Gattung der Literatur, die Texte in
ungebundener Schreib- oder Redeweise umfasst. Die Anfänge der sorbischen Prosa
reichen weit in die Vergangenheit zurück, Sagen,
Märchen, Anekdoten u. a. Überlieferungen
bilden einen wesentlichen Teil der mündlichen Volksdichtung.
Originäre sorbische Prosa entstand erstmals im frühen 19. Jh., als der Bauer und
Autodidakt Hanso Nepila aus Rohne ca. 30 autobiografische Handschriften
in Tagebuchform anfertigte (wovon fünf erhalten sind; → Schleifer Dialekt). Sie waren jedoch lange
unzugänglich und beeinflussten spätere Schreiber daher nicht. Schöpferische
Impulse gingen hingegen von Übersetzungen aus. Ursprung der Belletristik ist ein
weit verstandenes religiöses Schrifttum aus dem 18./19. Jh., wozu damals die Bibelübersetzung, sorbische
Versionen deutschsprachiger Volksliteratur und nacherzählte christliche Legendenlieder (meist Apokryphen und
Heiligenviten) gehörten. Die 1786 publizierte erste sorbische Erzählung „Krótka
powěsć wot teho chudeho Jozefa“ (Kurze Sage vom armen Joseph) sowie ähnliche
Versuche waren keine originalen Schöpfungen, sondern entweder Übertragungen oder
Übernahmen von Motiven aus unbekannten deutschen Ausgangstexten.
Erzählung über die Schlacht bei Hochkirch von Jan Wjela-Radyserb, 1852
Ausgaben sorbischer Prosa; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Der eigentliche Beginn der Gattung ist verbunden mit Handrij Zejler. Sein Prosaschaffen im 19.
Jh. beschränkte sich jedoch auf Kunstmärchen und Fabeln, weshalb als erster
sorbischer Erzähler Jan Wjela-Radyserb
gilt. Neben kurzen literarischen Formen folkloristischer Natur (z. B. Balladen)
edierte er 1847 die erste Sammlung sorbischer Erzählungen „Pojdancżka k
wobudźenju a k poljepschenju wutroby sa Sserbow“ (Erzählungen zur Erweckung und
Erbauung der Herzen für die Sorben); weitere Versuche betrafen vornehmlich
historische Themen. Wjelas Prosa wurde zum Vorbild für andere sorbische Autoren
und bewirkte analoge Bemühungen. Im dritten Viertel des 19. Jh. setzte eine
rasche Entwicklung ein, die Prosa erreichte ihren ersten Höhepunkt. Zwischen
1847 und 1860 entstanden über 30 meist originale Texte (von Michał Domaška, Mikławš Jacsławk u. a.), die fast alle in
Buchform herausgegeben wurden. Die nachfolgende Stagnation suchte Jakub Bart-Ćišinski mit seinem Kurzroman
„Narodowc a wotrodźenc“ (Patriot und Renegat, 1878/79) zu überwinden. Bis zur
Jahrhundertwende wurden weitere Versuche unternommen, allerdings kam es zu
keinem kontinuierlichen Ausbau der Gattung. Zu Beginn des 20. Jh. bestimmten
Mikławš Andricki und Michał Nawka die sorbische Prosa thematisch
und formal. Der eine bediente mit publizistischem Einschlag als Erster das Genre
des Feuilletons, später schrieb er realitätsnahe Skizzen und lyrische
Reflexionen über das Leben auf dem Dorf. Der andere war Vertreter eines
„volkstümlichen Stils“ in Form und Inhalt, was damals eine ästhetische Neuerung
bedeutete. Neben beiden steht Jurij
Winger, der mit „Hronow“ (1893) erstmals einen kurzen
historischen Text vorlegte.
In der Zwischenkriegszeit erfuhr die Prosa einen Aufschwung. Das höchste Niveau
erreichten die Arbeiten Jakub
Lorenc-Zalěskis. Auf die Erzählung „Serbscy rjekowje“ (Sorbische
Helden, 1900, 1922) über die Abwehrkämpfe der Sorben im 10. Jh. und die
märchenhaft-romantische Novelle „Kifko“ (1926–1928) folgte das
literarisch-philosophische Prosapoem „Kupa zabytych“ (1931, „Die Insel der
Vergessenen“, 2000), das „merkwürdigste Buch, das je in sorbischer Sprache
erschien“ (Ota Wićaz). Das
autobiografische Romanprojekt „W putach wosuda“ (In den Fesseln des Schicksals,
1933–1936) blieb Fragment. Im Schatten von Lorenc-Zalěski wirkten die Autoren
Romuald Mikławš Domaška und
Mikławš Bjedrich-Radlubin.
Ersterer machte sich zwischen 1926 und 1936 um das historische Genre verdient,
Letzterer verlieh seinen humoristischen Skizzen sprachlich-stilistischen Glanz.
In dieselbe Periode fallen die Debüts jüngerer Schriftsteller. Zu den
Erzählungen „Wusadny“ (Der Aussätzige, 1922/23) von Marja Kubašec und „Stary Šymko“ (1924, „Der
alte Šymko“, 1961) von Jan Skala –
einer der besten Novellen in der sorbischen Literatur – trat die umfangreiche
dokumentarische Prosa des Grafikers Měrćin
Nowak-Njechorński. Er gab dem Reisebericht eine zeitgemäße
Gestalt, in den 1930er Jahren erfuhren seine satirischen Texte (besonders
Kunstmärchen und Fabeln) größere Resonanz. Bis zum Verbot sorbischer
Publikationen 1937 (→ NS-Zeit) entwickelte
sich die Prosa stabil, blieb aber hinter der Lyrik quantitativ und qualitativ zurück. Grundlagen für eine
umfassende Entfaltung der Gattung nach 1945 waren jedoch gelegt.
Suhrkamp-Ausgabe von Jurij Brězans erstem Krabat-Roman, 2004
In den ersten 20 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehr sorbische
belletristische Werke veröffentlicht als in der gesamten Zeit von der nationalen Wiedergeburt Mitte
des 19. Jh. bis 1937. Nun dominierte die Prosa erstmals gegenüber der Lyrik. Sie
wurde dabei von der Kulturpolitik entschieden gefördert. Diese Unterstützung kam
v. a. dem Roman zugute, der in der sorbischen Literatur neu war. Vor dem Krieg
hatte es den Roman praktisch nicht gegeben, denn neben den Begrenzungen einer
„Kleinliteratur“ war die sorbische Prosa vom „exogenen Determinismus“ betroffen
(d. h. der Abhängigkeit der Literaturentwicklung von äußeren Faktoren), was eine
Dominanz der kleinen Formen bewirkte. Wie z. T. in der Periode zuvor erlangten
bei der beschleunigten Entfaltung der Prosa – v. a. von 1945 bis 1970 –
Übersetzungen aus der Weltliteratur erneut eine inspirierende Funktion.
Die Hauptthemen der sorbischen Prosa nach 1945 lassen sich kurz zusammenfassen.
Neben einer verblassenden, u. a. von Richard
Iselt fortgesetzten sentimentalen Traditionslinie treten drei
Stoffbereiche in Konkurrenz zueinander: Krieg, Geschichte und Gegenwart, d. h.
die Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen und ökonomischen
Veränderungen. Beispiele für die Abrechnung mit der Kriegszeit waren etwa Marja
Kubašec’ Erzählungen aus dem Band „Row w serbskej holi“ (1949, „Das Grab in der
Heide“, 1990) sowie zwei Romane Anton
Nawkas: „Pod wopačnej łopaću“ (Unter falschem Spaten, 1961) und
„Pod wopačnej flintu“ (Unter falscher Flinte, 1964). Als diese Welle Mitte der
1970er Jahre abebbte, rückten historische Themen ins Zentrum, wie sie schon im
19. Jh. vorgeherrscht hatten. Ben
Budar verfasste 1955/56 zwei längere Erzählungen, Jurij Wjela 1968 den Mikroroman aus den Hussitenkriegen „Pětr z Přišec“ (Peter
von Preischwitz). Den Wunsch der Literaturkritik nach einem großen Epos über das
18. bzw. 19. Jh. erfüllte Kubašec mit der Trilogie „Bosćij Serbin“ (1963, 1964,
1967) sowie dem Zyklus „Lěto wulkich wohenjow“ (Das Jahr der großen Brände,
1970) und „Nalětnje wětry“ (Frühlingswind, 1978).
Finnische Ausgabe sorbischer Prosa „Der blinde Buchhändler“, übersetzt von Eero Balk, 2010
Zum auffälligsten Themenkreis wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jh. die
realsozialistische Gegenwart. Zu verzeichnen war ein weites Spektrum – von
Jurij Brězans Romanfragment „MAS“
(1949) über schematische Werke der 1950er und 1960er Jahre bis zu Křesćan Krawc’ Bauernroman „Wočakńmy nalěćo“
(1989, „Meine Braut, deine Braut?“, 1990). Forderungen nach positiver
Darstellung der Industrialisierung, der Kollektivierung der Landwirtschaft oder der gesellschaftlichen
Umgestaltung in den Nachbarländern kamen mehrere Autoren nach. Brězan edierte in
Berlin (Ost) das erste deutschsprachige Buch eines sorbischen Autors
(Erzählungen und Gedichte mit dem Titel „Auf dem Rain wächst Korn“, 1951), mit
seiner autobiografisch angelegten Felix-Hanusch-Trilogie (1958–1964) etablierte
er den sozialistischen Realismus in der sorbischen Prosa. In Reportagen und
Feuilletons dokumentierte Nowak-Njechorński kontinuierlich das Leben auf dem
Dorf. Zwei Gegenwartsromane publizierte Jurij
Koch („Mjez sydom mostami“, Zwischen sieben Brücken, 1968 und
„Róžamarja abo Rozžohnowanje we nas“, Rosemarie oder Verabschiedung in uns,
1975). Zum Ereignis, das sich kaum in die genannten Schemata einordnen ließ,
wurde der Roman „Dny w dalinje“ (1968, „Tage in der Ferne“, 2003); Marja Młynkowa bildete darin die Vor- und
Nachkriegszeit ab. Auf formaler Ebene nutzte sie intensiv Skaz (russischer
Erzählstil) und schuf ein eindringliches psychologisches Abbild der Hauptfigur,
eines sorbischen Lehrers vor 1945.
Allmählich nahm das Lob der Industrialisierung, wie es z. B. Nowak-Njechorński
praktizierte, ab. Ende der 1960er und besonders in den 1970er Jahren kam es zu
einer Neuorientierung, die sich hauptsächlich in zwei Erscheinungen äußerte: 1.
in der Erkenntnis der negativen Auswirkungen, wie sie die Betonung von
„industriellen“ Themen und die Abkehr von „volkstümlichen“ Stoffen mit sich
brachten; 2. im Eintritt einer jüngeren Generation in die sorbische Literatur,
was eine ästhetische Veränderung bedeutete. Es erfolgte eine künstlerische
Transformation folkloristischer Genres und Motive, am sichtbarsten wohl in
Brězans „Krabat“-Stoff: „Čorny młyn“ (1968, „Die Schwarze Mühle“, 1968),
„Krabat“ (1976, „Krabat oder Die Verwandlung der Welt“, 1976) und „Krabat. Druha
kniha“ (1994, „Krabat oder Die Bewahrung der Welt“, 1995) bilden als Ganzes ein
episches Panorama, das eine realgeschichtlich-national-folkloristische und eine
mythisch-philosophisch-universelle Ebene besitzt. Die beiden „Krabat“-Romane
zählen zu den wegweisenden Werken der sorbischen Prosa. Den Reichtum der
Folklore nutzte Jurij Koch in einigen Erzählungen der Textsammlung „Wosamoćeny
Nepomuk“ (1978, „Der einsame Nepomuk“, 1980) sowie in der Novelle „Wišnina“
(1984, „Der Kirschbaum“, 1984). Weitere seiner Texte, vornehmlich Reportagen und
Feuilletons, veranschaulichten das wachsende Gewicht der Umweltproblematik in
der DDR. Um Kito Lorenc, der den
Nachwuchs förderte, scharte sich in den 1970er Jahren eine Gruppe von Autoren,
unter denen in der Prosa Angela
Stachowa herausragte. Viele ihrer Erzählungen beweisen eine
Weiterentwicklung der Form – z. B. „Dótknjenje“ (1980, „Die Berührung“, 1981);
inhaltlich überwogen Alltagsprobleme, woran Jüngere nach 1989 anknüpfen konnten.
Im Gattungsgefüge nahmen in den 1970er und 1980er Jahren die großen epischen
Formen zugunsten einer Kurzprosa ab, zu deren editorischem Äquivalent in
regelmäßigen Abständen die Anthologie wurde – und zwar für ober- und
niedersorbische Autoren gleichermaßen. Im Vorfeld der politischen Wende von 1989/90 erfuhr die
Erzähltechnik des ausgesprochenen Monologs einen spürbaren Zuspruch. Sie
bevorzugte Beno Budar in seinen
authentischen Sammlungen „Mjez nami prajene“ (Unter uns gesagt, 1989) und „Tež
ja mějach zbožo“ (Auch ich hatte Glück, 2005), ebenso Jurij Krawža in dem Abrechnungsroman
„Wałporny woheń“ (1990, „Die verlorenen Söhne“, 1991).
Hörbuch „Kupa zabytych“ von Jakub Lorenz-Zalěski, Domowina-Verlag 2011
Vor dem Hintergrund der sorbischen Literaturverhältnisse weist die Prosa nach
1989 einige charakteristische Merkmale auf. Kennzeichnend sind eine sinkende
Produktivität sowie wachsende Unterschiede in der künstlerischen Qualität; die
Professionalität nahm dabei – auch aufgrund neuer ökonomischer Erfordernisse
nach der deutschen Wiedervereinigung – ab. Der Rückgang betraf vornehmlich den
Roman, den nach 1989 neben Brězan „Salowčenjo“ (1997, „Die Leute von Salow“,
1997), „Die grüne Eidechse“ (2001) nur noch K. Krawc mit seiner
Familiengeschichte „Paradiz“ (2009, „Das Ende vom Paradies“, 2013) pflegte. Ein
weiteres Attribut der neuen Zeit war die Dominanz junger Autorinnen in der
Kurzprosa. Hier etablierten sich in den Jahren nach der Wende Měrka Mětowa, Kerstin Młynkec, Jěwa-Marja
Čornakec, Dorothea
Šołćina und Lubina
Hajduk-Veljkovićowa. Letztere legte 2006 mit „Pawčina złósće“
(Netz des Bösen) den ersten zeitgenössischen Krimi vor.
Markante Symptome der sorbischen Prosa seit ihrer Entstehung sind ein Hang zur
Didaktik sowie zur „Authentizität“, d. h. der häufige Rückgriff auf
(auto)biografisches Geschehen. In struktureller Hinsicht funktioniert die
Gattung eindeutig „national“. Räumlich ist sie geprägt durch die Bindung der
Handlung an das „reale“ Siedlungsgebiet des sorbischen Volkes, die Lausitz; die allermeisten
Werke spielen im ländlichen Milieu und die Hauptgestalt ist meist ein Sorbe, der
vom Autor tendenziell idealisiert wird.
Lit.: R. Jenč: Stawizny serbskeho pismowstwa, Bde. 1 u. 2, Budyšin 1954, 1960; J.
Młynk: Předsłowo, in: J. Młynk: Marja abo Wjelk w kralowskej holi, Budyšin 1964;
L. Hajnec: Proza přerosće zwučene rumy, in: Přinoški k stawiznam serbskeho
pismowstwa lět 1945–1990, Red. M. Völkel, Budyšin 1994; D. Scholze: Stawizny
serbskeho pismowstwa 1918–1945, Budyšin 1998; T. Derlatka: K stawej wuwića
serbskeje prozy, in: Sorabistiske přednoški III, Budyšin 2003.