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MĂ€rchen
von Susanne Hose

Mehrepisodige ProsaerzĂ€hlung ĂŒber wunderbare und abenteuerliche Erlebnisse von Menschen und Tieren, die mithilfe fantastischer Mittel und Möglichkeiten ihr GlĂŒck machen. Die Ableitung des Begriffs bajka von obersorbisch bać, niedersorbisch bajaƛ, deutsch ,Unsinn reden, faseln’, betont im Sorbischen, dass es sich um die Wiedergabe von Fiktivem handelt. Obersorb. bajki bać ,MĂ€rchen erzĂ€hlen’ bedeutet im ĂŒbertragenen Sinne auch „flunkern, schwindeln“. MĂ€rchen werden mĂŒndlich und literarisch ĂŒberliefert. Autoren literarischer MĂ€rchen (→ Literatur) setzen Merkmale der volkstĂŒmlichen Überlieferung wie die NaivitĂ€t, die Dreigliedrigkeit oder das Prinzip des Achtergewichts (die letzte Aufgabe bringt die Erlösung) bewusst als Struktur- und Stilmittel in ihre Dichtung ein.

TheaterauffĂŒhrung »Die drei BĂ€ren« des Sorbischen Kindertheaters, 1968; Fotograf: Kurt Heine, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Im Gegensatz zur Sage wird ein MĂ€rchen bewusst als erfundene und unwirkliche Geschichte wahrgenommen. Wer ein MĂ€rchen erzĂ€hlt, gibt zu erkennen, dass er es nicht selbst erlebt hat, sondern Erdachtes vermittelt. Die Wunder sind jedoch so in die RealitĂ€t eingebettet, dass man gern daran glauben möchte. Sie ereignen sich weder zu einer bestimmten Zeit, noch an einem bestimmten Ort. Eingangs- und Schlussformeln betonen, dass die Handlung irgendwann und irgendwo spielt (z. B. obersorb. Běơe a njeběơe ,Es war und war auch nicht’, Běơe pak něhdy ,Es war einmal’, A staj hiơće dĆșensa ĆŸiwaj, jelizo wumrěƂoj njejstaj ,Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute’).

MĂ€rchen handeln von Kontrasten, von denen der jeweils positive Teil siegt: Das Gute triumphiert ĂŒber das Böse, das schöne, meist arme, MĂ€dchen ĂŒber das hĂ€ssliche, der von der Familie vernachlĂ€ssigte, jedoch schlaue jĂŒngste Sohn ĂŒber seine tölpelhaften großen BrĂŒder. Mut, Ausdauer und Tapferkeit fĂŒhren die Helden zum Ziel, an dem sie ein glĂŒckliches, sorgenfreies Leben erwartet. Die geschickte VerknĂŒpfung des ÜbernatĂŒrlichen mit der Alltagswelt der Menschen in der Ober-und Niederlausitz, jene NĂ€he des Außergewöhnlichen zum wirklichen Leben sorgt fĂŒr die faszinierende Wirkung von MĂ€rchen. In den sorbischen MĂ€rchen heißen die Helden Jank und Hanka oder Jan, Jurij und Pětr, aus dem „fremden Ritter“ wird der „böhmische Ritter“, Wolf und FĂŒchsin besuchen die MĂ€dchen in den Spinnstuben. Im MĂ€rchen vom Kienpeter erinnert die Darstellung der Landschaft an die Muskauer Heide (→ Muskauer Standesherrschaft), wenngleich nur allgemein von der Kienkammer eines Heidebewohners die Rede ist bzw. von der Stadt, wo der Kien verkauft wird, und dem fernen Glasschloss auf dem Felsen, in dem Hanka ihren Freier erwartet. FĂŒr das Sorbische typisch scheint die humorvolle AnnĂ€herung des MĂ€rchenhaften an die Wirklichkeit zu sein. Im MĂ€rchen „Die schwarze und weiße Prinzessin“ soll der Protagonist, ein Soldat, ein Paar Stiefel durchlaufen, um die Prinzessin zu erlösen. Jedoch anstatt sich auf den langen Weg zu machen, schleift er kurzerhand die Sohlen mit dem Schleifstein ab und erfĂŒllt damit die Aufgabe.

Die MĂ€rchenerzĂ€hlerin Hana ChÄ›ĆŸcyna aus Horka

Die bis in die zweite HĂ€lfte des 19. Jh. vorrangig mĂŒndlich ĂŒberlieferten sorbischen ErzĂ€hlungen entsprechen in ihren Motiven dem in Mitteleuropa allgemein bekannten MĂ€rchengut und damit dem Typenverzeichnis (ATU) von Antti Aarne und Stith Thompson von 1928, neu bearbeitet von Hans-Jörg Uther (2004). Friedrich Sieber (1935) beurteilte das im ober- und niedersorbischen Sprachgebiet gesammelte Material, dessen Umfang er auf „wenigstens ein halbes Hundert“ schĂ€tzte, als reich gegenĂŒber seinen Aufzeichnungen im obersĂ€chsischen Raum. PawoƂ Nedo zĂ€hlte fĂŒr seine wissenschaftlich kommentierte Quellenausgabe von 1956 86 MĂ€rchen aus sorbisch- und deutschsprachigen Sammlungen und Zeitungen, die nachweisbar ĂŒber mehr als zwei Generationen im sorbischen Sprachgebiet ĂŒberliefert worden waren und deren sprachliche Gestaltung und Komposition sie als „sorbisch“ ausweisen. Einen im Vergleich zu den Kinder- und HausmĂ€rchen der BrĂŒder Jacob Grimm und Wilhelm Grimm hohen Anteil bilden darin die TiermĂ€rchen, von denen wiederum die MĂ€rchen von Wolf und FĂŒchsin durch ihre realistische und plastische Situationsschilderung hervorstechen. In der Partnerschaft der beiden gefrĂ€ĂŸigen Raubtiere verleitet die selbstsĂŒchtige und listige FĂŒchsin den dummen Wolf zu Handlungen, die stets zu dessen Nachteil ausgehen. Auf ihr Anraten versucht er mit dem Schwanz Heringe aus dem zugefrorenen Weiher zu fischen und friert dabei an oder sĂ€uft einen Brunnen aus, um an den sich darin spiegelnden Mond zu gelangen, den er fĂŒr einen KĂ€se hĂ€lt. Als Allegorien zu den Verhaltensweisen der Menschen ist den TiermĂ€rchen wenig Fantastisches eigen. Das MĂ€rchenhafte liegt hier vielmehr im menschlichen Auftreten der Tiere, die wie Menschen denken und soziale Hierarchien aufbauen, sich untereinander verbĂŒnden oder im Zwist miteinander liegen und Abenteuer bestehen mĂŒssen, um GlĂŒck und Geborgenheit zu finden.

MĂ€rchensammlung der Prager Studenten, 1899; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Den Kern der sorbischen MĂ€rchen bilden die ZaubermĂ€rchen, deren Handlung durch ĂŒbernatĂŒrliche FĂ€higkeiten und Wunderdinge vorangetrieben wird. Charakteristisch ist der optimistische Ausgang, wenngleich die sorbische Überlieferung einige Ausnahmen aufweist. So erschlĂ€gt der Vater im MĂ€rchen vom DĂ€umling mit dem Wolf, den ihm der Sohn zutreibt, auch den Winzling selbst, der sich am Wolfsschwanz festgekrallt hatte. In der sorbischen Fassung vom „Machandelboom“ wird Jank von der Stiefmutter getötet und sein Kopf dem Vater zum Essen gereicht. Die Schwester sammelt die Knochen, wickelt sie in ein Tuch und vergrĂ€bt sie, nicht wie bei Grimm unter einem Wacholderbaum, sondern wie fĂŒr die Lausitz typisch, unter einem Holunderbusch. Die Knochen verwandeln sich auf magische Weise in einen singenden Vogel, der die Schwester beschenkt und die Stiefmutter erschlĂ€gt, aber seine menschliche Gestalt, wie der Knabe in der deutschen Fassung, erlangt Jank nicht zurĂŒck. Wie eine Horrorgeschichte mutet das MĂ€rchen von „Patchen und Patin“ an. Die Patin, offensichtlich der im Sorbischen weibliche Tod, lĂ€dt ihr Patenkind zu sich ein, wo sich vor dem MĂ€dchen unerklĂ€rliche Szenen abspielen: Das Tor ist mit einer Menschenhand zugesteckt, in der Scheune dreschen vier Hunde, eine Katze melkt die Kuh, im Haus buttert ein Pferdefuß und hinterm Ofen drehen sich DĂ€rme. Die Patin erklĂ€rt, dass sie lediglich ihren Torriegel, ihr Gesinde und ihren Mann sowie ihr trocknendes Garn gesehen habe und bringt das MĂ€dchen um. Die formelhafte Sprache im Frage-Antwort-Spiel zwischen Patchen und Patin mit ihren Wiederholungen verleiht der ErzĂ€hlung eine unheimliche dramatische Spannung, die mit dem Tod des MĂ€dchens abrupt endet. Das im Verzeichnis internationaler ErzĂ€hltypen verzeichnete MĂ€rchen „Der Haushalt der Hexe“ (ATU 334) ist hier in einer ursprĂŒnglichen Form belegt. Es fehlt der didaktische Impetus wie im MĂ€rchen von „Frau Trude“ in den Kinder- und HausmĂ€rchen, wo das eigensinnige MĂ€dchen trotz Warnung der Eltern das wunderliche Haus aufsucht und fĂŒr seine Neugier bestraft wird.

Auswahl sorbischer VolksmÀrchen, Domowina-Verlag 1964

ZaubermĂ€rchen handeln von Extremen. Treue, Freigebigkeit und Fleiß werden reich belohnt, wĂ€hrend Verrat, Geiz und Faulheit meist mit dem Leben bezahlt werden. Der alte König im MĂ€rchen „Der Prinz und sein Zauberpferd“ verbrennt in kochender Stutenmilch, die ihn verjĂŒngen soll, was in Anbetracht seiner Menschen verachtenden Habgier nur gerecht erscheint. Die böse Stiefmutter im „Klingenden Lindchen“ wird mit den Haaren an den Schwanz eines Pferdes gebunden, das ĂŒber Wurzelstöcke galoppiert und schließlich nur mit dem „Skalp“ am Schwanz zurĂŒckkehrt. Der Waldgeist Kosmatej belohnt die gegen die Tiere barmherzige Halbwaise mit einem Schloss, wĂ€hrend er die selbstsĂŒchtige Tochter der Stiefmutter zerreißt und ihre GedĂ€rme ums Haus windet. Drastische Bestrafung und die christlich bestimmte Haltung von Buße und Reue bestimmen die Handlung im MĂ€rchen von der „Patenschaft der Hl. Maria“. Weil es seine Neugier nicht zĂŒgeln konnte und das verbotene Zimmer zu öffnen versucht, schlĂ€gt die Jungfrau Maria ihr Patenkind mit Stummheit und erweckt den Eindruck, die so behinderte junge Mutter wĂŒrde ihre eigenen Kinder fressen. Erst als diese als Kindsmörderin verbrannt werden soll, lĂ€sst sie Gnade walten mit den Worten: „Du hast genug fĂŒr deinen Ungehorsam gelitten; gehorche aber deinem Herrn und sei redend!“

Das Auftreten der Hl. Maria bringt das MĂ€rchen in die NĂ€he zu den LegendenmĂ€rchen, denen im sorbischen Repertoire jedoch zahlenmĂ€ĂŸig kaum Bedeutung zukommt. Die von Klerikern schriftlich tradierten Legenden ĂŒber Heilige und MĂ€rtyrer sowie das göttliche Heilswirken wurden von den niederen Volksschichten ĂŒbernommen und im Stile der MĂ€rchen umerzĂ€hlt. Meist steht nicht mehr der Heilige im Mittelpunkt der ErzĂ€hlung, sondern der sĂŒndige Mensch, der wie der RĂ€uber Lipskulijan durch Buße erlöst wird. Verbreitet sind die ErzĂ€hlungen, wie Christus oder Gott mit dem Hl. Petrus ĂŒber das Land wandeln und die Menschen charakterisieren. In ihren GesprĂ€chen steht der menschlich-naiven EinschĂ€tzung von Petrus, der Gutes mit Gutem belohnen will, Gottes weise Weltsicht entgegen. So erhĂ€lt nicht das fleißige MĂ€dchen den TĂŒchtigen zum Mann, sondern die Faule, die ansonsten im Leben scheitern wĂŒrde. Und nicht die geistlichen Lieder, sondern die Volkslieder erfreuen Christus, weil sie mit Inbrunst gesungen werden.

Die kirchlichen Motive und Themen haben ebenso wie die NovellenmĂ€rchen und die schwankhaften ErzĂ€hlungen vom dummen Teufel und von Riesen in der sorbischen Überlieferung keine allgemeine Verbreitung gefunden. Ein Grund dafĂŒr mag im Fehlen der frĂŒhen religiösen und höfischen Dichtung bzw. der Schwankliteratur (→ Schwank) liegen, die jene Gattungen z. B. in der deutschen oder französischen Überlieferung nachweislich unterstĂŒtzt haben. In den NovellenmĂ€rchen ereignet sich nichts Wunderbares im Sinne von ÜbernatĂŒrlichem. Es wird auf irrationale Elemente wie DĂ€monen, sprechende Tiere oder Verwandlungen verzichtet. Der Held ist vielmehr ganz auf sich gestellt und zeichnet sich durch außergewöhnliche FĂ€higkeiten aus. Die kluge Bauerntochter löst das RĂ€tsel des Gutsherrn durch ihre Gewitztheit; MĂŒllers Hanka schlĂ€gt neun RĂ€ubern den Kopf ab und bewahrt so das Hab und Gut ihrer Familie.

ErzĂ€hlt wurden MĂ€rchen im familiĂ€ren Kreis, bei halböffentlichen Gelegenheiten sowie bei gemeinsamer Handarbeit. Eine schriftliche Tradition hat ihre Überlieferung nicht in direktem Maße beeinflusst. Die genaue Herkunft und Ursprungszeit der sorbischen MĂ€rchen ist daher kaum ermittelbar. Mit Gewissheit lĂ€sst sich sagen, dass sie im 18. und 19. Jh. vor allem unter denjenigen verbreitet waren, deren sozialen Status sie abbilden. In der Regel begibt sich ein Armer auf die Suche nach GlĂŒck. Der Tagelöhner oder HĂ€usler muss Fremde um die Gevatternschaft fĂŒr seine vielen Kinder bitten. Der König und sein Hofstaat werden nur ungenau geschildert, da die Menschen ihn nur vom Hörensagen kennen. Von den bekannten KönigserzĂ€hlungen wie „Der Froschkönig“, „Der getreue Johannes“ oder „Dornröschen“ ist im sorbischen Repertoire keine Spur zu finden. Auch die Vorliebe fĂŒr komische Situationen sowie die burlesken und drastischen Darstellungen weisen auf das ErzĂ€hlen im einfachen lĂ€ndlichen bzw. vorstĂ€dtischen Milieu hin. Damit der Wolf das ausgesoffene Brunnenwasser anhĂ€lt, stöpselt ihn der Fuchs einfach zu. Dem starken Knecht verabreicht der tĂŒckische Amtmann ein AbfĂŒhrmittel. Woraufhin der Knecht ohne Hose das Feld absenst und trotz Durchfall seine Aufgabe rechtzeitig beendet, um den reichen Lohn einzustreichen.

Anthologie westslawischer MĂ€rchen, Domowina-Verlag 1972

Zu den wesentlichen Stilelementen im MĂ€rchen gehört die Grausamkeit, jedoch wirkt sie im GesamtgefĂŒge lĂ€ngst nicht so grausig wie in einer realistischen ErzĂ€hlung. Schreckgeschichten bilden in der Regel lediglich eine Episode innerhalb eines MĂ€rchens. Sie steigern die Spannung; die Leistung des Helden wirkt umso gewaltiger, je gefĂ€hrlicher sein Weg geschildert wird. Das erbarmungslose Abrechnen mit Eltern, die ihre Kinder aussetzen, oder mit Menschen fressenden Hexen und Riesen entsprechen dem naiven Wunsch, dass das Böse mit den eigenen Mitteln bestraft wird. Dabei erinnern das VerstĂŒmmeln und Blenden, das Zu-Tode-Schleifen oder Verbrennen an tatsĂ€chliche Rechtspraktiken vergangener Zeiten, die auch in den sorbischen MĂ€rchen nachwirken. Von den sprachlichen Gestaltungsmitteln fĂ€llt wie im Volkslied die hĂ€ufige Verwendung von Diminutiva auf, die mitunter in außergewöhnlicher Dichte auftreten. So will die Stiefmutter dem Stiefkind zunĂ€chst „z piwkom nĂłĆŸce myć a z mlóčkom hƂójčku“ (mit Bierchen die FĂŒĂŸchen waschen und mit Milchlein das Köpfchen). „Das KnĂ€blein“ meint nicht etwa einen kleinen Jungen, sondern den meist ausgewachsenen Helden der ErzĂ€hlung, er hat keinen Brief, sondern ein „Brieflein“ zu ĂŒberbringen und das „SchlĂŒsselchen“ zum Haus zu finden. Die Verkleinerungsform zeigt emotionale NĂ€he zu den positiv gezeichneten Personen und Dingen an und gehört zu den wichtigsten Stilmitteln der poetischen Volkssprache. Von allen Gattungen der Volksdichtung stellt das MĂ€rchen die höchsten Anforderungen an die ErzĂ€hler. Das poetische Geschick, zu dem eine sichere Stoffbeherrschung und gestalterische Kraft gehören, war nur Einzelnen gegeben und nicht immer stießen die MĂ€rchensammler auf die Talentiertesten von ihnen. In den Sammlungen von Jan ArnoĆĄt Smoler verweisen besonders die MĂ€rchen von Frau Scholze aus Kotten auf sie als eine poetisch begabte ErzĂ€hlerin. Unter Wilibald von Schulenburgs GewĂ€hrspersonen ragen der HĂ€usler Kito Pank aus Burg (Spreewald) und der Bauer und Dorfschulze Jan HantĆĄo-Hano aus Schleife heraus. PawoƂ Nedo lernte in den 1950er-Jahren Hana ChÄ›ĆŸcyna (1887–1984) aus Horka kennen, die mit ihrer plastischen ErzĂ€hlkunst nicht nur ihre Enkelkinder, sondern auch robuste Steinbrucharbeiter in ihren Bann ziehen konnte.

Das Interesse an der sorbischen Volksdichtung regte sich zuerst unter den sorbischen Studenten in Leipzig um 1825. Unter der Anleitung Handrij Zejlers sammelten sie in der Oberlausitz Sprichwörter, RĂ€tsel, Sagen, MĂ€rchen und Volkslieder und trugen die Ergebnisse in die handschriftliche Leipziger sorbischen Zeitschrift „Sserska/​Serbska Nowina“ (Sorbische Zeitung) ein. Die meisten der MĂ€rchenaufzeichnungen stammen von Zejler, der aus der BeschĂ€ftigung mit ihnen dichterische Impulse fĂŒr seine eigene Dichtung ableitete und spĂ€ter zahlreiche Motive aus den TiermĂ€rchen in seinen Fabeln verarbeitete. Jan ArnoĆĄt Smoler hielt Mitte der 1830er Jahre die sorbischen Gymnasiasten in Bautzen und die sorbischen Studenten in Breslau zu Erhebungen in ihren jeweiligen Heimatorten an und fĂŒgte dem zweiten Band seiner Volksliedersammlung (1843) die erste grĂ¶ĂŸere Zusammenstellung sorbischer MĂ€rchen bei, die in der Folgezeit auch fĂŒr andere Editionen ĂŒbernommen wurde, so 1863 in den zweiten Band des Lausitzer Sagenbuchs von Karl Haupt. Wie Zejler in Leipzig hatte Smoler darauf geachtet, dass die MĂ€rchen so aufgezeichnet wurden, „wie sie im Munde des Volkes leben, ohne ZusĂ€tze und VerĂ€nderungen“ (Neues Lausitzisches Magazin 19/1841). Die ersten Übersetzungen aus den Grimm’schen MĂ€rchen erschienen in der Wochenschrift „Jutrniczka“ (1842). Die Prager sorbischen Studenten, die 1846 die Vereinigung Serbowka gegrĂŒndet hatten, trugen ihre Aufzeichnungen, darunter auch MĂ€rchen, im Jahrbuch „Kwětki“ ein. Von den literarisch stark bearbeiteten MĂ€rchentexten heben sich die der beiden spĂ€teren katholischen Pfarrer MichaƂ RĂłla und Handrij Dučman als zuverlĂ€ssig und sprachlich sowie in der ErzĂ€hlweise nur wenig geglĂ€ttet hervor. In der Niederlausitz widmeten sich fast zeitgleich Hendrich Jordan, Lehrer und Kantor in Papitz, der Vetschauer Kaufmannssohn Alexander Rabenau, der Cottbuser Gymnasiallehrer Edmund Veckenstedt und Wilibald von Schulenburg der Überlieferung von Sagen und MĂ€rchen. WĂ€hrend Rabenau sich bereits in seiner Jugend Sorbischkenntnisse angeeignet hatte, waren Schulenburg und Veckenstedt auf die Hilfe von Übersetzern angewiesen. Alle drei veröffentlichten die MĂ€rchen in deutscher Sprache, Veckenstedt innerhalb seiner Buchausgabe „Wendische Sagen, MĂ€rchen und aberglĂ€ubische GebrĂ€uche“ (1880), Schulenburg in den „Wendische(n) Volkssagen und GebrĂ€uche(n) aus dem Spreewald“ (1880) sowie in „Wendisches Volkstum in Sage, Brauch und Sitte“ (1882) und Rabenau im Anhang zu Engelhardt KĂŒhns „Der Spreewald und seine Bewohner“ (1889).

NacherzĂ€hltes MĂ€rchen »Der starke Knecht« in fĂŒnf Sprachen, Domowina-Verlag 1981 und 1983; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Hörbuch sorbischer VolksmÀrchen, Domowina-Verlag 2002

In der Folgezeit stand die Publikation von MĂ€rchen mehr und mehr im Zusammenhang mit der Bereitstellung populĂ€rer Lesestoffe fĂŒr Kinder und Jugendliche. MichaƂ Nawka stellte 1914 ein erstes Heft mit MĂ€rchenbearbeitungen zusammen, darunter auch vier Übersetzungen aus Grimms Kinder- und HausmĂ€rchen. Seitdem finden sich MĂ€rchen in sorbischen SchulbĂŒchern und Kinderzeitschriften (→ Kinder- und Jugendliteratur), wo sie meist mit didaktischen Maximen versehen sind und in der Spracherziehung genutzt werden. Die literarisch nacherzĂ€hlten BuchmĂ€rchen bilden den Grundstock der sorbischen Kinderliteratur. 1955 erschien die erste fĂŒr Kinder aufbereitete Auswahl, „Serbske ludowe bajki“ (Sorbische VolksmĂ€rchen) in Obersorbisch, der 1958 das niedersorbische MĂ€rchenbuch „WuĆŸowy kral a Ćșěƛe a druge bajki z ƁuĆŸyce“ (Der Schlangenkönig und andere MĂ€rchen aus der Lausitz) folgte. Nach dem TiermĂ€rchen vom dummen Wolf und der schlauen FĂŒchsin entstand in den 1950er Jahren der erste sorbische Puppentrickfilm im DEFA-Studio fĂŒr Trickfilme in Dresden (→ Film). Das MĂ€rchenbuch „Ɓučlany Pětr“ (1966, „Der Kienpeter“, 1964, 5. Auflage 1975) wurde auch ins Tschechische und Slowakische ĂŒbersetzt. Die gemeinsamen BemĂŒhungen Nedos mit ErzĂ€hlforschern aus der ČSSR und der VR Polen um die Edition westslawischer MĂ€rchen fanden ihren Niederschlag in der Sammlung „Die glĂ€serne Linde“ (1972, 5. Auflage 1979, gekĂŒrzt 2003) mit Fassungen in Sorbisch, Deutsch, Ukrainisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch und Slowenisch. Der Domowina-Verlag eröffnete 1981 die obersorbisch, niedersorbisch und deutsch erscheinende Reihe „Bajka“, die 20 großzĂŒgig illustrierte BĂ€nde mit jeweils einem, von sorbischen Schriftstellern nacherzĂ€hlten MĂ€rchen umfasst. FĂŒr die illustrierte obersorbische Edition „Čerwjenawka a druhe bajki“ (RotkĂ€ppchen und andere MĂ€rchen) von 2003 wurden die bekanntesten MĂ€rchen der BrĂŒder Grimm ĂŒbersetzt.

Das heutige MĂ€rchenerzĂ€hlen bzw. -vorlesen, im Familienkreis wie in Kindergartengruppen, stĂŒtzt sich im Wesentlichen auf diese BuchmĂ€rchen. Vielfache literarische Bearbeitung bis hin zur Verfilmung erfuhr das MĂ€rchen von Krabat.

Lit.: F. Sieber: ObersĂ€chsische VolksmĂ€rchen, in: Mitteldeutsche BlĂ€tter fĂŒr Volkskunde (1935); P. Nedo: Sorbische VolksmĂ€rchen. Systematische Quellenausgabe mit EinfĂŒhrung und Anmerkungen, Bautzen 1956; BrĂŒder Grimm: Kinder- und HausmĂ€rchen, 4 BĂ€nde, Hg. H.-J. Uther, MĂŒnchen 1996.

Metadaten

Titel
MĂ€rchen
Titel
MĂ€rchen
Autor:in
Hose, Susanne
Autor:in
Hose, Susanne
Schlagwörter
Literatur; Sage; Spinnstube; Schwank; Volkslied; Volksdichtung; Kinder- und Jugendliteratur; Kinderbuch; VolkserzÀhlung; ErzÀhlen
Schlagwörter
Literatur; Sage; Spinnstube; Schwank; Volkslied; Volksdichtung; Kinder- und Jugendliteratur; Kinderbuch; VolkserzÀhlung; ErzÀhlen
Abstract

Mehrepisodige ProsaerzĂ€hlung ĂŒber wunderbare und abenteuerliche Erlebnisse von Menschen und Tieren, die mithilfe fantastischer Mittel und Möglichkeiten ihr GlĂŒck machen. Die Ableitung des Begriffs bajka von obersorbisch bać, niedersorbisch bajaƛ, deutsch ,Unsinn reden, faseln’, betont im Sorbischen, dass es sich um die Wiedergabe von Fiktivem handelt.

Abstract

Mehrepisodige ProsaerzĂ€hlung ĂŒber wunderbare und abenteuerliche Erlebnisse von Menschen und Tieren, die mithilfe fantastischer Mittel und Möglichkeiten ihr GlĂŒck machen. Die Ableitung des Begriffs bajka von obersorbisch bać, niedersorbisch bajaƛ, deutsch ,Unsinn reden, faseln’, betont im Sorbischen, dass es sich um die Wiedergabe von Fiktivem handelt.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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