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Literatur
von Dietrich Scholze

Schriftlich überlieferte Äußerungen und Bestrebungen als Resultate geistiger Tätigkeit, insbesondere in Form belletristischer Werke. Die schöngeistige Literatur der Sorben ist ein Ergebnis der Aufklärung. 1757 schrieb Jurij Mjeń nach dem Vorbild von Friedrich Gottlieb Klopstock den „Rěčerski kěrliš“ (Dichterlied) in Hexametern, mit dem die sorbische Sprache verteidigt und zugleich die weltliche sorbischer Dichtung eingeleitet wurde. Die Rezeption blieb auf gebildete Kreise beschränkt, von deutscher Seite wuchs jedoch das Interesse an Geschichte und Kultur des kleinen Volkes. In den Predigergesellschaften pflegte man eine barocke Gelehrtendichtung in Deutsch oder Latein, später auch in Sorbisch, die den Übergang zur Volkssprache mit vorbereitete (→ Wendische Predigergesellschaft). Der Sohn des o. g. sorbischen Dichters, Rudolf Mjeń, wurde mit dörflichen Stoffen zum Vorboten der Romantik. Diese Epochenströmung, die im östlichen Europa zur Ausbildung bürgerlicher Nationen entscheidend beitrug, bildete bei den Sorben eine Komponente der sog. nationalen Wiedergeburt, die als kulturelles Erwachen zu verstehen ist. Handrij Zejler als eigentlicher Begründer der sorbischen Literatur verband schon als Student in Leipzig aufklärerisches Engagement mit romantisch inspirierter Natur- und Liebeslyrik „im Volkston“ (1972–1996 Werkausgabe in sieben Bänden). Sein vielfältiges Wirken hat die literarische Kultur der sorbischen Oberlausitz nach Art eines klassischen Œuvres dauerhaft geprägt (bes. Gedichte, Tierfabeln, auch Libretti), dank seinem von Korla Awgust Kocor vertonten Oratorienzyklus „Počasy“ (Jahreszeiten, 1845–1860) auch die Musikkultur. Zum herausragenden „Erwecker“ wurde in der Wiedergeburtsperiode der Verleger, Herausgeber und Organisator Jan Arnošt Smoler, er gründete in Bautzen den ersten sorbischen Verlag (→ Verlagswesen).

Handrij Zejler; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Als erster niedersorbischer Dichter sowie Übersetzer trat nach 1850 Kito Fryco Stempel in Erscheinung, der in seinem didaktischen Epos „Te tśi rychłe tšubały“ (Die drei tüchtigen Posaunen, 1859–1863) die akustischen Phänomene Schall, Stimme, Sprache und somit die Schönheit des Niedersorbischen besang. Zur Formation der Wiedergeburt zählt eine Gruppe junger Pädagogen der Oberlausitz (Jan Wjela-Radyserb, Jan Bohuwěr Mučink, Jan Bartko u. a.), die in den 1840er Jahren eine populäre Literatur der kleinen Form verbreitete: episodische Gedichte, Balladen, erste schlichte Erzählungen, die der sorbischen Bevölkerung Zeitereignisse erklären sollten. Nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 suchten die königstreuen sorbischen Patrioten das Erreichte durch wissenschaftliche und organisatorische Aktivitäten zu sichern. So gründete Michał Hórnik 1860 die erste literarische Zeitschrift „Łužičan“ (→ Zeitschriften).

Nach der Reichsgründung 1871 kristallisierte sich unter der akademischen Jugend beider Konfessionen eine oppositionelle Strömung heraus, die neuen nationalen Optimismus ausstrahlte. Diese Jungsorbische Bewegung wollte die Verspätung der sorbischen Kultur namentlich gegenüber den slawischen Völkern zügig aufholen. Zu ihren Exponenten zählte der Dichter und Redakteur Jakub Bart-Ćišinski, der in Prag Theologie studiert und der Studentenvereinigung „Serbowka“ angehört hatte. In seiner frühen Schaffensphase bereicherte Bart-Ćišinski die sorbische Literatur um neue Genres: das idyllische Epos „Nawoženja“ (Der Bräutigam, 1876/77) nach dem Vorbild von Johann Wolfgang Goethe, den Kurzroman unter tschechischem Einfluss „Narodowc a wotrodźenc“ (Patriot und Renegat, 1878) und das Historiendrama „Na Hrodźišću“ (Auf dem Burgwall, 1879/80), das die Abwehrkämpfe der Elbslawen (→ Unterwerfung) zur Zeit Karls des Großen Anfang des 9. Jh. thematisierte. Dem formbewussten, produktiven Lyriker Bart-Ćišinski gelang es in seiner Lausitzer bzw. sächsischen Zeit (er wurde als katholischer Geistlicher seit 1883 mehrfach versetzt), die sorbische Dichtung auf europäisches Niveau zu heben und den Übergang zur Moderne zu vollziehen. In insgesamt 13 Gedichtbänden vor und nach 1900 sind ästhetische Innovation und nationales Programm – die Bewahrung der sorbischen „Insel“ vor fremder Einwirkung (so in „Helgoland – Łužica“; 1895) – eng miteinander verknüpft. Neben die traditionell volkstümlich-realistische und naturalistische Darstellung traten damit fantastisch-irreale und subjektive Sichtweisen. Unter dem Eindruck von Jaroslav Vrchlický, Adam Mickiewicz oder Alexander Puschkin (bes. von deren Sonetten) wurde Bart-Ćišinski zum klassischen Repräsentanten der sorbischen Literatur (1969–1985 Werkausgabe in 14 Bänden), deren vormodernen Status er überwand.

Die Themen Heimat, Muttersprache, Religion und Folklore dominierten gleichfalls in der weniger differenzierten Literatur der Niederlausitz. Zum Klassiker wurde dort Ende des 19. Jh. Mato Kosyk, der als Lyriker und Epiker ein vielschichtiges, dabei in sich geschlossenes Werk vorlegte (seit 2000 Werkausgabe in neun Bänden). Nur drei Jahre nach Bart-Ćišinski schuf er mit der Idylle „Serbska swajźba w Błotach“ (Die wendische Hochzeit im Spreewald, 1880) ein weiteres sorbisches Epos in Hexametern als Beschreibung dörflichen Lebens und Brauchtums. Eine historische Trilogie über die frühe Geschichte der Sorben (10.–12. Jh.) sowie die ersten beiden niedersorbischen Theaterszenen (1882) entstanden – wie auch die meisten Gedichte – in Kosyks schöpferischer Werbener Periode (1877–1883). Trotz Auswanderung in die USA hielt er als evangelischer Pfarrer und Farmer kulturellen Kontakt zur Heimat und schrieb in mehreren Schüben volksnahe Verslyrik mit origineller Thematik (u. a. Fremdheit und Alltag in Amerika).

Ende des 19. Jh. war das Gattungssystem der sorbischen Literatur weitgehend ausgebildet. Dank Vorbildwirkung der Klassiker (Zejler, Bart-Ćišinski, Kosyk) überwog weiterhin die Lyrik. In Prosa entstanden bes. religiöse, didaktische und kritisch-realistische Erzählungen; eine Randerscheinung blieb die Dramatik, obwohl Muka schon 1879 eine Heftreihe für das Laientheater begründet hatte. Wegen der geringen Zahl von Autoren zeigte die sorbische Literaturgeschichte keine deutlich ausgeprägte Epochenabfolge (→ Literaturwissenschaft). Oft mussten Einzelleistungen die literarischen Strömungen ersetzen oder diese fielen ganz aus. Im Zeitalter der Moderne um 1900 traten symbolische („sekundäre“) Stilmittel zu den wirklichkeitsnahen, auf kollektive Zwecke gerichteten („primären“) Abbildern in Konkurrenz. Das bewirkte zunächst Verunsicherung: Im nationalistischen Klima des Kaiserreichs stagnierte die sorbische literarische Produktion zu Beginn des 20. Jh. (mit Ausnahme Bart-Ćišinskis), das sorbische Bewusstsein schien untergraben zu sein. Dafür übertrug der Kirchenlieddichter Matej Urban die „Ilias“ und die „Odyssee“ des Homer ins Obersorbische (in Buchform 1921/22). In der Kurzprosa meldeten sich die Zöglinge des Prager Wendischen Seminars Mikławš Andricki mit Skizzen und Feuilletons sowie Jurij Winger mit einer ersten historischen Erzählung („Hronow“, 1893) zu Wort; beide verstarben jedoch jung. Um 1910 formierte sich eine neue, „realistische“ Generation, die in der Lyrik von Jan Skala und Józef Nowak, in der Prosa von Michał Nawka und Jurij Wjela angeführt wurde. Der Zuwachs an künstlerischer Potenz war – nach Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg, in dem auch junge Autoren fielen (Jurij Deleńk, Franc Kral) – in den 1920er Jahren deutlich spürbar.

Der Spannung zwischen ethischem Dienst am Volk und ästhetischer Erneuerung der Literatur waren auch die sorbischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit ausgesetzt. Nach der deutschen Niederlage erhielt das politische und kulturelle Engagement Auftrieb: Der Arbeitskreis sorbischer Schriftsteller wurde nachhaltig erneuert (1923; → Schriftstellervereinigungen), erste obersorbische Schullesebücher erschienen, Buchreihen und Theatergruppen entfalteten – teils mit tschechischer Hilfe – ihre Wirkung. Als erfahrenster sorbischer Autor führte Jakub Lorenc-Zalěski eine an der Romantik geschulte Strategie fort, die im historischen Gegenstand den Stolz auf Heldentaten der alten Slawen weckte; so in den märchenhaften Erzählungen „Serbscy rjekowje“ (Sorbische Helden, 1900, 1922) und „Kifko“ (1936). Nach 1918 entwarf er den symbolisch-fantastischen, im Aufbau hybriden Roman „Kupa zabytych“ (1931, „Die Insel der Vergessenen“, 2000), dessen Ich-Erzähler die eigene nationale Identität ergründet. Als nach Bart-Ćišinski zweiter „Modernist“ empfand Zalěski die Krise traditioneller Normen nach Krieg und Revolution. Eine konservativ agrarische Ideologie vertrat Michał Nawka mit kritisch-realistischer Kurzprosa schon vor 1914.

Anthologie sorbischer Dichtung vom 16. bis 20. Jh., herausgegeben von Kito Lorenc, Reclam Verlag Leipzig 1981

Später wurde er in der Lyrik zum kreativen Sprachbildner, der aus der Folklore den spöttisch-humoristischen Grundton übernahm und damit – sowie mit eigenen Melodien für Volks- und Kirchenlieder – bleibende Popularität erwarb. Der Journalist und Minderheitenpolitiker Jan Skala, der meist außerhalb der Lausitz wirkte, verlieh seiner Heimat- und Liebeslyrik melancholischen Ausdruck. Zu Hoffnungen berechtigte seine Prosa, in der erstmals die assimilatorischen Folgen von Braunkohlenbergbau und Industrialisierung mit künstlerischem Anspruch erörtert wurden, so in „Stary Šymko“ (1924, „Der alte Šymko“ in „Die Nacht zerbarst am Morgen“, 1961). Hier wurde ein Themenbereich eröffnet, in dem sich die appellative Funktion der sorbischen Literatur später häufig bewähren sollte.

Wie Skala begann 1910 auch der junge Józef Nowak, in Bart-Ćišinskis Sinne patriotische Gedichte zu verfassen. Die Tradition nationalen Widerstands äußerte er in einer expressiven, freirhythmischen Sprache, sein Pathos war am Tschechen Petr Bezruč geschult. Als Dramatiker übernahm Nowak die Idee eines sorbischen Nationaltheaters. In entsprechenden Texten – die Adaption „Posledni kral“ (Der letzte König, 1916), das historische Stück „Swobody njewjesta“ (Die Freiheitsbraut, 1919), das symbolische Festspiel „Lubin a Sprjewja“ (Drohmberg und Spree, 1928) – belebte er den romantischen Mythos des Landmanns gegen wachsenden Druck aus deutschnationalen Kreisen (→ Theater). Auch Ota Wićaz, führender Literaturforscher sowie -kritiker jener Zeit, sah in der alten, patriarchalischen Ordnung eine Garantie für den Erhalt des Sorbentums. Den Auflösungserscheinungen in Volkstum und Kultur suchte er mit sentimental gefärbten Texten zu begegnen; seinen Gedichten und Skizzen aber maß Wićaz nur praktisch-didaktischen Unterhaltungswert bei. Den Schritt zur Kolportage vollzog Ende der 1920er Jahre Mikławš Romuald Domaška. Schreibanlass wurde für den Administrator der Wallfahrtskirche Rosenthal die mangelhafte Qualität literarischer Beiträge in der Tageszeitung „Serbske Nowiny“. Mit historischer Fortsetzungsprosa erschloss er eine neue Leserschicht, verharrte aber in schematischer, harmonisierender Figurengestaltung, die er als christliches Menschenbild begriff. Den ersten größeren Prosatext nach dem Weltkrieg legte Marja Kubašec vor: die Novelle „Wusadny“ (Der Aussätzige, 1922/23). In weiteren Erzählungen und Dramen versuchte die erste ausgebildete sorbische Lehrerin, mit geschichtlichen Stoffen und folkloristischen Elementen das nationale Selbstbewusstsein der Rezipienten zu stärken. Nach 1945 schrieb sie, wie auch Jurij Wjela, überwiegend historisch-psychologische Romane. Die sorbische Dramatik wurde durch Wechselwirkung mit konkreten Theaterensembles von Fall zu Fall angeregt. So verfasste Wjela für eine Laiengruppe in Hochkirch in den 1930er Jahren mehrere erfolgreiche Stücke – „Knjez a roboćan“ (Herr und Fronbauer, 1931), „Zhubjena njewjesta“ (Die verschwundene Braut, 1935), „Naš statok“ (Unser Gehöft, 1937) –, die einen sozialkritischen Zyklus über das Los der Unterschichten im Feudalismus bildeten. Mit dem fantastisch-allegorischen Spiel „Paliwaka“ (Der Lindwurm, 1936) verschlüsselte der Autor seine Kritik am Nationalsozialismus, was zu Repressionen führte. Als „Dichter der sorbischen Heide“ konstituierte Jan Lajnert eine eigene poetische Welt als Gegenentwurf zur Realität. Seine Naturlyrik beruhte auf neoromantischen, naturalistischen und impressionistischen Motiven, die – bei Bezügen zum tschechischen Vitalismus – an die Ästhetik der Moderne anknüpften. Der produktive Grafiker und Publizist Měrćin Nowak-Njechorński, der sich bewusst einem spätromantisch-volksverbundenen Konzept zuwandte, machte sich um die dokumentarischen Genres verdient. Als Journalist festigte er in Berichten und Reportagen aus dem In- und Ausland die slawische Identität der Leser, seit den 1920er Jahren erlangte er mit Kunstmärchen in äsopischer Sprache Anerkennung. Eine Anzahl subjektiver Gedichte von hohem Rang schuf 1936–1938 in Prag der Student Jurij Chěžka, der im Zweiten Weltkrieg verschollen ist. Angesichts der existenziellen Bedrohung des sorbischen Ethnikums konstruierte er aus sprachlichen Zeichen eine symbolische „andere Heimat“, die nicht länger von überlieferten Werten wie Nation, Folklore oder Familie abhing. Dabei übernahm er formale Verfahren von den tschechischen Romantikern und Symbolisten (Karel Hynek Mácha, Otokar Březina).

In der zweisprachigen Niederlausitz beschränkte sich der nationale Aufbruch nach 1918 auf relativ wenige Personen. Der evangelische Pfarrer und Sprachforscher Bogumił Šwjela, der 1923 den Kontakt zu Mato Kosyk nach Amerika wieder aufnahm, hatte 1921 die Monats-, später Wochenschrift „Serbski Casnik“ als einziges niedersorbisches Periodikum neu belebt und eine Buchreihe begründet (elf Bände). 1923 wurde die Redaktion des Blatts der 30-jährigen Arbeiterin Mina Witkojc aus Burg (Spreewald) übertragen, die (bis zu ihrer Ausweisung 1941) dem kulturellen Leben um Cottbus als „Zeitungsfrau“ unerwartete Impulse gab. Mit ca. 150 emotionalen, liedhaften Gedichten suchte sie auf das nationale Empfinden ihrer Landsleute einzuwirken (Ausgaben 1925, 1934, 1955); mit dem Poem „Erfurtske spomnjeśa“ (1945, „Erfurter Erinnerungen“ in „Echo aus dem Spreewald“, 2001) über das Kriegsende 1945 hinterließ sie ein persönliches Bekenntnis auf solidem formalen Niveau. Ihr Nachfolger in der Leitung des Wochenblatts war der Lyriker Fryco Rocha, der als junger Lehrer zu schreiben begann, später in einer evangelischen Monatsschrift sowie in zwei eigenen Sammlungen Gedichte zu vielen Gelegenheiten veröffentlichte. Witkojc ermunterte u. a. Marjana Domaškojc zum literarischen Schreiben. Neben Lyrik und kurzer Prosa verfasste die Fabrikarbeiterin aus Zahsow zwei naturalistische Theaterstücke (1929, 1932); „Z chudych žywjenja“ (Aus dem Armenleben) wurde 1930 ins Tschechische übersetzt. Während die niedersorbische Zeitung Mitte 1933 aus finanziellen Gründen aufgab, konnte die obersorbische Presse bis August 1937 erscheinen („Katolski Posoł“ bis 1939). Von da ab war jede Verbreitung sorbischer Literatur staatlich unterbunden, ab 1938 wurde das Sorbische (→ Sorbisch) an Schulen nicht mehr gelehrt. Als Zeugnisse innerer Emigration blieben in der Oberlausitz mehrere „Kriegschoräle“ (Michał Nawka), in der Niederlausitz Gedichte in Abschriften erhalten (Bogumił Šwjela, Frido Mětšk).

Dem Verbot kultureller Betätigung ab 1937 folgte nach dem Krieg eine relative Autonomie in Bildung, Kultur und Wissenschaft mittels entsprechender Institutionen (→ Sorbengesetze). Sorbische Literatur war nun objektiv frei vom „Trauma einer exklusiv nationalen Verpflichtung“ (Kito Lorenc), sie konnte sich nach Formen und Themen weitgehend ungehindert entfalten. Bis 1989 galt sie zugleich als Bestandteil der DDR-Literatur, innerhalb derer sie – bei ähnlichen kulturpolitischen Einschränkungen – ihre Spezifik zu wahren suchte. Am Beginn dominierte ein Pathos der Befreiung, das Generationen und Konfessionen vereinte: Die Niedersorbin Mina Witkojc begrüßte in ihren Kriegserinnerungen die slawischen „Brüder“, der 1940 zwangsversetzte katholische Pfarrer Józef Nowak kennzeichnete den Faschismus in romantischer Geste als „teuflisches Werk“ („Wuswobodźeni 1945“, „Befreit 1945“). Da es an einer sorbischen Bildungsschicht mangelte, erneuerte sich das literarische Leben nach 1945 nur zögerlich. Kontinuität wurde durch die herkömmliche Verslyrik gewahrt. Bei Jurij Brězan, der anfangs alle drei Gattungen bediente, sollten optimistische Gedichte die Jugend zum Neubeginn motivieren. Die Gelegenheitsdichter Jurij Wuješ und Jurij Młynk förderten die Umgestaltung kurzzeitig durch Ausdruck individuellen Erlebens; eine eigene satirische Note stiftete Jurij Winar. Mit dem Band „Nowe časy – nowe kwasy“ (Neue Zeiten – neue Hochzeiten) debütierte 1961 der Student Kito Lorenc, der in intellektuellen Texten die sozialistischen Dogmen rasch hinter sich ließ. Im zweisprachigen Essay „Struga – eine Konfession“ (1967) beanspruchte er für die sorbische Literatur den „ganzen Raum“ sozialen Wandels, d. h. eine Mittlerfunktion zwischen beiden Ethnien; die funktionale Zweisprachigkeit wurde bei ihm und anderen zum Programm.

Reihe „Die sorbische Bibliothek“ im Domowina-Verlag; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

1951 veröffentlichte Brězan in Berlin einen Band Erzählungen und Gedichte („Auf dem Rain wächst Korn“), die erste rein deutschsprachige Buchausgabe eines sorbischen Autors. Er widmete sich danach vornehmlich der Prosa und schrieb mit der Felix-Hanusch-Trilogie (1958–1964) einen autobiografisch angelegten Entwicklungsroman, der in der DDR als Paradebeispiel sozialistisch-realistischer Epik angesehen wurde. Seine beiden „Krabat“-Romane (1976, 1994/95) rückten spezifisch sorbische Geschichtsabläufe in einen universellen Kontext, der aktuelle Bedrohungen einbezog; der philosophische Anspruch blieb im postmodernen Ausklang des zweiten Buchs – das Fortschrittsglauben zurücknahm – erhalten. In „Bild des Vaters“ (1982) verband er die Beschreibung der letzten Lebenstage seines Vaters, eines Steinbrucharbeiters, mit einer Wertediskussion. Anton Nawka verarbeitete das Kriegserlebnis in zwei originellen Romanen (1961, 1964). Vorrangiger Gegenstand der Prosaautoren blieb die – noch weitgehend ländliche – zweisprachige Lausitz; allmählich schwanden jedoch die Illusionen des heroischen Aufbruchs.

Die Gründung des Domowina-Verlags (1958) schuf die materielle Basis für eine Literaturproduktion mit quantitativ und qualitativ höherem Standard. Nach dem Mauerbau (1961) rückte das sog. Eigene ins Zentrum der literaturkritischen Diskussion. Eine neue Generation von Romanciers, die meist zugleich deutsch schrieben, löste sich aus traditionellen Bindungen und schilderte – z. T. kritisch – die Gegenwart des totalitären Staates. Dazu zählten u. a. Pětr Malink, der auch als Dramatiker erfolgreich war, Marja Młynkowa, Jurij Krawža und Křesćan Krawc. Der in Cottbus lebende Jurij Koch verteidigte in Prosa, Dramatik und Publizistik sorbische Landschaft, Sprache, Kultur, denen mit dem Kohleabbau ständig Gefahr erwuchs (vgl. Schauspiel „Mój wuměrjeny kraj“/​„Landvermesser“; deutsch und sorbisch 1977/78). Bereits Anfang der 1970er Jahre formierte sich aus dem von Lorenc geleiteten Zirkel junger Autoren eine Gruppe von Lyrikern, die sorbische literarische Aktivitäten – z. B. das ab 1979 jährlich stattfindende Fest der sorbischen Poesie – von da an mitbestimmten. So erreichte Beno Budar mit einer volkstümlich-humoristischen Lyrik ein breites Publikum; die Altersgenossin Marja Krawcec, die nur in Sorbisch publizierte, nahm mit minimalistisch-freirhythmischen Versen eine Isolation ihres lyrischen Subjekts in Kauf. Eine konträre Strategie verfolgte Benedikt Dyrlich, der – in der Intention auf Bart-Ćišinski verweisend – sich zum Ringen um Volk und Sprache bekannte, seine lyrischen Botschaften oft in Appelle kleidete und dieses Engagement durch politische und publizistische Aktivitäten stützte. Erst in den 1990er Jahren wurde die Position von Róža Domašcyna deutlich; in experimentellen lyrischen Texten formte sie aus sorbischen und deutschen (dialektalen) Bruchstücken mitunter eine „Drittsprache“, an der Elemente beider Ausgangsidiome beteiligt waren. An mehreren sorbischen Lyrikbänden lässt sich überdies die subversive Kraft des Minderheitendiskurses nachweisen, der um 1989/90 zur Dekonstruktion eines bankrotten politischen Systems beitrug: Dyrlichs „W paslach“ (In der Falle, 1986), Lorenc’ „Gegen den großen Popanz“ (1990), Domašcynas „Wróćo ja doprědk du“ (Zurück geh ich voran, 1990) sind dafür Beispiele.

Róža Domašcyna auf dem Titel der deutschen Literatur- und Kunstzeitschrift „Matrix“, Pop Verlag 2011

Überraschende Tendenzen zeigten sich nach der politischen Wende auch in den anderen Gattungen: Lorenc präsentierte das nur deutsch verfasste sorbische Monumentaldrama „Die wendische Schiffahrt“ (1994) sowie das „Tierstück“ „Kim Broiler“ (1996). In Ersterem wurde der romantische Mythos der sorbischen Insel im deutschen Meer zur Dreierbeziehung Meer – Insel – Schiff umgedeutet. Jurij Brězan als konsequenter Romanautor legte 1997 in Form einer Schwejkiade sorbisch und deutsch den Roman „Salowčenjo“ („Die Leute von Salow“) vor, der den ökonomischen Auftrag der Treuhandanstalt satirisch-fantastisch auslegte und durch Ralph Oehme dramatisiert wurde („Das Leinölkomplott“, 1998). Im Übrigen erhielt die sorbische Literatur Verstärkung bzw. Verjüngung einerseits in der Lyrik (Měrana Cušcyna, Timo Meškank, Lubina Šěnec, Pětr Thiemann), andererseits im Bereich der Kurzprosa. Nach der in den 1970er und 1980er Jahren aktiven Angela Stachowa, die ihrem Debüt „Halo Kazek“ (1974) mehrere weitere Erzählungssammlungen folgen ließ, traten Mitte der 1990er-Jahre mit ähnlichen Alltagsausschnitten in Prosabänden Měrka Mětowa, Jěwa-Marja Čornakec und Dorothea Šołćina hervor. 2006 veröffentlichte Lubina Hajduk-Veljkovićowa den ersten sorbischen Kriminalroman mit aktueller Thematik. Praktisch alle jüngeren Autorinnen und Autoren schreiben nebenberuflich.

Seit dem Auftaktband „Nawrót“ (Heimkehr, 1951) sicherte der sorbische Verlag ca. alle fünf Jahre die Herausgabe von Prosaanthologien (etwa ein Dutzend in Obersorbisch, dazu einige in Niedersorbisch), an denen insgesamt ca. 80 Personen mitwirkten, viele davon mehrfach. Literarische Texte in niedersorbischer Sprache erschienen fast ausschließlich in diesem Rahmen, wobei Wylem Bjero, Herbert Nowak, Erich Wojto, Margita Heinrichowa, Ingrid Naglowa oder Ingrid Hustetowa mit oftmals autobiografischen Arbeiten die Wirklichkeit der Niederlausitz nach wie vor in sorbischer Sprache abzubilden suchten. Kennzeichnend für die Literatur der Sorben seit 1945 ist eine umfangreiche Kinder- und Jugendliteratur, die sämtliche Gattungen und Genres bedient. Dafür bürgten u. a. Hańža Bjeńšowa, Jěwa-Marja Čornakec, Gerat Libš, Gerat Nagora, Madlena Nasticcyna, Jan Wornar sowie zahlreiche der o. g. Schriftsteller.

Lit.: R. Jenč: Stawizny serbskeho pismowstwa, 2 Bde., Budyšin 1954, 1960; P. Nowotny: Dolnoserbske pismojstwo 1918–1945, Budyšin 1983; D. Scholze: Stawizny serbskeho pismowstwa 1918–1945, Budyšin 1998; Přinoški k stawiznam serbskeho pismowstwa lět 1945–1990, Red. M. Völkel, Budyšin 1994; Sorbisches Lesebuch/​Serbska čitanka, Hg. K. Lorenc, Leipzig 1981; Chrestomatija dolnoserbskego pismowstwa wot zachopjeńka až na cas kněstwa fašizma w Němskej, Hg. F. Mětšk, 2. Aufl., Budyšyn 1982; D. Scholze: Die sorbische Literatur – heute, in: Die slavischen Literaturen heute, Hg. R. Lauer, Wiesbaden 2000.

Metadaten

Titel
Literatur
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Literatur
Autor:in
Scholze, Dietrich
Autor:in
Scholze, Dietrich
Schlagwörter
Belletristik; nationale Wiedergeburt; Prosa; Dichtung; Lyrik; Ballade; Jungsorbische Bewegung; Epos; Roman; Schriftsteller; Schriftstellerin
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Belletristik; nationale Wiedergeburt; Prosa; Dichtung; Lyrik; Ballade; Jungsorbische Bewegung; Epos; Roman; Schriftsteller; Schriftstellerin
Abstract

Schriftlich überlieferte Äußerungen und Bestrebungen als Resultate geistiger Tätigkeit, insbesondere in Form belletristischer Werke. Die schöngeistige Literatur der Sorben ist ein Ergebnis der Aufklärung.

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Schriftlich überlieferte Äußerungen und Bestrebungen als Resultate geistiger Tätigkeit, insbesondere in Form belletristischer Werke. Die schöngeistige Literatur der Sorben ist ein Ergebnis der Aufklärung.

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