Koexistenz – in Bezug auf Beherrschung, Verwendung, Geltungsbereich – von zwei
Sprachen bei Einzelnen (individuelle Zweisprachigkeit), Gruppen (kollektive
Zweisprachigkeit) oder in bestimmten Gebieten (zweisprachige Regionen, Staaten).
Zweisprachigkeit oder Bilingualismus ist ein Sonderfall von Mehrsprachigkeit.
Sie kann bei Gleichgewicht beider Sprachen hinsichtlich Prestige, offizieller
Anerkennung und materieller Förderung lange Zeit stabil sein. Besteht
diesbezüglich ein Ungleichgewicht, so stellt sie in der Regel ein
Übergangsstadium von der Einsprachigkeit in der »schwächeren« Sprache zur
Einsprachigkeit in der »stärkeren« dar. Stabilisierung kann in dieser Situation
nur durch kompensatorische Sprachenpolitik erreicht werden. Im sorbischen Kontext bezieht sich
Zweisprachigkeit in der Regel auf Sorbisch und Deutsch, nicht auf
Niedersorbisch und Obersorbisch, wobei von einer
Asymmetrie ausgegangen werden muss, da meist nur die Sorben zweisprachig
sind.
Deutsche und sorbische Aufschriften am Postamt in Scado, 1966; Fotograf: Błažij Nawka, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Im sorbischen Siedlungsgebiet
herrschte ursprünglich sorbische Einsprachigkeit bei der Landbevölkerung und
eine Dominanz der deutschen Sprache in den Städten; individuelle
Zweisprachigkeit gab es bei Vermittlern (Geistliche, Lehrer, Amtspersonen,
Verwalter, Händler usw.); ggf. wurden in Kontaktsituationen Dolmetscher
eingesetzt. Erst nach der Reformation erfuhr die
Zweisprachigkeit Aufmerksamkeit. Staatliche, z. T. auch kirchliche Institutionen
neigten in sprachlich gemischten Gebieten dazu, deutsche Einsprachigkeit
anzustreben (→ Dezemberreskript, → Sprachverbote); (individuelle) Zweisprachigkeit wurde oft als
Fortschritt gegenüber sorbischer Einsprachigkeit und als Vorstufe deutscher
Einsprachigkeit toleriert bzw. gefördert. In den Kontaktzonen verbreitete sich,
von den Städten ausstrahlend oder durch Kolonisierung, die Zweisprachigkeit
allmählich auf dem Lande und führte innerhalb weniger Generationen zu deutschen
Einsprachigkeit (→ Assimilation), sodass das
sorbische Sprachgebiet von den Rändern her kontinuierlich schrumpfte.
Sorbische Aufschrift der Volksbank in Bautzen; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Ab dem 19. Jh. ging die sorbische Einsprachigkeit auch im bis dahin kompakten
sorbischen Sprachgebiet beider Lausitzen zurück und sorbisch-deutsche
Zweisprachigkeit bzw. deutsche Einsprachigkeit nahmen rasch zu. Dies wurde zum
einen begünstigt durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen (→ Industrialisierung,
verkehrstechnische Erschließung, Zunahme der Mobilität, allgemeine Schul- und
Wehrpflicht usw.), zum anderen durch staatliche und zunehmend auch kirchliche
Maßnahmen, die das Deutsche zulasten des Sorbischen begünstigten (→ Kirche).
Oft gab es nur geringe Zugeständnisse an die Zweisprachigkeit in der Schule
(Verwendung des Sorbischen im Religionsunterricht und als Hilfsmittel in der
Grundstufe). Ziel der Politik war deutsche Einsprachigkeit; außerdem galt
Zweisprachigkeit als der intellektuellen Entwicklung abträglich. Ihre extreme
Ausprägung fand diese Politik während der NS-Zeit, als das Sorbische zunehmend aus dem öffentlichen Raum
verdrängt und schließlich ganz verboten wurde.
Die Vertreter der in der Oberlausitz verbreiteten sorbischen Nationalbewegung des 19. Jh. reagierten
auf die o. g. Entwicklung, indem sie sprachfördernde und spracherhaltende
Konzepte erarbeiteten. Mit der Gründung sorbischer Zeitungen und Zeitschriften,
der Schaffung einer eigenen Literatur, der Etablierung eines
regen Vereinswesens u. a.
zielten sie auf eine Stärkung der sorbischen Sprache im öffentlichen Kontext ab
(→ nationale Wiedergeburt, → Jungsorbische
Bewegung). In der Niederlausitz gab es vergleichbare Bestrebungen erst gegen Ende des
19. Jh. (z. B. Gründung des niedersorbischen Büchervereins Maśica Serbska) und sie
waren weniger erfolgreich. Die Vertreter der sorbischen Nationalbewegung, alle
selbst zweisprachig, entwickelten aber keine Konzeptionen, die zu einer stabilen
Zweisprachigkeit hätten beitragen können. Durch ihre sprachpflegerischen
Maßnahmen (→ Sprachpurismus, → Orthografie)
verstärkten sie außerdem die Unterschiede zwischen der (neuen) Standardsprache,
der im kirchlichen Bereich gepflegten Schriftsprache und der Sprache der
Bevölkerung. Dies führte zur Ablehnung der Standardsprache und allgemein der
Bemühungen der nationalen Bewegung bei einem Teil der Sorben.
Niedersorbisch als Bediensprache am Parkautomaten in Cottbus; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Nach 1945 wurde die symmetrische Zweisprachigkeit zunächst staatlich gefordert
und gefördert (vgl. die Losung »Die Lausitz wird zweisprachig«), und zwar in
Schulen (Typ A: sorbische Unterrichtssprache; Typ B: sorbischer
Sprachunterricht), in Behörden und Betrieben (Sprachkurse für Berufstätige, Sorbische
Sprachschulen), durch Straßen- und Ortsschilder sowie öffentliche
Aufschriften. Die Sprachenpolitik war darauf gerichtet, das deutsch-sorbisches
Ungleichgewicht zu kompensieren. Andere Tendenzen und staatliche Maßnahmen
wirkten dem allerdings entgegen: Der Zustrom deutschsprachiger Flüchtlinge und
Vertriebener (→ Zuwanderung)
führte vielfach zum Wechsel der »Dorfsprache« (es gab jedoch auch vereinzelt
sprachliche Assimilierung bei Zugezogenen), durch die Industrialisierung wurden
deutschsprachige Arbeitskräfte angesiedelt, die Kollektivierung förderte in sprachlich
gemischten Gebieten die deutschsprachige Kommunikation auch in der
Landwirtschaft. Durch die Devastierung von Dörfern wurden sorbischer
Gemeinschaften aufgelöst und die Einwohner in meist städtische, deutschsprachige
Umgebungen umgesiedelt (→ Braunkohlenbergbau). Die
antikirchliche Politik des Staates sowie die ablehnende Haltung einzelner
Entscheidungsträger der evangelischen und katholischen Kirche gegenüber
sorbischen Belangen beschnitten überdies die Möglichkeiten beider Kirchen,
spracherhaltend zu wirken. Die Herausbildung einer stabilen Zweisprachigkeit
wurde außerdem beeinträchtigt durch das Misstrauen der stark religiösen und
konservativ eingestellten ländlichen Bevölkerung gegenüber dem Staat, der Partei
und der Domowina. Hinzu kam
besonders in der Niederlausitz, dass die Sprachenpolitik der Domowina kaum auf
regionale Besonderheiten Rücksicht nahm und diese z. T. autoritär auftrat.
Schließlich war kaum eine offene Diskussion über die staatliche Politik in
diesem Bereich möglich.
Zweisprachiges Straßenschild in Cottbus; Fotografin: Anja Pohontsch, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Die programmatische Forderung nach Zweisprachigkeit der Lausitz wurde Ende der
1950er Jahre aufgegeben. Spätere Maßnahmen, so etwa die 7.
Durchführungsbestimmung zum Schulgesetz von 1964, wirkten ihr sogar entgegen.
Die deutsch-sorbische Zweisprachigkeit wurde staatlicherseits als sorbische
Angelegenheit betrachtet, während die deutschsprachige Bevölkerung meist keine
Notwendigkeit sah bzw. sieht, sich das Sorbische anzueignen. Darauf reagierten
im Bereich der Literatur einige sorbische
Autoren, indem sie zunehmend auch deutsch schrieben bzw. in der einen Sprache
geschriebene Werke in die andere übertrugen. Auch die Zusammenlegung der
deutschen und sorbischen Bautzener
Bühnen zum Deutsch-Sorbischen Volkstheater (1963) ist in diesem Licht zu sehen.
Letztlich ist es in der DDR-Zeit
nicht gelungen, eine kollektive Zweisprachigkeit zu etablieren und zu
stabilisieren; die Assimilation schritt weiter fort. Sehr ausgeprägt war diese
Entwicklung in der Niederlausitz, die fast vollständig von sorbischer
Einsprachigkeit bzw. sorbisch-deutschen Zweisprachigkeit zu deutscher
Einsprachigkeit überging. Nur in der katholischen Region der Oberlausitz kann man heute noch von
stabiler kollektiver Zweisprachigkeit sprechen, doch auch hier zeigen sich
Auflösungserscheinungen.
Webauftritt „Sorbisch? Na klar.“, eine Image-Kampagne für Sorbisch des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Kultur und Tourismus, 2020
Nach der politischen Wende
setzte in der sorbischen Öffentlichkeit rasch eine Diskussion um die sprachliche
Situation ein. Durch Einfluss der Globalisierung, der neuen Medien sowie durch
demografische Prozesse beschleunigte sich die Assimilation erneut. Die Bewahrung
der Sprache wurde daher zum vordringlichen Ziel erklärt, das jedoch nur durch
stabile Zweisprachigkeit zu erreichen ist, die ihrerseits auf deutscher Seite
auch die nötige Akzeptanz und Unterstützung finden muss. Sie soll durch die
Schule gestärkt bzw. dort, wo sie fehlt, herbeigeführt werden (Revitalisierung).
Im traditionellen Schulsystem hatte insbesondere Typ B, der die deutschsprachige
Bevölkerung zur Zweisprachigkeit führen sollte, die Erwartungen nicht erfüllt.
Zudem waren die Möglichkeiten der vorschulischen Erziehung nicht systematisch
genutzt worden. Seit 1998 wird mit dem Witaj-Modellprojekt Vorschulkindern das Sorbische vermittelt.
Durch bilingualen Unterricht (Brandenburg seit 2000) bzw. durch Umsetzung des
pädagogischen Konzepts 2plus (Sachsen seit 2001) soll die kollektive
Zweisprachigkeit gefördert und gefestigt werden. Dies erweist sich angesichts
der allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als schwierig. Die seit der
politischen Wende 1989/90 zu beobachtenden Modernisierungsprozesse bewirken in
der zweisprachigen Lausitz eine fortschreitende Abnahme des Anteils von Domänen,
in denen Sorbisch als Kommunikationsmittel genutzt wird. Dem wachsenden und
vielfältigen Angebot von deutschsprachigen Inhalten in den elektronischen Medien
stehen begrenzte sorbische Angebote gegenüber, deren Ausbau und Differenzierung
dringend notwendig wäre. Unter diesen Voraussetzungen ist das Bemühen um die
Schaffung einer ausgewogenen Zweisprachigkeit weiterhin kompliziert.
Ob eine stabile kollektive Zweisprachigkeit erhalten bleibt bzw. wieder
herbeigeführt werden kann, hängt zudem davon ab, ob es gelingt, die Auswirkungen
negativer Entwicklungen auf anderen Gebieten (Geburtenrückgang,
Schulschließungen, Abwanderung usw.) zu kompensieren.
Lit.: S. Michalk: Deutsch und Sorbisch in der Lausitz, in: Germanistische
Linguistik 101–103 (1990); H. Faßke: Zweisprachigkeit in der Lausitz, in:
Germanistische Mitteilungen 34 (1991); A. Geske/J. Schulze: Das Sorbische als
Minderheitensprache. Probleme des Spracherwerbs, in: Spracherwerb in
Minderheitensituationen, Hg. J. Erfurt, Oldenburg 1997.