XS
SM
MD
LG
XL
XXL
🌐
Stilistik
von Sonja Wölkowa

Wissenschaftliche Disziplin, die die Differenzierung des sprachlichen Ausdrucks untersucht und beschreibt. Diese beruht auf der Auswahl von sprachlichen Ausdrucksmitteln aller Ebenen (Phonetik, Grammatik, Wortschatz, Syntax), die in verschiedenen Kommunikationssituationen als angemessen empfunden werden.

Aufgrund der unterschiedlichen Sprachsituation müssen Ober- und Niedersorbisch gesondert betrachtet werden: Das Niedersorbische unterliegt in seinen Verwendungssphären stärkeren Restriktionen als das Obersorbische. Die stilistische Differenzierung des Ersteren ist bisher weitgehend unerforscht, obwohl sie von den Sprechern durchaus wahrgenommen wird. Auskunft geben hier lediglich die Stilfärbung betreffende Qualifikatoren in Wörterbüchern (z. B. Manfred Starosta, 1999): amtlich, archaisch, biblisch, derb, dialektal, euphemistisch, ironisch, Kosewort, literarisch, pejorativ, poetisch, scherzhaft, umgangssprachlich, veraltend. Doch auch die Erforschung der Stilistik des Obersorbischen steckt noch in den Anfängen, einen Überblick über einschlägige Veröffentlichungen gab Hubert Žur 1986. Methodologisch basieren neuere Arbeiten zur sorbischen Stilistik auf dem strukturalistischen Beschreibungsansatz der Prager Schule.

Die stilistisch bedingte Auswahl sprachlicher Mittel hängt vom Kommunikationsziel (Anleitung oder Instruktion, Mitteilung, Konversation etc.), von der sozialen Charakteristik der Situation (offizieller oder familiärer Anlass der Kommunikation, Bildungsniveau und sozialer Status der Teilnehmer und ihr gegenseitiges Verhältnis) und vom Kommunikationskanal (mündlich oder schriftlich) ab. Auf dieser Grundlage unterscheidet die Stilistik verschiedene Funktionalstile, die durch typische Konstellationen der genannten Faktoren gekennzeichnet und für die jeweils andere Ausdrucksmittel typisch sind.

Beispiel für stilistisch differenzierte Äquivalente im Deutsch-obersorbischen Wörterbuch, Domowina-Verlag 1989

Für das Obersorbische können folgende Funktionalstile unterschieden werden: Umgangs- oder Konversationsstil, künstlerischer oder literarischer Stil, publizistischer Stil, Fachstil, administrativer Stil, religiöser Stil – wobei jeweils eine weitere Differenzierung nach Genres zu berücksichtigen ist. Die größte Textfülle und damit die deutlichste Differenzierung herrscht im Obersorbischen im Bereich des Umgangsstils, des publizistischen und des künstlerischen Stils.

Der obersorbische Umgangs- oder Konversationsstil ist charakteristisch für die alltägliche Kommunikation in obersorbischer Sprache. Primär handelt es sich um gesprochene Sprache. Ähnliche Züge tragen auch der Stil des privaten Briefwechsels sowie einige Typen von sprachlichen Äußerungen in den neuen Medien (Internetforen, Chats, SMS). Die mündliche Form und der spontane Charakter zeigen sich im meist einfachen Satzbau, der oft durch Unregelmäßigkeiten wie Satzabbrüche gestört wird. Von allen Funktionalstilen ist der Anteil an dialogischer Rede hier am höchsten. Die direkte Kontaktsituation bedingt die Verwendung von Kontaktformeln (z. B. Dobry dźeń ,Guten Tag‘, prošu ,bitte‘), Interjektionen (aha, ow jej), Anredeformeln (knjez ,Herr‘, knjeni ,Frau‘), von deiktischen (verweisenden) Sprachmitteln (tam ,dort‘, jutře ,morgen‘), von Ellipsen (Twój bus! ,Dein Bus!‘ = Sieh hin, da kommt dein Bus!) Typisch sind die hohe Frequenz von expressiven Ausdrucksmitteln und die häufige Verwendung umgangssprachlicher und dialektaler Formen. Eine Besonderheit des Umgangsstils bei Zweisprachigen ist das „Springen“ zwischen den Sprachen – oft werden im sorbischen Text einzelne Wörter oder ganze Passagen aus dem Deutschen eingeschoben.

Der publizistische Stil des Obersorbischen wird v. a. in der Presse und in Zeitschriften verwendet, seit 1951 auch im Rundfunk und seit der politischen Wende von 1989/90 in geringem Maße im Fernsehen. Neuerdings gibt es journalistische Internetangebote in sorbischer Sprache. In Abhängigkeit vom Medium geht es um schriftliche oder mündliche Äußerungen. Für die Wahl der Ausdrucksmittel existieren verschiedene Strategien: einerseits eine gewisse Automatisierung (Rubriken, Formate) und Stereotypisierung (politische Terminologie, Modewörter), andererseits das Streben nach Ausdrucksvariation. Häufig wirkt hier die deutsche Publizistik/​Journalistik als Impuls, Lehnübersetzungen von Redewendungen und neuen Termini sind die Folge. Daher ist die Publizistik ein wesentlicher Motor bei der Bildung von Neologismen im Obersorbischen. Weitere Spezifika des publizistischen Stils sind Tendenzen zur Ausdruckskondensation, zur Verallgemeinerung der Aussage sowie die häufige Verwendung expressiver und umgangssprachlicher Ausdrucksmittel, um beim Empfänger den Eindruck von Vertrautheit zu erzeugen. Diesem Effekt dienen z. B. gelegentlich verwendete, in der Schriftsprache sonst gemiedene deutsche Lehnwörter (kniler, stipwizita, šatěrunka, špocěrom).

Die Domäne des künstlerischen Stils ist die Literatur. Gemäß der Differenzierung in Prosa, Lyrik und Dramatik und der Vielfalt literarischer Genres werden sehr unterschiedliche Stilmittel eingesetzt; gemeinsam ist ihnen die Orientierung auf das Erreichen ästhetischer Effekte, dagegen ist die Informationsfunktion weniger wichtig als bei publizistischen Texten. Im künstlerischen Stil können Ausdrucksmittel aus sämtlichen Existenzformen und Schichten, auch aus früheren Entwicklungsstadien der Sprache eingesetzt werden (historische Stilisierung). Der ästhetischen Funktion dienen z. B. in der Lyrik die Mittel von Reim und Rhythmus, die Lautinstrumentierung, das Sprachspiel mit Doppeldeutigkeiten oder die indirekte Ausdrucksweise durch sprachliche Bilder, in der Prosa die sprachliche Differenzierung von Narration und Figurensprache. Ähnliches lässt sich von künstlerischen Neologismen sagen, z. B. bei Jurij Brězan zagardinowane wokna („zugardinte“ Fenster), raduwědźer Jakub (der „Ratwisser“ Jakub).

Synonymwörterbuch für Grundschüler von Lubina Hajduk-Veljkovićowa, Domowina-Verlag 2010

Die längste Tradition hat im Obersorbischen neben dem Konversationsstil der religiöse Stil; obersorbische religiöse Texte mit schriftsprachlichem Anspruch gibt es seit der Wende vom 17. zum 18. Jh. Grundlage bildet hier der Stil der Bibeltexte. Die lange Tradition dieses Funktionalstils hat zur Folge, dass v. a. archaische Elemente in Lexik und Grammatik stilbildend sind (z. B. das Verb dźeše ,er sagte‘ statt des neutralen rjekny, praji oder archaische Aoristformen des Typs padźe statt padny ,er fiel‘). Daneben sind verschiedene rhetorische Stilfiguren typisch wie etwa der syntaktische Parallelismus (Isokolon), Antithesen, rhetorische Fragen oder synonymische Aufzählungen und Pleonasmen. Eine syntaktische Besonderheit des religiösen Stils, entstanden unter dem Einfluss der lateinischen Vorlagen, ist die Nachstellung des adjektivischen Attributs (dźěći Bože ,Kinder Gottes‘; Gebetsformel: w mjenje Wótca a Syna a Ducha swjateho ,im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes‘); im Regelfall wird im Obersorbischen das Attribut vorangestellt.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich im Obersorbischen der administrative und der Fachstil. Ersterer ist im Wesentlichen auf interne Bereiche beschränkt (z. B. Satzungen und dienstliche Korrespondenz sorbischer Institutionen und Vereine). Administrative Schriftstücke von überlokaler Bedeutung (z. B. die Sorben betreffende Gesetzestexte) werden mitunter als Paralleltexte ohne Rechtskraft veröffentlicht. Kaum entwickelt ist die Textsorte der amtlichen Formulare in obersorbischer Sprache. Dabei geht es hauptsächlich um schriftliche Texte, die durch eine standardisierte und stark am Deutschen orientierte Terminologie gekennzeichnet sind. Der Anteil an Äußerungen mit Instruktionscharakter ist hier verhältnismäßig hoch, doch werden diese in der Regel nicht mit Imperativformen ausgedrückt, sondern u. a. mit Modalverben wie měć, dyrbjeć, směć ,haben, müssen, dürfen‘.

Beim Fachstil sind eine wissenschaftliche und eine populäre Variante zu unterscheiden. Letzterer begegnet man besonders in Schulbüchern, mitunter auch in Zeitschriften, die Thematik reicht von naturwissenschaftlichen Fächern bis zur Musiktheorie. Der wissenschaftliche Stil ist im Obersorbischen dagegen beinahe auf Abhandlungen über interne, die Sorben betreffende Themen und auf die Geisteswissenschaften beschränkt. Typisch sind die Dominanz der Informationsfunktion, eine exakte Ausdrucksweise und die Verwendung einer genormten Terminologie; v. a. im wissenschaftlichen Stil werden häufig komplexe Satzstrukturen verwendet. Die Ausdrucksmittel sind meist stilistisch neutral, umgangssprachliche oder dialektale Elemente erscheinen nur ausnahmsweise.

Lit.: H. Faßke unter Mitarbeit von S. Michalk: Grammatik der obersorbischen Schriftsprache der Gegenwart. Morphologie, Bautzen 1981; H. Žur: Zaběra ze stilistiku w Serbach poslednich sto lět, in: Rozhlad 36 (1986) 7/8–10; S. Wölke: Stilistiska diferenciacija serbšćiny, in: Serbšćina. Najnowsze dzieje języków słowiańskich, Red. H. Faska, Opole 1998; S. Wölke: Stilistiske potency hornjoserbskich frazeologizmow a jich zasadźenje w načasnej publicistice, in: Lětopis 50 (2003) 2.

Metadaten

Titel
Stilistik
Titel
Stilistik
Autor:in
Wölkowa, Sonja
Autor:in
Wölkowa, Sonja
Schlagwörter
Funktionalstil (Sprache); Standardsprache; Dialekt; Umgangssprache; Obersorbisch; Literatur; Journalismus
Schlagwörter
Funktionalstil (Sprache); Standardsprache; Dialekt; Umgangssprache; Obersorbisch; Literatur; Journalismus
Abstract

Wissenschaftliche Disziplin, die die Differenzierung des sprachlichen Ausdrucks untersucht und beschreibt. Diese beruht auf der Auswahl von sprachlichen Ausdrucksmitteln aller Ebenen (Phonetik, Grammatik, Wortschatz, Syntax), die in verschiedenen Kommunikationssituationen als angemessen empfunden werden.

Abstract

Wissenschaftliche Disziplin, die die Differenzierung des sprachlichen Ausdrucks untersucht und beschreibt. Diese beruht auf der Auswahl von sprachlichen Ausdrucksmitteln aller Ebenen (Phonetik, Grammatik, Wortschatz, Syntax), die in verschiedenen Kommunikationssituationen als angemessen empfunden werden.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter

Entdecke mehr

Sprachpolitik
Hochzeits­bitter
Archive
Panslawismus
Hexenbrennen
Bibliografie