XS
SM
MD
LG
XL
XXL
🌐
Wendisches Seminar
von Dieter Rothland und Franz Schön

Alumnat für katholische Gymnasiasten und Theologiestudenten aus der Oberlausitz in Prag auf der Kleinseite, an der danach benannten Straße U Lužického semináře, auch als „Lausitzer Seminar St. Peter“ oder „Seminarium St. Petri“ bezeichnet. Nach dem Dreißigjährigen Krieg und dem Übergang der beiden Lausitzen von der böhmischen Krone an den sächsischen Kurfürsten 1635 besaßen die durch den Traditionsrezess unter kaiserlichem Schutz stehenden Katholiken keine Ausbildungsstätte für den Priesternachwuchs im eigenen Land. Die Studenten fanden in den böhmischen Jesuitenkonvikten zu Komotau, Leitmeritz, Krumau und Prag Ausbildungsmöglichkeiten, kehrten aber nach dem Studium oft nicht in die Lausitz zurück. Dem Domkapitel St. Petri in Bautzen als oberster kirchlicher Jurisdiktionsbehörde für die meist sorbischen Katholiken der Lausitz (→ Domstift) fehlten daher nicht selten ausgebildete einheimische Seelsorger.

Ende des 17. Jh. entstand die Idee, in Prag eine kirchliche Internatsschule zu schaffen, die Lausitzer Gymnasiasten und Theologiestudenten eine Heim- und Bildungsstätte bieten und sie an einem Ort in Böhmen vereinen sollte. Bereits 1694 gründeten die aus Temritz bzw. Seidau bei Bautzen stammenden sorbischen Brüder Měrćin Norbert Šimon und Jurij Józef Šimon, beide als Priester in Böhmen tätig, unter Verwendung ihres Vermögens auf der Prager Kleinseite eine „Hospitalität“ für Lausitzer Alumnen (d. h. Zöglinge, die katholische Theologen werden wollten). 1706 erwarben sie nahe der Karlsbrücke ein Baugrundstück, das am 19.4.1706 in die Böhmische Landtafel eingetragen wurde (das Bautzener Domkapitel war landtafelfähig und wurde als Besitzer genannt). Am 12.2.1724 konnte in Prag die Stiftungsurkunde ausgefertigt werden, die vom Domkapitel angenommen wurde. Kaiser Karl VI. bestätigte am 6.7.1725 die Stiftung (→ Stiftungen). Die Grundsteinlegung für das neue Gebäude erfolgte am 15.7.1726.

Es entstand ein einfaches, später aufgestocktes Barockgebäude. Dieses ziert eine Mathias Wenzel Jäckel zugeschriebene St. Petrus-Statue. Das Datum der Vollendung und der Weihe für das Wendische Seminar ist nicht überliefert. Im Herbst 1728 konnten die ersten sorbischen Gymnasiasten und Studenten einziehen. Die Seminaristen besuchten das deutschsprachige Kleinseitner Gymnasium bis zum Abitur und studierten danach in der Regel Theologie an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität zu Prag. Die Hausleitung bestand aus dem vom Domkapitel eingesetzten Präses und einem Präfekten, der selbst Student höheren Semesters war. Von Beginn an wurde eine Matrikel geführt, sodass alle Schüler und Studenten (auch jene, die nicht Priester wurden) namentlich bekannt sind. Die im Zusammenhang mit den Josephinischen Reformen drohende Auflösung des Seminars konnte durch Intervention des Domstifts bei Kaiser Joseph II. 1786 abgewendet werden.

Anfangs waren alle Zöglinge Sorben. Nach der Unterstellung des zuvor zur Erzdiözese Prag gehörigen Zittauer Kreises unter das Bautzener Domstift kamen ab 1784 zunehmend Deutsche aus der Oberlausitz ins Wendische Seminar, nach 1827 auch Personen aus der sächsischen Diaspora. Die an den Besuch österreichischer Bildungsanstalten gebundenen Stipendien und Vergünstigungen waren der Hauptgrund, weshalb das Domstift trotz politischer Forderungen nach Verlegung ins Inland das Seminar bis 1922 in Prag unterhielt.

Im Wendischen Seminar erhielten die Alumnen geistliche Erziehung. Für Sorben kamen – in der Hausordnung geregelt – fakultativ muttersprachliche Übungen und slawistische Studien hinzu. Diese bestanden im 18. Jh. in regelmäßiger Lektüre sorbischer religiöser Bücher, der Anfertigung von Übersetzungen aus anderen Sprachen und im Studium der sorbischen Grammatik. 1797 berief der Bautzener Domdekan und spätere Bischof Franc Jurij Lok den Slawisten Josef Dobrovský als Protektor, der 30 Jahre allsonntäglich bei den sorbischen Studenten seine „Slawischen Collegia“ abhielt. Ihm folgten im Amt der sprachenkundige Museumsbibliothekar Václav Hanka, der Prager Stadtarchivar und Volksliedsammler Karel Jaromír Erben und der Slawistikprofessor Martin Hattala. Diese Kontakte zu Vertretern der tschechischen Kultur, aber auch anderer Völker (Karl Heinrich Seibt, Bernard Bolzano, Jernej Kopitar), bewährten sich in der nationalen Wiedergeburt der Sorben.

Wendisches Seminar in Prag, 1922; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Auf Veranlassung des Domstifts gründeten 1846 sechs Seminaristen die sorbische Schüler- und Studentenvereinigung Serbowka. Aus der Hausbibliothek des Seminars erwuchs eine der umfangreichsten sorabistischen Bibliotheken (→ Hórnik-Bibliothek). Das Wendische Seminar ermöglichte den katholischen Sorben eine relativ eigenständige nationale und kulturelle Entwicklung. Aus den Reihen der Zöglinge gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. viele sorbische Gelehrte und Dichter hervor, so Prälat Jakub Buk, Domkapitular Michał Hórnik oder die Geistlichen Mikławš Andricki, Jakub Bart-Ćišinski, Józef Nowak (→ Literatur). Insgesamt besuchten 768 Alumnen das Wendische Seminar: 428 Sorben und 319 Deutsche, 21 gehörten anderen Nationalitäten an. Die überwiegende Mehrheit wurde Priester und war in der Oberlausitz resp. im gesamten Gebiet des heutigen Bistums Dresden-Meißen tätig.

Nach Wiedererrichtung des Bistums Meißen im Juni 1921 wurde der schon länger angestrebte Rückzug aus dem slawischen Umfeld durchgesetzt und das Wendische Seminar 1922 schließlich – auch aus kirchenrechtlichen und pastoralen Gründen – geschlossen. Das Gebäude wurde Ende Oktober an den tschechischen Landesausschuss verkauft, der darin bald seine Steuerbehörde unterbrachte. Es folgten zahlreiche Proteste von sorbischen Geistlichen und katholischen Laien. Laut Gründungsurkunde war das Stammkapital auch zur Förderung mittelloser katholischer Jünglinge bestimmt, daher kam ein Teil der Kaufsumme in den 1920er und 1930er Jahren sorbischen Studierenden in der Tschechoslowakei zugute (z. B. auch dem Lyriker Jurij Chěžka).

Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte die Prager Freundesgesellschaft (→ Freundesgesellschaften), dass ihr der tschechische Landesausschuss bei seiner Plenartagung im September 1946 das Gebäude des Wendischen Seminars als „Lužický dům“ (Sorbisches Haus) zur Nutzung als Internat für sorbische Studierende übergab; 1947 kehrte die Hórnik-Bibliothek in das Haus zurück. Nach den tschechischen Februarereignissen von 1948 wurde die Gesellschaft in ihrer Tätigkeit behindert und schließlich zur Auflösung gezwungen. Sorbische Studenten wohnten bis 1954 im Wendischen Seminar, auch die niedersorbische Dichterin Mina Witkojc und der obersorbische Journalist Jurij Wićaz lebten in dem Haus (1947–1954 bzw. 1946–1974).

1960 erreichte das Bildungsministerium die Überführung des Gebäudes in Volkseigentum und übernahm es. Nach gemeinsamer Intervention sorbischer und tschechischer Vertreter durfte zumindest die Hórnik-Bibliothek in ihren Räumen im Erdgeschoss verbleiben. Sie fungierte für Jahrzehnte als Museum, als Begegnungsstätte und in den 1990er Jahren auch als Ort wissenschaftlicher Konferenzen. Infolge des verheerenden Hochwassers vom August 2002 wurde die Bibliothek ausgelagert. Langwierige Verhandlungen zwischen politischen Vertretern Sachsens, der Sorben und dem tschechischen Bildungsministerium ergaben, das die Freundesgesellschaft erneut einige Räume nutzen und die Bibliothek unterhalten darf. Heute finden im Wendischen Seminar Vorträge und kulturelle Veranstaltungen zu sorbischen Themen statt.

Lit.: F. Příhonský: Geschichte des Oberlausitzer Seminariums zu Prag, Bautzen 1874; G. Wuschanski: Das wendische Seminar St. Peter auf der Kleinseite in Prag, in: Die theologischen Studien und Anstalten der katholischen Kirche in Österreich, Hg. H. Zschokke, Wien/​Leipzig 1894; A. Morávek/​V. Zmeškal: Lužický dům v Praze (1728–1948), Praha 1948; Z. Boháč: Die Matrikel der Zöglinge des „Wendischen Seminars“ in Prag 1728–1922, in: Lětopis B 13 (1966); W. Zeil: Bolzano und die Sorben – Ein Beitrag zur Geschichte des „Wendischen Seminars“ in Prag zur Zeit der josefinischen Aufklärung und der Romantik, Bautzen 1967; D. Rothland: Das Wendische Seminar, in: Eine Kirche – zwei Völker, Bd. 1, Hg. D. Grande/​D. Fickenscher, Bautzen/​Leipzig 2003; M. Radek: Konec Lužického domu v Praze, in: Praha a Lužičtí Srbové, Red. P. Kaleta, Praha 2005.

Metadaten

Titel
Wendisches Seminar
Titel
Wendisches Seminar
Autor:in
Rothland, Dieter; Schön, Franz
Autor:in
Rothland, Dieter; Schön, Franz
Schlagwörter
Alumnat; Priesterausbildung; Bibliothek; Sorabistik; katholische Sorben
Schlagwörter
Alumnat; Priesterausbildung; Bibliothek; Sorabistik; katholische Sorben
Abstract

Alumnat für katholische Gymnasiasten und Theologiestudenten aus der Oberlausitz in Prag auf der Kleinseite, an der danach benannten Straße U Lužického semináře, auch als „Lausitzer Seminar St. Peter“ oder „Seminarium St. Petri“ bezeichnet.

Abstract

Alumnat für katholische Gymnasiasten und Theologiestudenten aus der Oberlausitz in Prag auf der Kleinseite, an der danach benannten Straße U Lužického semináře, auch als „Lausitzer Seminar St. Peter“ oder „Seminarium St. Petri“ bezeichnet.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter

Entdecke mehr

Kalender
Volksmusik­instrumente
Stilistik
Brigade­bewegung
Wassermann
Sprachen­politik