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Wortschatz
von Anja Pohončowa und Manfred Starosta

Gesamtbestand aller Wörter, Lexeme, Wortgruppenlexeme und Phraseologismen (→ Phraseologie) einer Sprache, hier des Ober- und Niedersorbischen; Lexik, Vokabular. Der Wortschatz ist Gegenstand der Lexikologie, die ihn im Hinblick auf seine Geschichte, Entstehung, Zusammensetzung und Struktur untersucht und beschreibt, und der Lexikografie, die ihn in Wörterbüchern erfasst. Mit der Herkunft, Bedeutung, formalen und inhaltlichen Entwicklung von Lexemen und ihrer Verwandtschaft mit Lexemen gleichen Ursprungs in anderen Sprachen beschäftigt sich die Etymologie.

Aus synchroner Sicht unterscheidet man im Sorbischen den schriftsprachlichen, umgangssprachlichen und dialektalen Wortschatz. Dialektale und umgangssprachliche Wörter können als Dubletten oder Varianten in den schriftsprachlichen Wortschatz integriert werden, vgl. z. B. obersorb. běrny, neple ,Kartoffeln‘, niedersorb. jagły, pšoso ,Hirse‘, umgangssprachlich obersorb. bryla ,Brille‘, niedersorb. fryjota ,Freiheit‘ neben schriftsprachlich bzw. neutral obersorb. nawoči, niedersorb. lichota (→ Stilistik). Aus diachroner Sicht werden Erb- und Lehnwortschatz unterschieden.

Monografie zur Entwicklung des obersorbischen Wortschatzes, Domowina-Verlag 1999

Den Grundstock des heute verwendeten Wortschatzes bilden nach wie vor die aus dem Urslawischen ererbten bzw. mit eigenen sprachlichen Mitteln gebildeten Wörter (obersorb., niedersorb. ruka ,Hand, Arm‘, obersorb. hłowa, niedersorb. głowa ,Kopf‘); der Wortschatz beinhaltet aber auch semantische Neuerungen, entstanden in der einzelsprachlichen Phase (obersorb. kabija, niedersorb. kabeja ,Eichelhäher‘).

Der Lehnwortschatz des gegenwärtigen Obersorbischen umfasst Entlehnungen aus dem Deutschen und anderen slawischen Sprachen (v. a. aus dem Tschechischen und Polnischen) sowie den sog. internationalen Wortschatz (in der Regel durch Vermittlung des Deutschen), in jüngerer Zeit meist aus dem Englischen. Für das Niedersorbische sind Entlehnungen aus dem deutschen, obersorbischen und internationalen Wortschatz charakteristisch. Unterschieden wird zwischen Lehnwörtern (phonetisch und morphologisch adaptiert, z. B. obersorb. warnować < deutsch ,warnen‘, niedersorb. bildka < deutsch ,Bild‘, obersorb. dźiwadło < tschech. divadlo ,Theater‘, niedersorb. gósćeńc < obersorb. hosćenc ,Gaststätte‘, obersorb., niedersorb. reformacija < deutsch ,Reformation‘ < lateinisch reformatio), Lehnübersetzungen (obersorb. regionalna železnica < deutsch ,Regionalbahn‘, niedersorb. sprayjowa tejza < deutsch ,Spraydose‘) und Lehnübertragungen (teilweise Übersetzung des Fremdworts, z. B. obersorb. módracy < deutsch ,Blauhelme‘) unterschieden. Die Ursprünge deutscher Entlehnungen reichen in die Zeit vor der Christianisierung zurück, die mit der Bildung einer christlichen Terminologie einherging (obersorb., niedersorb. mnich < ahd. munih ,Mönch‘, obersorb. póst, niedersorb. spót < ahd. fasto ,Fasten‘). Mit dem Zustrom deutscher Siedler in das sorbischsprachige Gebiet (→ Kolonisation) wurden zunehmend deutsche Wörter ins Sorbische entlehnt. Dies war nicht nur mit dem Ausbau des Wortschatzes verbunden, sondern auch mit einer semantischen Bedeutungsverschiebung zahlreicher sorbischer Erbwörter (obersorb., niedersorb. župan ,Stammesoberhaupt‘ > ,Dorfrichter, Schöffe‘ bzw. ,Bienenzüchter‘). Die Reformation gab schließlich den Anstoß für den lexikalischen Ausbau des Sorbischen bei abstrakten Begriffen und der religiösen Terminologie, der unter starkem Einfluss des Deutschen erfolgte.

Obersorbisch: Neben einer Vielzahl deutscher Lehnwörter wie lazować ,lesen‘, rejža ,Reise‘ wurden zunächst zahlreiche Benennungen verwendet, die in ihrer Bildungsart dem Deutschen nahe sind. Dazu zählen u. a. Hybridkomposita mit fremdem Erstglied und indigenem sorbischen bzw. regulär adaptiertem Zweitglied (cimtwoda ,Zimtwasser‘, šackomora ,Schatzkammer‘, šulwučer ,Schullehrer‘), komplexe Benennungen mit Verb im Kern (dźěl brać ,teilnehmen‘, zhubjene hić ,verloren gehen‘), Lehnübersetzungen (,Gasthaus‘ > hóstny dom, ,Waffenruhe‘ > brónjowotpočink) oder nach deutschem Vorbild adaptierte Fremdwörter lateinisch-französischer Herkunft (reformacion ,Reformation‘, kontribucion ,Kontribution‘, absolwirować ,absolvieren‘, triumfirować ,triumphieren‘). Dies sowie das Fehlen nennenswerter tschechischer Einflüsse im obersorbischen Wortschatz (zumindest außerhalb lexikografischer Kodifikation) bis zur Mitte des 19. Jh. zeugen von einer starken Nähe des schriftsprachlichen Wortschatzes zu den Dialekten. Seit Ende des 17. Jh. lassen sich geringe lexikalische Unterschiede nachweisen, deren Ursache in der unterschiedlichen konfessionellen Zugehörigkeit der Autoren (katholisch bzw. evangelisch) zu suchen ist und die sich als zwei lexikalische Subnormen im Bereich des Obersorbischen charakterisieren lassen.

Zwischen den 1840er Jahren und der Mitte des 20. Jh. wurden die schriftsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Obersorbischen systematisch ausgebaut – v. a. im nicht religiösen Bereich – und die Voraussetzungen für eine einheitliche obersorbische Schriftsprache geschaffen (→ Sprachpolitik). Diese entwickelte sich in der Folgezeit unter Einwirkung anderer slawischer Sprachen (v. a. des Tschechischen). So wurden zahlreiche deutsche Lehnwörter und Internationalismen ersetzt durch indigene Entsprechungen (frejota > swoboda ,Freiheit‘, cejch > znamjo ,Zeichen‘), Neubildungen (wonka wostajić > wuwostajić ,auslassen‘, nutřwidźeć > dowidźeć ,einsehen‘) oder Slawismen (Bohemismen und Polonismen, z. B. teatr > dźiwadło ,Theater‘ nach tschech. divadlo, nutřpřińdźenje > dochody ,Einkommen‘ nach tschech. důchody oder poln. dochody). Slawismen ersetzten Benennungen verschiedenen Typs (meist deutsche Lehnübersetzungen; z. B. časowpismo > časopis ,Zeitschrift‘). Unterschiede im Wortschatz, die zwischen der evangelischen oder katholischen Schriftsprachenvariante bestanden, verschwanden seit den 1840er Jahren allmählich. Beide Varianten wurden nun gleichberechtigt als Synonyme verwendet (składnosć, přiležnosć ,Angelegenheit‘), eine Form setzte sich gegenüber der anderen durch (evangelisch wulki gegenüber katholisch wilki ,groß‘) oder an die Stelle der evangelischen bzw. katholischen Variante trat ein neues Wort (evangelisch aby, katholisch habó, habo > abo ,oder‘). Von dieser für die obersorbische Schriftsprache des 19. Jh. typischen Entwicklung blieben die obersorbischen Dialekte unberührt.

Die veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach 1945 bewirkten einen weiteren Ausbau des obersorbischen Wortschatzes. Zwar wurden auch weiterhin Wörter aus dem Polnischen (fachowc < poln. fachowiec ,Fachmann‘), Tschechischen (rozhłós < tschech. rozhlas ,Rundfunk‘) und Russischen (pjećilětka < russ. пятилетка ,Fünfjahrplan‘) entlehnt, jedoch orientierte man sich in der Folgezeit immer mehr am Deutschen; es entstanden zahlreiche Lehnübersetzungen, z. B. produkciske drustwo < ,Produktionsgenossenschaft‘, zynkopask < ,Tonband‘, prochsrěbak < ,Staubsauger‘. Außerdem fanden wie in anderen Sprachen zunehmend Internationalismen im obersorbischen schriftsprachlichen Wortschatz Aufnahme (z. B. antagonistiski ,antagonistisch‘, kontejner ,Container‘, comicsy ,Comics‘), vermittelt meist durch das Deutsche.

Der Anteil an Anglizismen wuchs nach der politischen Wende 1989/90 (z. B. joggować ,joggen‘, kompjuter ,Computer‘). Darüber hinaus bildete man neue Wörter mithilfe indigener sprachlicher Mittel bzw. unter Anwendung der bewährten Benennungstypen, der semantischen Derivation (Bedeutungswandel) sowie der Reaktivierung älterer Lexik. Im Gegenzug veralteten Teile der Lexik und kamen schließlich außer Gebrauch (dawanja ,Abgaben‘ > wotedawki, přibyće ,Ankunft‘ > přichad; Historismen: kmótřiska brigada ,Patenbrigade‘, pioněrske lěhwo ,Pionierlager‘).

Die 1990er Jahre waren erneut durch einen Zuwachs an Lexik v. a. in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technik, Kultur, Verwaltung und Rechtswesen gekennzeichnet. Die stärksten Impulse für den gegenwärtigen Wortschatzausbau gehen vom deutschen Sprachgebrauch aus, der sich nach westdeutschem Vorbild verändert hat. Die Bildung neuer Bezeichnungen im Sorbischen ist heute oft gleichbedeutend mit einer Äquivalenzsuche zu deutschen Wörtern, die meist Komposita sind (→ Wortbildung). Es wurden sorbische Übersetzungen geschaffen für Begriffe, die in den alten Bundesländern bereits vorhanden waren (wotbyt(k)owe wiki ,Absatzmarkt‘), typisch ostdeutsche Bezeichnungen wurden hingegen verdrängt (im öffentlichen Sprachgebrauch z. B. obersorb. pěstowarnja ,Kindergarten‘ > dźěćace dnjowe přebywanišćo ,Kindertagesstätte‘); auch für die im Zuge der politischen Wende und der Vereinigung beider deutscher Staaten entstandenen neuen Designate wurden sorbische Bezeichnungen gebildet (obersorb. zahibne financowanje ,Anschubfinanzierung‘). In seltenen Fällen wurde ältere Lexik reaktiviert (obersorb., niedersorb. załožba ,Stiftung‘).

Dialekte und Umgangssprache greifen beim Wortschatzausbau im Gegensatz zur Schriftsprache überwiegend auf Entlehnungen aus dem Deutschen und auf Hybridbildungen zurück.

Untersuchung zur lexikalischen Beeinflussung auf das Niedersorbische, Domowina-Verlag 2002

Niedersorbisch: Bereits in vorschriftsprachlicher Zeit (bis Anfang des 18. Jh.) wurden hier Teile der indigenen Lexik allmählich verdrängt und durch Entlehnungen aus dem Deutschen ersetzt, z. B. niedersorb. goźina ,Stunde‘ > štunda, niedersorb. jerjeł ,Adler‘ > hodlaŕ, sto ,hundert‘ > hundert. In der Regel dienten Lehnwörter jedoch dem lexikalischen Ausbau des Niedersorbischen, z. B. niedersorb. ryśaŕ ,Ritter; Held‘, niedersorb. kejžor ,Kaiser‘.

Die Entlehnungen aus dem Deutschen nahmen im 19. Jh. so stark zu, dass man sich veranlasst sah, der Germanisierung der niedersorbischen Schriftsprache entgegenzuwirken. So wurde schon 1853 von Jan Bjedrich Tešnaŕ vorgeschlagen, deutsches Lehngut durch Lexik zu ersetzen, die aus dem Obersorbischen übernommen und dem niedersorbischen Sprachsystem angepasst war. Es entstanden niedersorb. gósćeńc ,Gasthof‘ (< obersorb. hosćenc), niedersorb. pomnik ,Denkmal‘ (< obersorb. pomnik), niedersorb. zeleznica ,Eisenbahn‘ (< obersorb. železnica). Daneben führten auch innersprachliche Entwicklungen zu Veränderungen im niedersorbischen Wortschatz (cholowy > zec ,Hose‘, puś > sćažka ,Weg‘, kajaś > pokuśiś ,büßen‘). Manche Wörter sind heute nur noch mundartlich anzutreffen (bajba ,Dussel, Pfeife‘, dowda, terka, tejka ,Großmutter‘).

Besonders unter der Redaktion von Kito Šwjela wurde der benötigte Wortschatz mithilfe produktiver Wortbildungsmuster im „Bramborski Casnik“ selbst gebildet (niedersorb. seceńska mašina ,Mähmaschine‘, niedersorb. cołnowy móst ,Pontonbrücke‘, niedersorb. śamnosćaŕ ,Dunkelmann‘). Übertriebene puristische Eingriffe (niedersorb. śichownja ,Halle‘, niedersorb. pśedwokno ,Balkon‘) waren dabei selten. Schriftsprachliche lexikalische Neuerungen blieben jedoch häufig marginal. In den niedersorbischen Dialekten behaupteten sich z. B. fryštuka ,Frühstück‘, frelich ,freilich‘, lazowaś ,lesen‘. Dort wurde u. U. indigenes Wortgut durch deutsche Entlehnungen verdrängt (kołoźej > štelmachaŕ ,Stellmacher‘, piwnica > kelaŕ [noch im Wandel] ,Keller‘), sodass sich zu Beginn des 20. Jh. Schrift- und Volkssprache zunehmend voneinander entfernten. Diese Entwicklung wurde nach 1945 dadurch verstärkt, dass bestehende Benennungslücken mittels Neubildungen und obersorbischen Lehnwörtern geschlossen wurden (wliw ,Einfluss‘, źěłarnistwo ,Gewerkschaft‘, dusyk ,Stickstoff‘, u. a. wissenschaftlich-technische sowie DDR-spezifische Termini, wie prodrustwownik ,Genossenschaftsbauer‘, nowowucabnik ,Neulehrer‘, społnomócnjony wótrězka ,Abschnittsbevollmächtigter‘). Außerdem erfolgte eine weitere Slawisierung des Wortschatzes nach obersorbischem Vorbild. Wörter deutscher Herkunft wurden durch obersorbische ersetzt (kalk > wapno ,Kalk‘, marš(ěr)owaś > pochodowaś ,marschieren‘, towzynt > tysac ,tausend‘), teilweise betraf das auch indigen niedersorbisches Wortgut (pódpółnoc > sewjer ,Norden‘, zamóžny > kmany ,fähig‘). Dieser Prozess wurde begleitet durch lautliche und affixale Angleichungen ans Obersorbische (bergarstwo > byrgarstwo ,Bürgertum‘, reformacion > reformacija ,Reformation‘). Seit dem letzten Drittel des 20. Jh., besonders den 1990er Jahren, ist eine verstärkte Orientierung an den Dialekten und ein Nachlassen slawisierender Tendenzen des niedersorbischen Wortschatzes festzustellen.

Der Ausbau des niedersorbischen Wortschatzes ist weiterhin notwendig und erfolgt weitestgehend im Rahmen eines neuen deutsch-niedersorbischen Wörterbuchs (→ Wörterbücher). Dabei gelten als Prinzipien Verständlichkeit und Slawizität niedersorbischer Prägung sowie eine möglichst breite Akzeptanz durch die Sprecher.

Lit.: H. Jentsch: Die Entwicklung der Lexik der obersorbischen Schriftsprache vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Bautzen 1999; H Jentsch: Probleme der Entwicklung des modernen obersorbischen Wortschatzes, in: Modernisierung des Wortschatzes europäischer Regional- und Minderheitensprachen, Hg. G. Spieß, Tübingen 1999; M. Starosta: Der moderne niedersorbische Wortschatz. Entwicklungstendenzen in der Nachkriegszeit, in: Modernisierung des Wortschatzes europäischer Regional- und Minderheitensprachen, Hg. G. Spieß, Tübingen 1999; A. Pohontsch: Der Einfluss obersorbischer Lexik auf die niedersorbische Schriftsprache. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der niedersorbischen Schriftsprache, Bautzen 2002.

Metadaten

Titel
Wortschatz
Titel
Wortschatz
Autor:in
Pohončowa, Anja; Starosta, Manfred
Autor:in
Pohončowa, Anja; Starosta, Manfred
Schlagwörter
Lexik; Erbwortschatz; Lehnwortschatz; Interferenz; Sprachpurismus
Schlagwörter
Lexik; Erbwortschatz; Lehnwortschatz; Interferenz; Sprachpurismus
Abstract

Gesamtbestand aller Wörter, Lexeme, Wortgruppenlexeme und Phraseologismen einer Sprache, hier des Ober- und Niedersorbischen; Lexik, Vokabular.

Abstract

Gesamtbestand aller Wörter, Lexeme, Wortgruppenlexeme und Phraseologismen einer Sprache, hier des Ober- und Niedersorbischen; Lexik, Vokabular.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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