Mehrepisodige ProsaerzĂ€hlung ĂŒber wunderbare und abenteuerliche Erlebnisse von Menschen und
Tieren, die mithilfe fantastischer Mittel und Möglichkeiten ihr GlĂŒck machen.
Die Ableitung des Begriffs bajka von obersorbisch baÄ,
niedersorbisch bajaĆ, deutsch ,Unsinn reden, faselnâ, betont im
Sorbischen, dass es sich um die Wiedergabe von Fiktivem handelt. Obersorb.
bajki baÄ ,MĂ€rchen erzĂ€hlenâ bedeutet im ĂŒbertragenen Sinne auch
âflunkern, schwindelnâ. MĂ€rchen werden mĂŒndlich und literarisch ĂŒberliefert.
Autoren literarischer MĂ€rchen (â Literatur)
setzen Merkmale der volkstĂŒmlichen Ăberlieferung wie die NaivitĂ€t, die
Dreigliedrigkeit oder das Prinzip des Achtergewichts (die letzte Aufgabe bringt
die Erlösung) bewusst als Struktur- und Stilmittel in ihre Dichtung ein.
TheaterauffĂŒhrung »Die drei BĂ€ren« des Sorbischen Kindertheaters, 1968;
Fotograf: Kurt Heine, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Im Gegensatz zur Sage wird ein MĂ€rchen bewusst als erfundene
und unwirkliche Geschichte wahrgenommen. Wer ein MÀrchen erzÀhlt, gibt zu
erkennen, dass er es nicht selbst erlebt hat, sondern Erdachtes vermittelt. Die
Wunder sind jedoch so in die RealitÀt eingebettet, dass man gern daran glauben
möchte. Sie ereignen sich weder zu einer bestimmten Zeit, noch an einem
bestimmten Ort. Eingangs- und Schlussformeln betonen, dass die Handlung
irgendwann und irgendwo spielt (z.âŻB. obersorb. BÄĆĄe a njebÄĆĄe ,Es war
und war auch nichtâ, BÄĆĄe pak nÄhdy ,Es war einmalâ, A staj hiĆĄÄe
dĆșensa ĆŸiwaj, jelizo wumrÄĆoj njejstaj ,Und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie noch heuteâ).
MĂ€rchen handeln von Kontrasten, von denen der jeweils positive Teil siegt: Das Gute
triumphiert ĂŒber das Böse, das schöne, meist arme, MĂ€dchen ĂŒber das hĂ€ssliche,
der von der Familie vernachlĂ€ssigte, jedoch schlaue jĂŒngste Sohn ĂŒber seine
tölpelhaften groĂen BrĂŒder. Mut, Ausdauer und Tapferkeit fĂŒhren die Helden zum
Ziel, an dem sie ein glĂŒckliches, sorgenfreies Leben erwartet. Die geschickte
VerknĂŒpfung des ĂbernatĂŒrlichen mit der Alltagswelt der Menschen in der Ober-und Niederlausitz, jene NĂ€he des AuĂergewöhnlichen zum
wirklichen Leben sorgt fĂŒr die faszinierende Wirkung von MĂ€rchen. In den
sorbischen MĂ€rchen heiĂen die Helden Jank und Hanka oder Jan, Jurij und PÄtr,
aus dem âfremden Ritterâ wird der âböhmische Ritterâ, Wolf und FĂŒchsin besuchen
die MĂ€dchen in den Spinnstuben. Im MĂ€rchen
vom Kienpeter erinnert die Darstellung der Landschaft an die Muskauer Heide (â Muskauer
Standesherrschaft), wenngleich nur allgemein von der Kienkammer eines
Heidebewohners die Rede ist bzw. von der Stadt, wo der Kien verkauft wird, und
dem fernen Glasschloss auf dem Felsen, in dem Hanka ihren Freier erwartet. FĂŒr
das Sorbische typisch scheint die humorvolle AnnÀherung des MÀrchenhaften an die
Wirklichkeit zu sein. Im MĂ€rchen âDie schwarze und weiĂe Prinzessinâ soll der
Protagonist, ein Soldat, ein Paar Stiefel durchlaufen, um die Prinzessin zu
erlösen. Jedoch anstatt sich auf den langen Weg zu machen, schleift er
kurzerhand die Sohlen mit dem Schleifstein ab und erfĂŒllt damit die Aufgabe.
Die
MĂ€rchenerzĂ€hlerin Hana ChÄĆŸcyna aus Horka
Die bis in die zweite HĂ€lfte des 19. Jh. vorrangig mĂŒndlich ĂŒberlieferten sorbischen
ErzÀhlungen entsprechen in ihren Motiven dem in Mitteleuropa allgemein bekannten
MĂ€rchengut und damit dem Typenverzeichnis (ATU) von Antti Aarne und Stith Thompson von 1928, neu bearbeitet von
Hans-Jörg Uther (2004). Friedrich Sieber (1935) beurteilte das im
ober- und niedersorbischen Sprachgebiet gesammelte Material, dessen Umfang er
auf âwenigstens ein halbes Hundertâ schĂ€tzte, als reich gegenĂŒber seinen
Aufzeichnungen im obersĂ€chsischen Raum. PawoĆ
Nedo zĂ€hlte fĂŒr seine wissenschaftlich kommentierte
Quellenausgabe von 1956 86 MĂ€rchen aus sorbisch- und deutschsprachigen
Sammlungen und Zeitungen, die nachweisbar ĂŒber mehr als zwei Generationen im
sorbischen Sprachgebiet ĂŒberliefert worden waren und deren sprachliche
Gestaltung und Komposition sie als âsorbischâ ausweisen. Einen im Vergleich zu
den Kinder- und HausmĂ€rchen der BrĂŒder Jacob
Grimm und Wilhelm Grimm
hohen Anteil bilden darin die TiermÀrchen, von denen wiederum die MÀrchen von
Wolf und FĂŒchsin durch ihre realistische und plastische Situationsschilderung
hervorstechen. In der Partnerschaft der beiden gefrĂ€Ăigen Raubtiere verleitet
die selbstsĂŒchtige und listige FĂŒchsin den dummen Wolf zu Handlungen, die stets
zu dessen Nachteil ausgehen. Auf ihr Anraten versucht er mit dem Schwanz Heringe
aus dem zugefrorenen Weiher zu fischen und friert dabei an oder sÀuft einen
Brunnen aus, um an den sich darin spiegelnden Mond zu gelangen, den er fĂŒr einen
KÀse hÀlt. Als Allegorien zu den Verhaltensweisen der Menschen ist den
TiermÀrchen wenig Fantastisches eigen. Das MÀrchenhafte liegt hier vielmehr im
menschlichen Auftreten der Tiere, die wie Menschen denken und soziale
Hierarchien aufbauen, sich untereinander verbĂŒnden oder im Zwist miteinander
liegen und Abenteuer bestehen mĂŒssen, um GlĂŒck und Geborgenheit zu finden.
MĂ€rchensammlung der Prager Studenten, 1899; Repro: Sorbische Zentralbibliothek
am Sorbischen Institut
Den Kern der sorbischen MĂ€rchen bilden die ZaubermĂ€rchen, deren Handlung durch ĂŒbernatĂŒrliche
FĂ€higkeiten und Wunderdinge vorangetrieben wird. Charakteristisch ist der
optimistische Ausgang, wenngleich die sorbische Ăberlieferung einige Ausnahmen
aufweist. So erschlÀgt der Vater im MÀrchen vom DÀumling mit dem Wolf, den ihm
der Sohn zutreibt, auch den Winzling selbst, der sich am Wolfsschwanz
festgekrallt hatte. In der sorbischen Fassung vom âMachandelboomâ wird Jank von
der Stiefmutter getötet und sein Kopf dem Vater zum Essen gereicht. Die
Schwester sammelt die Knochen, wickelt sie in ein Tuch und vergrÀbt sie, nicht
wie bei Grimm unter einem Wacholderbaum, sondern wie fĂŒr die Lausitz typisch, unter einem Holunderbusch. Die Knochen
verwandeln sich auf magische Weise in einen singenden Vogel, der die Schwester
beschenkt und die Stiefmutter erschlÀgt, aber seine menschliche Gestalt, wie der
Knabe in der deutschen Fassung, erlangt Jank nicht zurĂŒck. Wie eine
Horrorgeschichte mutet das MĂ€rchen von âPatchen und Patinâ an. Die Patin,
offensichtlich der im Sorbischen weibliche Tod, lÀdt ihr Patenkind zu sich ein,
wo sich vor dem MÀdchen unerklÀrliche Szenen abspielen: Das Tor ist mit einer
Menschenhand zugesteckt, in der Scheune dreschen vier Hunde, eine Katze melkt
die Kuh, im Haus buttert ein PferdefuĂ und hinterm Ofen drehen sich DĂ€rme. Die
Patin erklÀrt, dass sie lediglich ihren Torriegel, ihr Gesinde und ihren Mann
sowie ihr trocknendes Garn gesehen habe und bringt das MĂ€dchen um. Die
formelhafte Sprache im Frage-Antwort-Spiel zwischen Patchen und Patin mit ihren
Wiederholungen verleiht der ErzÀhlung eine unheimliche dramatische Spannung, die
mit dem Tod des MĂ€dchens abrupt endet. Das im Verzeichnis internationaler
ErzĂ€hltypen verzeichnete MĂ€rchen âDer Haushalt der Hexeâ (ATU 334) ist hier in
einer ursprĂŒnglichen Form belegt. Es fehlt der didaktische Impetus wie im
MĂ€rchen von âFrau Trudeâ in den Kinder- und HausmĂ€rchen, wo das eigensinnige
MĂ€dchen trotz Warnung der Eltern das wunderliche Haus aufsucht und fĂŒr seine
Neugier bestraft wird.
Auswahl sorbischer VolksmÀrchen, Domowina-Verlag 1964
ZaubermÀrchen handeln von Extremen. Treue, Freigebigkeit und Fleià werden reich
belohnt, wÀhrend Verrat, Geiz und Faulheit meist mit dem Leben bezahlt werden.
Der alte König im MĂ€rchen âDer Prinz und sein Zauberpferdâ verbrennt in
kochender Stutenmilch, die ihn verjĂŒngen soll, was in Anbetracht seiner Menschen
verachtenden Habgier nur gerecht erscheint. Die böse Stiefmutter im âKlingenden
Lindchenâ wird mit den Haaren an den Schwanz eines Pferdes gebunden, das ĂŒber
Wurzelstöcke galoppiert und schlieĂlich nur mit dem âSkalpâ am Schwanz
zurĂŒckkehrt. Der Waldgeist Kosmatej belohnt die gegen die Tiere barmherzige
Halbwaise mit einem Schloss, wĂ€hrend er die selbstsĂŒchtige Tochter der
Stiefmutter zerreiĂt und ihre GedĂ€rme ums Haus windet. Drastische Bestrafung und
die christlich bestimmte Haltung von BuĂe und Reue bestimmen die Handlung im
MĂ€rchen von der âPatenschaft der Hl. Mariaâ. Weil es seine Neugier nicht zĂŒgeln
konnte und das verbotene Zimmer zu öffnen versucht, schlÀgt die Jungfrau Maria
ihr Patenkind mit Stummheit und erweckt den Eindruck, die so behinderte junge
Mutter wĂŒrde ihre eigenen Kinder fressen. Erst als diese als Kindsmörderin
verbrannt werden soll, lĂ€sst sie Gnade walten mit den Worten: âDu hast genug fĂŒr
deinen Ungehorsam gelitten; gehorche aber deinem Herrn und sei redend!â
Das Auftreten der Hl. Maria bringt das MĂ€rchen in die NĂ€he zu den
LegendenmĂ€rchen, denen im sorbischen Repertoire jedoch zahlenmĂ€Ăig kaum
Bedeutung zukommt. Die von Klerikern schriftlich tradierten Legenden ĂŒber
Heilige und MÀrtyrer sowie das göttliche Heilswirken wurden von den niederen
Volksschichten ĂŒbernommen und im Stile der MĂ€rchen umerzĂ€hlt. Meist steht nicht
mehr der Heilige im Mittelpunkt der ErzĂ€hlung, sondern der sĂŒndige Mensch, der
wie der RĂ€uber Lipskulijan durch BuĂe erlöst wird. Verbreitet sind die
ErzĂ€hlungen, wie Christus oder Gott mit dem Hl. Petrus ĂŒber das Land wandeln und
die Menschen charakterisieren. In ihren GesprÀchen steht der menschlich-naiven
EinschÀtzung von Petrus, der Gutes mit Gutem belohnen will, Gottes weise
Weltsicht entgegen. So erhĂ€lt nicht das fleiĂige MĂ€dchen den TĂŒchtigen zum Mann,
sondern die Faule, die ansonsten im Leben scheitern wĂŒrde. Und nicht die
geistlichen Lieder, sondern die Volkslieder erfreuen Christus, weil sie mit
Inbrunst gesungen werden.
Die kirchlichen Motive und Themen haben ebenso wie die NovellenmÀrchen und die schwankhaften
ErzĂ€hlungen vom dummen Teufel und von Riesen in der sorbischen Ăberlieferung
keine allgemeine Verbreitung gefunden. Ein Grund dafĂŒr mag im Fehlen der frĂŒhen
religiösen und höfischen Dichtung bzw. der Schwankliteratur (â Schwank) liegen, die jene Gattungen z.âŻB. in der
deutschen oder französischen Ăberlieferung nachweislich unterstĂŒtzt haben. In
den NovellenmÀrchen ereignet sich nichts Wunderbares im Sinne von
ĂbernatĂŒrlichem. Es wird auf irrationale Elemente wie DĂ€monen, sprechende Tiere
oder Verwandlungen verzichtet. Der Held ist vielmehr ganz auf sich gestellt und
zeichnet sich durch auĂergewöhnliche FĂ€higkeiten aus. Die kluge Bauerntochter
löst das RĂ€tsel des Gutsherrn durch ihre Gewitztheit; MĂŒllers Hanka schlĂ€gt neun
RĂ€ubern den Kopf ab und bewahrt so das Hab und Gut ihrer Familie.
ErzÀhlt wurden MÀrchen im familiÀren Kreis, bei halböffentlichen Gelegenheiten
sowie bei gemeinsamer Handarbeit. Eine schriftliche Tradition hat ihre
Ăberlieferung nicht in direktem MaĂe beeinflusst. Die genaue Herkunft und
Ursprungszeit der sorbischen MĂ€rchen ist daher kaum ermittelbar. Mit Gewissheit
lÀsst sich sagen, dass sie im 18. und 19. Jh. vor allem unter denjenigen
verbreitet waren, deren sozialen Status sie abbilden. In der Regel begibt sich
ein Armer auf die Suche nach GlĂŒck. Der Tagelöhner oder HĂ€usler muss Fremde um
die Gevatternschaft fĂŒr seine vielen Kinder bitten. Der König und sein Hofstaat
werden nur ungenau geschildert, da die Menschen ihn nur vom Hörensagen kennen.
Von den bekannten KönigserzĂ€hlungen wie âDer Froschkönigâ, âDer getreue
Johannesâ oder âDornröschenâ ist im sorbischen Repertoire keine Spur zu finden.
Auch die Vorliebe fĂŒr komische Situationen sowie die burlesken und drastischen
Darstellungen weisen auf das ErzÀhlen im einfachen lÀndlichen bzw.
vorstÀdtischen Milieu hin. Damit der Wolf das ausgesoffene Brunnenwasser anhÀlt,
stöpselt ihn der Fuchs einfach zu. Dem starken Knecht verabreicht der tĂŒckische
Amtmann ein AbfĂŒhrmittel. Woraufhin der Knecht ohne Hose das Feld absenst und
trotz Durchfall seine Aufgabe rechtzeitig beendet, um den reichen Lohn
einzustreichen.
Anthologie westslawischer MĂ€rchen, Domowina-Verlag 1972
Zu den wesentlichen Stilelementen im MÀrchen gehört die Grausamkeit, jedoch wirkt sie im
GesamtgefĂŒge lĂ€ngst nicht so grausig wie in einer realistischen ErzĂ€hlung.
Schreckgeschichten bilden in der Regel lediglich eine Episode innerhalb eines
MĂ€rchens. Sie steigern die Spannung; die Leistung des Helden wirkt umso
gewaltiger, je gefÀhrlicher sein Weg geschildert wird. Das erbarmungslose
Abrechnen mit Eltern, die ihre Kinder aussetzen, oder mit Menschen fressenden
Hexen und Riesen entsprechen dem naiven Wunsch, dass das Böse mit den eigenen
Mitteln bestraft wird. Dabei erinnern das VerstĂŒmmeln und Blenden, das
Zu-Tode-Schleifen oder Verbrennen an tatsÀchliche Rechtspraktiken vergangener
Zeiten, die auch in den sorbischen MĂ€rchen nachwirken. Von den sprachlichen
Gestaltungsmitteln fÀllt wie im Volkslied
die hĂ€ufige Verwendung von Diminutiva auf, die mitunter in auĂergewöhnlicher
Dichte auftreten. So will die Stiefmutter dem Stiefkind zunĂ€chst âz piwkom nĂłĆŸce
myÄ a z mlĂłÄkom hĆĂłjÄkuâ (mit Bierchen die FĂŒĂchen waschen und mit Milchlein das
Köpfchen). âDas KnĂ€bleinâ meint nicht etwa einen kleinen Jungen, sondern den
meist ausgewachsenen Helden der ErzÀhlung, er hat keinen Brief, sondern ein
âBriefleinâ zu ĂŒberbringen und das âSchlĂŒsselchenâ zum Haus zu finden. Die
Verkleinerungsform zeigt emotionale NĂ€he zu den positiv gezeichneten Personen
und Dingen an und gehört zu den wichtigsten Stilmitteln der poetischen
Volkssprache. Von allen Gattungen der Volksdichtung stellt das MÀrchen die höchsten Anforderungen an die
ErzÀhler. Das poetische Geschick, zu dem eine sichere Stoffbeherrschung und
gestalterische Kraft gehören, war nur Einzelnen gegeben und nicht immer stieĂen
die MĂ€rchensammler auf die Talentiertesten von ihnen. In den Sammlungen von
Jan ArnoĆĄt Smoler verweisen
besonders die MÀrchen von Frau Scholze aus Kotten auf sie als eine poetisch begabte ErzÀhlerin. Unter
Wilibald von Schulenburgs
GewÀhrspersonen ragen der HÀusler Kito
Pank aus Burg
(Spreewald) und der Bauer und Dorfschulze Jan HantĆĄo-Hano aus Schleife heraus. PawoĆ Nedo lernte in den 1950er-Jahren
Hana ChÄĆŸcyna (1887â1984) aus
Horka kennen, die mit ihrer
plastischen ErzÀhlkunst nicht nur ihre Enkelkinder, sondern auch robuste
Steinbrucharbeiter in ihren Bann ziehen konnte.
Das Interesse an der sorbischen Volksdichtung regte sich zuerst unter den sorbischen
Studenten in Leipzig um 1825. Unter der
Anleitung Handrij Zejlers sammelten
sie in der Oberlausitz Sprichwörter,
RĂ€tsel, Sagen, MĂ€rchen und Volkslieder und trugen die Ergebnisse in die
handschriftliche Leipziger sorbischen Zeitschrift âSserska/âSerbska Nowinaâ (Sorbische Zeitung) ein. Die
meisten der MÀrchenaufzeichnungen stammen von Zejler, der aus der BeschÀftigung
mit ihnen dichterische Impulse fĂŒr seine eigene Dichtung ableitete und spĂ€ter
zahlreiche Motive aus den TiermÀrchen in seinen Fabeln verarbeitete. Jan Arnoƥt
Smoler hielt Mitte der 1830er Jahre die sorbischen Gymnasiasten in Bautzen und die sorbischen Studenten in
Breslau zu Erhebungen in ihren
jeweiligen Heimatorten an und fĂŒgte dem zweiten Band seiner Volksliedersammlung
(1843) die erste gröĂere Zusammenstellung sorbischer MĂ€rchen bei, die in der
Folgezeit auch fĂŒr andere Editionen ĂŒbernommen wurde, so 1863 in den zweiten
Band des Lausitzer Sagenbuchs von Karl
Haupt. Wie Zejler in Leipzig hatte Smoler darauf geachtet, dass
die MĂ€rchen so aufgezeichnet wurden, âwie sie im Munde des Volkes leben, ohne
ZusĂ€tze und VerĂ€nderungenâ (Neues Lausitzisches Magazin 19/1841). Die ersten
Ăbersetzungen aus den Grimmâschen MĂ€rchen erschienen in der Wochenschrift
âJutrniczkaâ (1842). Die Prager
sorbischen Studenten, die 1846 die Vereinigung Serbowka gegrĂŒndet hatten, trugen ihre Aufzeichnungen, darunter auch
MĂ€rchen, im Jahrbuch âKwÄtkiâ ein. Von den literarisch stark bearbeiteten
MĂ€rchentexten heben sich die der beiden spĂ€teren katholischen Pfarrer MichaĆ RĂłla und Handrij DuÄman als zuverlĂ€ssig und
sprachlich sowie in der ErzÀhlweise nur wenig geglÀttet hervor. In der
Niederlausitz widmeten sich fast zeitgleich Hendrich Jordan, Lehrer und Kantor in Papitz, der Vetschauer Kaufmannssohn Alexander Rabenau, der Cottbuser Gymnasiallehrer Edmund
Veckenstedt und Wilibald von Schulenburg der Ăberlieferung von
Sagen und MĂ€rchen. WĂ€hrend Rabenau sich bereits in seiner Jugend
Sorbischkenntnisse angeeignet hatte, waren Schulenburg und Veckenstedt auf die
Hilfe von Ăbersetzern angewiesen. Alle drei veröffentlichten die MĂ€rchen in
deutscher Sprache, Veckenstedt innerhalb seiner Buchausgabe âWendische Sagen,
MĂ€rchen und aberglĂ€ubische GebrĂ€ucheâ (1880), Schulenburg in den âWendische(n)
Volkssagen und GebrĂ€uche(n) aus dem Spreewaldâ (1880) sowie in âWendisches
Volkstum in Sage, Brauch und Sitteâ (1882) und Rabenau im Anhang zu Engelhardt KĂŒhns âDer Spreewald und seine
Bewohnerâ (1889).
NacherzĂ€hltes MĂ€rchen »Der starke Knecht« in fĂŒnf Sprachen, Domowina-Verlag
1981 und 1983; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Hörbuch sorbischer VolksmÀrchen, Domowina-Verlag 2002
In der Folgezeit stand die Publikation von MĂ€rchen mehr und mehr im Zusammenhang mit der
Bereitstellung populĂ€rer Lesestoffe fĂŒr Kinder und Jugendliche. MichaĆ Nawka stellte 1914 ein erstes Heft
mit MĂ€rchenbearbeitungen zusammen, darunter auch vier Ăbersetzungen aus Grimms
Kinder- und HausmĂ€rchen. Seitdem finden sich MĂ€rchen in sorbischen SchulbĂŒchern
und Kinderzeitschriften (â Kinder- und Jugendliteratur), wo sie meist mit didaktischen Maximen
versehen sind und in der Spracherziehung genutzt werden. Die literarisch
nacherzÀhlten BuchmÀrchen bilden den Grundstock der sorbischen Kinderliteratur.
1955 erschien die erste fĂŒr Kinder aufbereitete Auswahl, âSerbske ludowe bajkiâ
(Sorbische VolksmÀrchen) in Obersorbisch, der 1958 das niedersorbische
MĂ€rchenbuch âWuĆŸowy kral a ĆșÄĆe a druge bajki z ĆuĆŸyceâ (Der Schlangenkönig und
andere MÀrchen aus der Lausitz) folgte. Nach dem TiermÀrchen vom dummen Wolf und
der schlauen FĂŒchsin entstand in den 1950er Jahren der erste sorbische
Puppentrickfilm im DEFA-Studio fĂŒr Trickfilme in Dresden (â Film). Das
MĂ€rchenbuch âĆuÄlany PÄtrâ (1966, âDer Kienpeterâ, 1964, 5. Auflage 1975) wurde
auch ins Tschechische und Slowakische ĂŒbersetzt. Die gemeinsamen BemĂŒhungen
Nedos mit ErzĂ€hlforschern aus der ÄSSR und der VR Polen um die Edition
westslawischer MĂ€rchen fanden ihren Niederschlag in der Sammlung âDie glĂ€serne
Lindeâ (1972, 5. Auflage 1979, gekĂŒrzt 2003) mit Fassungen in Sorbisch, Deutsch,
Ukrainisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch und Slowenisch. Der
Domowina-Verlag eröffnete 1981 die obersorbisch, niedersorbisch und deutsch
erscheinende Reihe âBajkaâ, die 20 groĂzĂŒgig illustrierte BĂ€nde mit jeweils
einem, von sorbischen Schriftstellern nacherzĂ€hlten MĂ€rchen umfasst. FĂŒr die
illustrierte obersorbische Edition âÄerwjenawka a druhe bajkiâ (RotkĂ€ppchen und
andere MĂ€rchen) von 2003 wurden die bekanntesten MĂ€rchen der BrĂŒder Grimm
ĂŒbersetzt.
Das heutige MÀrchenerzÀhlen bzw. -vorlesen, im Familienkreis wie in Kindergartengruppen,
stĂŒtzt sich im Wesentlichen auf diese BuchmĂ€rchen. Vielfache literarische
Bearbeitung bis hin zur Verfilmung erfuhr das MĂ€rchen von Krabat.
Lit.: F. Sieber: ObersĂ€chsische VolksmĂ€rchen, in: Mitteldeutsche BlĂ€tter fĂŒr
Volkskunde (1935); P. Nedo: Sorbische VolksmÀrchen. Systematische Quellenausgabe
mit EinfĂŒhrung und Anmerkungen, Bautzen 1956; BrĂŒder Grimm: Kinder- und
HausmĂ€rchen, 4 BĂ€nde, Hg. H.-J. Uther, MĂŒnchen 1996.