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Sorbisch
von Anja Pohončowa und Sonja Wölkowa

Gesamtheit der ober- und niedersorbischen Dialekte einschließlich der Übergangsdialekte sowie der ober- und niedersorbischen Schriftsprache (→ Obersorbisch, → Niedersorbisch); Eigenbezeichnungen serbšćina bzw. obersorb. serbska rěč, niedersorb. serbska rěc (,sorbische Sprache‘); ältere Bezeichnung auch Wendisch. Sorbisch gehört neben Tschechisch, Slowakisch, Polnisch und Kaschubisch zur westslawischen Sprachgruppe und hat in der Lausitz (Brandenburg und Sachsen) gegenwärtig schätzungsweise 25 000–30 000 Sprecher. Beide sorbischen Schriftsprachen verwenden ein lateinisches, durch diakritische Zeichen ergänztes Alphabet. Früheste sprachliche Zeugnisse stammen aus dem 16. Jh.

Das altsorbische Sprachgebiet, das auf der Basis von Namen (bes. der Toponyme) anhand lautlicher und struktureller Kriterien ermittelt werden kann, dürfte im 8. Jh. seine größte Ausdehnung erreicht haben. Die Grenzen lassen sich lokalisieren durch Oder, Bober und Queis im Osten (heute auf polnischem Territorium), Elbe und Saale im Westen (mit Siedlungsspuren bis zum Main, nach Oberfranken und Nordbayern), eine ungefähre Linie zwischen Frankfurt (Oder), Köpenick und Zerbst im Norden und die Mittelgebirge im Süden. Im Zuge der deutschen Ostexpansion im 9./10. Jh. wurde das altsorbische Sprachgebiet von Westen her zunehmend eingeengt (→ Unterwerfung, → Kolonisation), die slawische Bevölkerung wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich benachteiligt und der Gebrauch ihrer Sprache z. T. verboten (→ Sprachverbote). In weiten Teilen des ursprünglichen Siedlungsgebiets war die Sprache um 1500 bereits ausgestorben (→ Assimilation). Lediglich das in Ober- und Niederlausitz gesprochene Ober- bzw. Niedersorbisch hat sich – trotz massiven Rückgangs seit Aufhebung der feudalen Abhängigkeit – bis zur Gegenwart erhalten.

Die Ausdehnung des Sprachgebiets Ende des 16. Jh. zeigt eine Landkarte der Oberlausitz von Bartholomäus Scultetus (1593), der erstmals eine sorbisch-deutsche Sprachgrenze einzeichnete. Auch in der Karte von Johann George Schreiber (um 1700) ist diese Grenze eingetragen; sie enthält Verschiebungen im Vergleich zum Scultetus’schen Verlauf ein Jh. zuvor (im Süden rückläufig, im Osten vorgreifend). Die Veränderungen des Gebiets im 19. und 20. Jh. verdeutlichen insbesondere die Karten von Jan Arnošt Smoler (1843), Arnošt Muka (1886) und Arnošt Černik (1955).

Während die Sprache der Milzener, der Vorfahren der heutigen Obersorben, einige Gemeinsamkeiten zu den westlichen altsorbischen und damit auch zu tschechischen und slowakischen Dialekten aufwies, zeichnete sich die Sprache der Lusizer, der Vorfahren der heutigen Niedersorben, durch sprachliche Ähnlichkeiten mit den polnisch-polabischen (lechischen) Dialekten aus. Nach Auffassung von Heinz Schuster-Šewc drangen die Lusizer oderabwärts in das Gebiet der heutigen Niederlausitz vor und trafen dort auf altsorbische Stämme, die aus südwestlicher Richtung elbabwärts und entlang der Schwarzen Elster nach Norden gezogen waren. Aus dieser Mischung entwickelte sich schließlich das Niedersorbische.

Gliederung der slawischen Sprachen

Die Siedlungsgebiete der Lusizer und Milzener waren zunächst durch einen ca. 30 km breiten unbewohnten Heidestreifen voneinander getrennt, dessen Besiedlung im Hochmittelalter von Norden her durch niedersorbische Siedler erfolgte. Erst später wurde dieses Gebiet auch von Süden durch Sprecher des Obersorbischen eingenommen. So bildeten sich die sog. Übergangsdialekte heraus (→ Dialekte).

Im Mittelalter stellte die sorbische Bevölkerung im Wesentlichen die Schicht leibeigener und höriger Bauern, weshalb das Sorbische funktional weitgehend auf die private bzw. halboffizielle Sphäre des Kontakts innerhalb der Familie bzw. der Dorfgemeinschaft beschränkt war. Das Fehlen überregionaler Kommunikation förderte die dialektale Differenzierung und verhinderte gleichzeitig die Herausbildung eines gemeinsamen Schrifttums.

Obwohl sich bereits zu Beginn des 16. Jh. eine sorbische Intelligenz herausbildete, entstand zunächst keine sorbische Literatur, da die Humanisten, der Tradition der Renaissance folgend, ihre Schriften in lateinischer Sprache verfassten. Erst die Reformation mit ihrer Forderung nach Gottes Wort in der Muttersprache begünstigte das Entstehen der sorbischen Schriftsprachen (→ Bibelübersetzungen). Da das sorbische Sprachgebiet weiterhin unter verschiedene Feudalgewalten aufgeteilt war und ein politisches und ökonomisches Zentrum aller Sorben fehlte, entstanden bis zum Beginn des 18. Jh. mehrere Schwerpunkte sorbischer nationaler und kultureller Entwicklung. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jh. festigten sich drei sorbische schriftsprachliche Praxen: a) das Obersorbische in zwei Varianten und b) das Niedersorbische.

Als westslawische Sprachen weisen das Ober- und das Niedersorbische die gemeinsamen Merkmale dieser Sprachengruppe auf. Dazu gehören u. a. der Erhalt der Anlautgruppen *kvě, *gvě (obersorb., niedersorb. kwětka ,Blume‘, niedersorb. gwězda ,Stern‘, obersorb. weiterentwickelt zu hwězda gegenüber ost- und südslawischem *cvě, *zvě, vgl. russisch цвет, звезда), der Erhalt der Konsonantengruppe *dl im Inlaut (obersorb., niedersorb. mydło ,Seife‘ gegenüber russisch мыло) oder das Fehlen eines eingeschobenen epenthetischen l nach weichen Lippenlauten (obersorb., niedersorb. zemja ,Erde‘ gegenüber russisch земля). Es gibt jedoch auch Besonderheiten gegenüber den anderen westslawischen Sprachen. So hat sich im Sorbischen u. a. der Dual (Zweizahl) als Glied der Numeruskategorie erhalten; es werden besondere Flexionsformen angewendet, wenn von zwei Personen, Gegenständen o. Ä. die Rede ist (z. B. obersorb. dwaj hólcaj spěwataj bzw. niedersorb. dwa gólca spiwatej ,zwei Jungen singen‘, gegenüber obersorb. třo hólcy spěwaja bzw. niedersorb. tśo gólcy spiwaju ,drei Jungen singen‘). Ebenso haben sich mehrere Vergangenheitsformen erhalten – das Präteritum, das Plusquamperfekt und das Perfekt im Sorbischen; im Niedersorbischen sind die beiden erstgenannten Tempora im Laufe des 20. Jh. aus der Volkssprache verschwunden, auch in der Schriftsprache sind sie dort nicht mehr üblich.

Das Sorbische der Gegenwart wird durch die Sprachvarietäten Schriftsprache (auch Standard- oder Literatursprache), Umgangssprache und Dialekt repräsentiert. Die obersorbische und die niedersorbische Schriftsprache stellen jeweils das überregionale und allgemein verbindliche Verständigungsmittel dar. Den Gegenpol bilden die Dialekte als nur gesprochene Sprachen in ihrer spezifischen regionalen Ausprägung. Als Zwischenstufe gilt die Umgangssprache. Als obersorbische Umgangssprache betrachtet man die Varietät des Obersorbischen, die von denjenigen Sorben, die nach 1945 geboren wurden und in Städten aufgewachsen sind, im inoffiziellen und privaten Bereich gesprochen wird. Diese Sprachform basiert einerseits auf verschiedenen Dialekten, andererseits auf der Schriftsprache. Im Niedersorbischen könnte man die mündliche Form der Schriftsprache, die von der niedersorbischen Bildungsschicht im inoffiziellen und privaten Bereich genutzt wird, als Umgangssprache bezeichnen. Deren Sprecher haben sich das Niedersorbische meist als Fremdsprache angeeignet und verfügen nur selten über dialektale Kompetenz. Der Terminus sorbische Umgangssprache wird in neuester Zeit von Lenka Scholze (2008) auf die Sprachform eingeschränkt, die in einigen Orten der sorbischen katholischen Oberlausitz von jüngeren Leuten und Jugendlichen verwendet wird.

Alle Sprecher des Sorbischen sind heute ausnahmslos zweisprachig und bilden in ihrem Siedlungsgebiet – bis auf die katholische Region – eine Minderheit. Aktive Sprachkenntnisse bei deutschen Mitbewohnern der Lausitz sind Ausnahmen. Sorbisch konkurriert als Kommunikationsmittel mit dem Deutschen, wobei Sorbisch das fakultative Medium ist, das primär in der Familie, im Dorf, seltener am Arbeitsplatz angewendet wird (diglossischer Gebrauch). Die Mehrzahl der Sprecher des Sorbischen bedient sich eines Ortsdialekts, während die Kenntnis der schriftsprachlichen Norm oft passiv ist.

Standardisierungsgrad und Funktionsbreite der beiden sorbischen Schriftsprachen sind ungleich. Das Obersorbische ist aufgrund seiner reichen schriftsprachlichen Tradition und der größeren Sprecherzahl strukturell besser ausgebaut und polyfunktional. Der Gebrauch beider sorbischen Schriftsprachen ist jedoch in allen Domänen begrenzt, intensiv ist er im Bereich der Bildung und Kirche, kaum üblich in der Verwaltung (→ Stilistik).

Lit.: H. Faßke: Die sorbische Sprache als Objekt wissenschaftlicher Beschreibung, in: H. Faßke unter Mitarbeit von S. Michalk: Grammatik der obersorbischen Schriftsprache der Gegenwart. Morphologie, Bautzen 1981; H. Faßke: Der Weg des Sorbischen zur Schriftsprache, in: Language Reform: History and Future, Vol. VI, Hg. I. Fodor/​C. Hagège, Hamburg 1994; H. Faßke: Deutsch – Sorbisch, in: Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Hg. H. Goebl/​P. H. Nelde/​Zd. Starý/​W. Wölck, Berlin/​New York 1997; H. Schuster-Šewc: Das Sorbische im slawischen Kontext. Ausgewählte Studien, Bautzen 2000; L. Scholze: Das grammatische System der obersorbischen Umgangssprache im Sprachkontakt, Bautzen 2008.

Metadaten

Titel
Sorbisch
Titel
Sorbisch
Autor:in
Pohončowa, Anja; Wölkowa, Sonja
Autor:in
Pohončowa, Anja; Wölkowa, Sonja
Schlagwörter
westslawische Sprache; Minderheitensprache; Schriftsprache; Umgangssprache; Sprachsituation; Mundart; Dialekt; Obersorbisch; Niedersorbisch
Schlagwörter
westslawische Sprache; Minderheitensprache; Schriftsprache; Umgangssprache; Sprachsituation; Mundart; Dialekt; Obersorbisch; Niedersorbisch
Abstract

Gesamtheit der ober- und niedersorbischen Dialekte einschließlich der Übergangsdialekte sowie der ober- und niedersorbischen Schriftsprache; Eigenbezeichnungen serbšćina bzw. obersorb. serbska rěč, niedersorb. serbska rěc (,sorbische Sprache‘); ältere Bezeichnung auch Wendisch.

Abstract

Gesamtheit der ober- und niedersorbischen Dialekte einschließlich der Übergangsdialekte sowie der ober- und niedersorbischen Schriftsprache; Eigenbezeichnungen serbšćina bzw. obersorb. serbska rěč, niedersorb. serbska rěc (,sorbische Sprache‘); ältere Bezeichnung auch Wendisch.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter

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