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Ludowe basnistwo
Susanne Hose

Gesamtheit der aus dem Volksmund bewahrten poetischen Überlieferung. Der Begriff geht auf Johann Gottfried Herder zurück. In den nord- und osteuropäischen sowie den angelsächsischen Ländern wird „Folklore“ für die sprachliche Überlieferung und „Folkloristik“ für die entsprechende Fachdisziplin benutzt. Neben den volkstümlichen Erzählungen wie Märchen, Sage und Schwank zählen zur Volksdichtung szenische und musikalische Formen wie Volksschauspiel und Volkslied (→ Legendenlied, → Kirchenlied), Sprachformeln wie Sprichwort und Redensart (→ Phraseologie) oder Funktionsformeln wie Gruß, Zauberspruch (→ Volksmedizin) sowie formelhafte Inschriften. Der Begriff Volksdichtung ist von der volkskundlichen Erzählforschung (→ Volkskunde) in der zweiten Hälfte des 20. Jh. erweitert worden um die Genres Klatsch und Gerücht, um Erlebnisberichte und autobiografische Erzählungen.

Herder als Begründer des Konzepts der Volkspoesie erhob den naiven, ungekünstelten Stil v. a. der Volkslieder zur poetischen Norm, an der sich die Dichtung orientieren sollte. In der sorbischen Volksdichtung fällt die Vorliebe für das Diminutiv auf, das als sprachliches Gestaltungsmittel die Formelhaftigkeit erhöht (niedersorb. Běłu tu rucycku lubcycce, złoty ten pjeršćenik na palack ,dem Liebchen das weiße Händchen (reichen), das goldene Ringlein aufs Fingerlein (stecken)’). Sprachliche Bilder (Metaphern, Epitheta, Allegorien) und häufige Wiederholungen verfestigen die Texte bes. in den breit erzählenden Genres Märchen und Volkslied, v. a. den Balladen, und erhöhen die Reproduzierbarkeit. So stehen z. B. die Farben Weiß und Rot für die Schönheit eines Mädchens (obersorb. rjana holčka, běła, čerwjena ,das schöne Mädchen, das weiße, rote’); beliebt sind tautologische Epitheta (obersorb. slěpc slěpcowski ,Nichtsnutz nichtsnutziger’, lubka najlubša ,Liebchen allerliebstes’). Die Dreizahl ist im Märchen ein wichtiger Teil der Handlungsstruktur. An die Stelle von Abstrakta treten konkrete Beispiele oder Personifikationen. Die emotionale Anteilnahme am Erzählten oder Gesungenen wird durch die Verwendung des – in der heutigen Standardsprache ungebräuchlichen – ethischen Dativs angezeigt (obersorb. Po tej mi dróze mi šěrokej, běštaj tam, běštaj hrodaj mi dwaj ,An der Straße mir, der mir breiten, waren dort, waren Schlösser mir zwei’). Ein Merkmal der Sage ist die schmucklose, karge Sprache, die auf poetische Bilder und weitschweifige Beschreibungen verzichtet. In ihr dominiert die Angst im Gegensatz zum Schwank, in dem die Freude an der Komik überwiegt, der aber in seiner Bauart ebenso schlicht wie die Sage wirkt. Ein weiteres Gestaltungselement in der Volksdichtung ist die Personifikation bestimmter sozialer Typen oder Charaktere, etwa des pfiffigen Heidebauern, der fleißigen oder faulen Bauerntochter, der bösen Stiefmutter usw.

Hana Chěžcyna, sorbische Märchenerzählerin aus Horka; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Die sorbische Volksdichtung projiziert zwar kein exaktes Abbild der sozialen Wirklichkeit, enthält aber zahlreiche Bezüge zur Arbeits- und Lebenswelt der Dorfbewohner und Städter in der Ober- und Niederlausitz des ausgehenden 18. und des 19. Jh. Elemente höfischer Konventionen und Figuren, wie der König, der Ritter und das Burgfräulein, erscheinen nur vereinzelt in den Zaubermärchen und in einigen Volksliedern, sie werden auch da den Lausitzer Gegebenheiten angepasst. Die sich in der Volksdichtung reflektierenden Lebenserfahrungen, Normen und Werte entsprechen dem Weltbild der Überlieferungsträger, das stark von den Institutionen Schule und Kirche geprägt wurde. Dabei schlossen Schulwissen, christliche Frömmigkeit und Dämonenglaube (z. B. von Mittagsfrau, Wassermann oder Hausgeistern wie dem obersorb. zmij, niedersorb. plon ,Drak’, oder dem obersorb. kubołćik ,Kobold’) einander nicht aus, sondern gingen wie in den Sagen oder den Besprechformeln eine Symbiose ein.

Die mündliche und die literarische Tradition haben einander durchdrungen. Diffusionsprozesse zeigen sich zum einen in der Übernahme von Stoffen, Formen und Motiven aus der Volksdichtung in die sorbische Literatur, zum anderen in der Verbreitung von Sprichwort- und Erzählmotiven aus dem klassischen und dem vorderasiatischen Schrifttum in der sorbischen Überlieferung (→ Krabat). Zwar konnten im 18. und 19. Jh. nur wenige Menschen in bäuerlichen und kleinbürgerlichen Schichten sorbisch lesen und schreiben. Seinerzeit sorgten jedoch typische Vorlesestoffe wie die Bibel (→ Bibelübersetzungen), das → Gesangbuch, der Katechismus, einige religiöse Erbauungsschriften (→ Pietismus), der Kalender sowie auf Flugblättern gedruckte Gelegenheitsschriften für die Vermittlung literarischer Stoffe. Diese wurden wiederum im privaten Umkreis und in der Nachbarschaft bzw. in der Öffentlichkeit von Kirche, Schule, Schenke und verschiedenen Kreisen, etwa der Spinnstube, mündlich weitergegeben. So erklärt sich die Fülle an Varianten zu demselben Erzählmotiv, derselben Melodie oder sprichwörtlichen Formel. Die Vermittlung über die Sprachgrenzen hinweg besorgten Berufsreisende wie Hausierer, Handwerker, Soldaten und Wanderprediger. Bes. die Volksmusikanten betätigten sich als professionelle Übersetzer. Sie verfügten über ausreichend Talent und Kreativität sowie ein berufliches Interesse an „Neuem“. So sind die sorbischen Balladen den deutschen, tschechischen, slowakischen und polnischen Fassungen zwar sehr ähnlich, wurden jedoch inhaltlich der sozialen Realität des sorbisch-bäuerlichen Milieus angepasst. Großen Anteil an den Adaptionen hatten Kantoren und Schulmeister. Das Kralsche Geigenspielbuch enthält z. B. neben sorbischen Liedern und Tänzen auch deutsche Titel, die zwischen 1780 und 1790 in der Umgebung des Klosters St. Marienstern in Panschwitz-Kuckau aufgezeichnet wurden. Mit wachsender Lesefähigkeit gewannen seit Mitte des 19. Jh. auch Zeitungen und billige Hefte mit Kolportageliteratur sowie originärer Lyrik aus dem Volk an Einfluss auf das mündliche Erzähl-, Lied- und Spruchgut. Mit zunehmender Zweisprachigkeit der Bevölkerung, namentlich in den Randgebieten, wurde dieses auch in deutsche Sprache aufgezeichnet bzw. von den Sammlern ins Deutsche übersetzt.

Die sorbische Volksdichtung wurde im 19. Jh. gemäß den vorherrschenden ethischen und ästhetisch-sprachlichen Grundsätzen erfasst. Mit der Verschriftlichung einher ging die Übertragung der dialektalen Erzählungen, Sprüche und Lieder in die ober- und niedersorbische Schriftsprache nebst einer inhaltlichen Redaktion, da die Texte und Melodien in der Regel außerhalb ihres eigentlichen Lebensbereichs (→ Bräuche, Rituale, Erzählsituationen) in Sammlungen erfasst und publiziert werden sollten. Aufgezeichnet wurde hauptsächlich nach Beobachtung und Befragung auf dem Lande. Den Anstoß vermittelte die 1779 gegründete Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften, die sich zu einem Zentrum slawistischer Studien und deutsch-slawischer Wechselseitigkeit entwickelte. In den Arbeiten des deutschen Philologen Karl Gottlob von Anton und des sorbischen Gymnasiallehrers Jan Hórčanski entstand das Bild von den Sorben als schuldlos unterdrücktes Volk, das sich lediglich auf seine Überlieferung besinnen müsse, um national zu erstarken (→ nationale Wiedergeburt). Das aus der Altertumskunde erwachsene Interesse maß der Volksdichtung die Bedeutung früher literarischer Zeugnisse bei und suchte in der Überlieferung nach Spuren eines Entstehungsmythos (→ Mythologie), der die slawische Schicksalsgemeinschaft begründen konnte.

Erste Ergebnisse veröffentlichten die sorbischen Studenten um Handrij Zejler an der Universität Leipzig in ihrer 1826 gegründeten handschriftlichen Zeitschrift „Sserska/​Serbska Nowina“ (Sorbische Zeitung). Zejler orientierte sich an der Volksdichtung, um eine Dichtung zu schaffen, die wieder zurückfließen und auf das Sozium „sorbisches Volk“ befruchtend wirken sollte. Die Sammlung „Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz“ (1841/43) von Jan Arnošt Smoler und Leopold Haupt vereint die Aufzeichnungen mehrerer Sammler. Sie repräsentiert enzyklopädisch den Wissensstand über Geschichte, Sprache, Lebens- und Denkweise der sorbischen Landbevölkerung bis Mitte des 19. Jh. Ab den 1860er Jahren erschienen auf Initiative Michał Hórniks in den sorbischen Zeitungen Ergänzungen, was schließlich zur erneuten Beschäftigung mit dem Thema durch eine jüngere Generation volkskundlich interessierter Forscher führte. Wilibald von Schulenburg, Adolf Černý und Arnošt Muka lieferten in ihren Veröffentlichungen detaillierte Informationen über Aufnahmeorte und -situationen sowie ihre Gewährspersonen. Jan Wjela-Radyserb schuf mit seinen lebenslangen Aufzeichnungen von Sprichwörtern, Redensarten und metaphorischen Wendungen einen am Volksmund orientierten sprachlichen Fundus, der stilbildend auf die Literatur einwirkte.

Die Bewertung der Volksdichtung als Ausdruck vormodernen Bewusstseins führte im 20. Jh. dazu, dass sie innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur einen hohen Stellenwert erhielt und für die Heimatpflege und Heimatkunde genutzt wurde. Mit der bildnerischen Darstellung des Komplexes hat sich als Erster Měrćin Nowak-Njechorński beschäftigt, der gemäß seiner eigenen Berufung als „Maler des sorbischen Volkes“ dem Figurenensemble der Volksdichtung ein „kanonisches“ Äußeres verlieh, das durch ständige Reproduktion im Gedächtnis der Sorben Wurzeln schlug. Literatur und Kunst haben sich ausgiebig von der Volksdichtung inspirieren lassen.

Lit.: P. Nedo: Grundriß der sorbischen Volksdichtung, Bautzen 1966; H. Bausinger: Formen der „Volkspoesie“, Berlin 1968; H. Strohbach u. a.: Deutsche Volksdichtung. Eine Einführung, Leipzig 1979; Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Hg. L. Röhrich/​E. Lindig, Tübingen 1989.

Metadaty

Titel
Ludowe basnistwo
Titel
Ludowe basnistwo
Awtor:ka
Hose, Susanne
Awtor:ka
Hose, Susanne
Klucowe słowa
bajka; powěsć; směšk; ludowy spiw; pśisłowo; Redensart; literatura; źiśeca a młoźinska literatura; ludowa literatura; Volkserzählung; cytanje; Erzählen; knigły
Klucowe słowa
bajka; powěsć; směšk; ludowy spiw; pśisłowo; Redensart; literatura; źiśeca a młoźinska literatura; ludowa literatura; Volkserzählung; cytanje; Erzählen; knigły
Zespominanje

Cełk w luźe wobchowanego poetiskego namrěśa. Serbske ludowe basnistwo wopśimjejo wjele póśěgow na źěłowy a žywjeński swět wejsanarjow a měsćanarjow we Łužycy na kóńcu 18. stolěśa a w 19. stolěśu.

Zespominanje

Cełk w luźe wobchowanego poetiskego namrěśa. Serbske ludowe basnistwo wopśimjejo wjele póśěgow na źěłowy a žywjeński swět wejsanarjow a měsćanarjow we Łužycy na kóńcu 18. stolěśa a w 19. stolěśu.

Wopśimjone w zběrce
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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