“.

Abstract

Westslawisches Volk in der Ober- und Niederlausitz, das im Deutschen frĂŒher meist „Wenden“ genannt wurde (z. T. auch „Sorbenwenden“ oder „Lausitzer Serben“); in der Niederlausitz heute offiziell „Sorben/Wenden“. Es bezeichnet sich selbst durch das Ethnonym obersorbisch „Serbja“ bzw. niedersorbisch „Serby“, im Singular jeweils „Serb“.

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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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