Schriftlich überlieferte Äußerungen und Bestrebungen als Resultate geistiger Tätigkeit,
insbesondere in Form belletristischer Werke. Die schöngeistige Literatur der Sorben
ist ein Ergebnis der Aufklärung. 1757 schrieb Jurij Mjeń nach dem Vorbild von Friedrich Gottlieb Klopstock den „Rěčerski kěrliš“ (Dichterlied)
in Hexametern, mit dem die sorbische Sprache verteidigt und zugleich die
weltliche sorbischer Dichtung eingeleitet wurde. Die Rezeption blieb auf
gebildete Kreise beschränkt, von deutscher Seite wuchs jedoch das Interesse an
Geschichte und Kultur des kleinen Volkes. In den Predigergesellschaften pflegte
man eine barocke Gelehrtendichtung in Deutsch oder Latein, später auch in
Sorbisch, die den Übergang zur Volkssprache mit vorbereitete (→ Wendische
Predigergesellschaft). Der Sohn des o. g. sorbischen Dichters,
Rudolf Mjeń, wurde mit dörflichen
Stoffen zum Vorboten der Romantik. Diese Epochenströmung, die im östlichen
Europa zur Ausbildung bürgerlicher Nationen entscheidend beitrug, bildete bei
den Sorben eine Komponente der sog. nationalen Wiedergeburt, die als
kulturelles Erwachen zu verstehen ist. Handrij
Zejler als eigentlicher Begründer der sorbischen Literatur
verband schon als Student in Leipzig
aufklärerisches Engagement mit romantisch inspirierter Natur- und Liebeslyrik
„im Volkston“ (1972–1996 Werkausgabe in sieben Bänden). Sein vielfältiges Wirken
hat die literarische Kultur der sorbischen Oberlausitz nach Art eines klassischen Œuvres dauerhaft geprägt
(bes. Gedichte, Tierfabeln, auch Libretti), dank seinem von Korla Awgust Kocor vertonten Oratorienzyklus
„Počasy“ (Jahreszeiten, 1845–1860) auch die Musikkultur. Zum herausragenden
„Erwecker“ wurde in der Wiedergeburtsperiode der Verleger, Herausgeber und
Organisator Jan Arnošt Smoler, er
gründete in Bautzen den ersten
sorbischen Verlag (→ Verlagswesen).
Handrij Zejler; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Als erster niedersorbischer Dichter sowie Übersetzer trat nach 1850 Kito Fryco Stempel in Erscheinung, der in
seinem didaktischen Epos „Te tśi rychłe tšubały“ (Die drei tüchtigen Posaunen,
1859–1863) die akustischen Phänomene Schall, Stimme, Sprache und somit die
Schönheit des Niedersorbischen besang. Zur
Formation der Wiedergeburt zählt eine Gruppe junger Pädagogen der Oberlausitz
(Jan Wjela-Radyserb, Jan Bohuwěr Mučink, Jan Bartko u. a.), die in den 1840er Jahren
eine populäre Literatur der kleinen Form verbreitete: episodische Gedichte,
Balladen, erste schlichte Erzählungen, die der sorbischen Bevölkerung
Zeitereignisse erklären sollten. Nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848
suchten die königstreuen sorbischen Patrioten das Erreichte durch
wissenschaftliche und organisatorische Aktivitäten zu sichern. So gründete
Michał Hórnik 1860 die erste literarische Zeitschrift „Łužičan“ (→ Zeitschriften).
Nach der Reichsgründung 1871 kristallisierte sich unter der akademischen Jugend beider
Konfessionen eine oppositionelle Strömung heraus, die neuen nationalen
Optimismus ausstrahlte. Diese Jungsorbische Bewegung wollte die Verspätung der sorbischen
Kultur namentlich gegenüber den slawischen Völkern zügig aufholen. Zu ihren
Exponenten zählte der Dichter und Redakteur Jakub
Bart-Ćišinski, der in Prag Theologie studiert und der Studentenvereinigung „Serbowka“ angehört hatte. In seiner
frühen Schaffensphase bereicherte Bart-Ćišinski die sorbische Literatur um neue
Genres: das idyllische Epos „Nawoženja“ (Der Bräutigam, 1876/77) nach dem
Vorbild von Johann Wolfgang Goethe,
den Kurzroman unter tschechischem Einfluss „Narodowc a wotrodźenc“ (Patriot und
Renegat, 1878) und das Historiendrama „Na Hrodźišću“ (Auf dem Burgwall,
1879/80), das die Abwehrkämpfe der Elbslawen (→ Unterwerfung) zur Zeit Karls des Großen Anfang des 9. Jh.
thematisierte. Dem formbewussten, produktiven Lyriker Bart-Ćišinski gelang es in
seiner Lausitzer bzw. sächsischen Zeit (er wurde als katholischer Geistlicher
seit 1883 mehrfach versetzt), die sorbische Dichtung auf europäisches Niveau zu
heben und den Übergang zur Moderne zu vollziehen. In insgesamt 13 Gedichtbänden
vor und nach 1900 sind ästhetische Innovation und nationales Programm – die
Bewahrung der sorbischen „Insel“ vor fremder Einwirkung (so in „Helgoland –
Łužica“; 1895) – eng miteinander verknüpft. Neben die traditionell
volkstümlich-realistische und naturalistische Darstellung traten damit
fantastisch-irreale und subjektive Sichtweisen. Unter dem Eindruck von Jaroslav Vrchlický, Adam Mickiewicz oder Alexander Puschkin (bes. von deren Sonetten)
wurde Bart-Ćišinski zum klassischen Repräsentanten der sorbischen Literatur
(1969–1985 Werkausgabe in 14 Bänden), deren vormodernen Status er überwand.
Die Themen Heimat, Muttersprache, Religion und Folklore dominierten gleichfalls in der
weniger differenzierten Literatur der Niederlausitz. Zum Klassiker wurde dort Ende des 19. Jh.
Mato Kosyk, der als Lyriker und
Epiker ein vielschichtiges, dabei in sich geschlossenes Werk vorlegte (seit 2000
Werkausgabe in neun Bänden). Nur drei Jahre nach Bart-Ćišinski schuf er mit der
Idylle „Serbska swajźba w Błotach“ (Die wendische Hochzeit im Spreewald, 1880) ein weiteres sorbisches Epos
in Hexametern als Beschreibung dörflichen Lebens und Brauchtums. Eine
historische Trilogie über die frühe Geschichte der Sorben (10.–12. Jh.) sowie
die ersten beiden niedersorbischen Theaterszenen (1882) entstanden – wie auch
die meisten Gedichte – in Kosyks schöpferischer Werbener Periode (1877–1883).
Trotz Auswanderung in die USA hielt er als evangelischer Pfarrer und Farmer
kulturellen Kontakt zur Heimat und schrieb in mehreren Schüben volksnahe
Verslyrik mit origineller Thematik (u. a. Fremdheit und Alltag in Amerika).
Ende des 19. Jh. war das Gattungssystem der sorbischen Literatur weitgehend ausgebildet. Dank
Vorbildwirkung der Klassiker (Zejler, Bart-Ćišinski, Kosyk) überwog weiterhin
die Lyrik. In Prosa entstanden bes. religiöse, didaktische und
kritisch-realistische Erzählungen; eine Randerscheinung blieb die Dramatik, obwohl Muka schon 1879
eine Heftreihe für das Laientheater begründet hatte. Wegen der geringen Zahl von
Autoren zeigte die sorbische Literaturgeschichte keine deutlich ausgeprägte
Epochenabfolge (→ Literaturwissenschaft). Oft
mussten Einzelleistungen die literarischen Strömungen ersetzen oder diese fielen
ganz aus. Im Zeitalter der Moderne um 1900 traten symbolische („sekundäre“)
Stilmittel zu den wirklichkeitsnahen, auf kollektive Zwecke gerichteten
(„primären“) Abbildern in Konkurrenz. Das bewirkte zunächst Verunsicherung: Im
nationalistischen Klima des Kaiserreichs stagnierte die sorbische literarische
Produktion zu Beginn des 20. Jh. (mit Ausnahme Bart-Ćišinskis), das sorbische
Bewusstsein schien untergraben zu sein. Dafür übertrug der Kirchenlieddichter
Matej Urban die „Ilias“ und die „Odyssee“ des Homer ins Obersorbische (in Buchform
1921/22). In der Kurzprosa meldeten sich die Zöglinge des Prager Wendischen Seminars
Mikławš Andricki mit Skizzen und
Feuilletons sowie Jurij Winger mit
einer ersten historischen Erzählung („Hronow“, 1893) zu Wort; beide verstarben
jedoch jung. Um 1910 formierte sich eine neue, „realistische“ Generation, die in
der Lyrik von Jan Skala und Józef Nowak, in der Prosa von Michał Nawka
und Jurij Wjela angeführt wurde. Der
Zuwachs an künstlerischer Potenz war – nach Unterbrechung durch den Ersten
Weltkrieg, in dem auch junge Autoren fielen (Jurij Deleńk, Franc
Kral) – in den 1920er Jahren deutlich spürbar.
Der Spannung zwischen ethischem Dienst am Volk und ästhetischer Erneuerung der Literatur
waren auch die sorbischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit ausgesetzt. Nach
der deutschen Niederlage erhielt das politische und kulturelle Engagement
Auftrieb: Der Arbeitskreis sorbischer Schriftsteller wurde nachhaltig erneuert
(1923; → Schriftstellervereinigungen), erste obersorbische Schullesebücher
erschienen, Buchreihen und Theatergruppen entfalteten – teils mit tschechischer
Hilfe – ihre Wirkung. Als erfahrenster sorbischer Autor führte Jakub Lorenc-Zalěski eine an der Romantik
geschulte Strategie fort, die im historischen Gegenstand den Stolz auf
Heldentaten der alten Slawen weckte; so in den märchenhaften Erzählungen
„Serbscy rjekowje“ (Sorbische Helden, 1900, 1922) und „Kifko“ (1936). Nach 1918
entwarf er den symbolisch-fantastischen, im Aufbau hybriden Roman „Kupa
zabytych“ (1931, „Die Insel der Vergessenen“, 2000), dessen Ich-Erzähler die
eigene nationale Identität ergründet. Als nach Bart-Ćišinski zweiter „Modernist“
empfand Zalěski die Krise traditioneller Normen nach Krieg und Revolution. Eine
konservativ agrarische Ideologie vertrat Michał Nawka mit kritisch-realistischer
Kurzprosa schon vor 1914.
Anthologie sorbischer Dichtung vom 16. bis 20. Jh.,
herausgegeben von Kito Lorenc, Reclam Verlag Leipzig 1981
Später wurde er in der Lyrik zum kreativen Sprachbildner, der aus der Folklore den
spöttisch-humoristischen Grundton übernahm und damit – sowie mit eigenen
Melodien für Volks- und Kirchenlieder – bleibende Popularität erwarb. Der
Journalist und Minderheitenpolitiker Jan Skala, der meist außerhalb der Lausitz
wirkte, verlieh seiner Heimat- und Liebeslyrik melancholischen Ausdruck. Zu
Hoffnungen berechtigte seine Prosa, in der erstmals die assimilatorischen Folgen
von Braunkohlenbergbau und Industrialisierung mit
künstlerischem Anspruch erörtert wurden, so in „Stary Šymko“ (1924, „Der alte
Šymko“ in „Die Nacht zerbarst am Morgen“, 1961). Hier wurde ein Themenbereich
eröffnet, in dem sich die appellative Funktion der sorbischen Literatur später
häufig bewähren sollte.
Wie Skala begann 1910 auch der junge Józef Nowak, in Bart-Ćišinskis Sinne patriotische
Gedichte zu verfassen. Die Tradition nationalen Widerstands äußerte er in einer
expressiven, freirhythmischen Sprache, sein Pathos war am Tschechen Petr Bezruč geschult. Als Dramatiker
übernahm Nowak die Idee eines sorbischen Nationaltheaters. In entsprechenden
Texten – die Adaption „Posledni kral“ (Der letzte König, 1916), das historische
Stück „Swobody njewjesta“ (Die Freiheitsbraut, 1919), das symbolische Festspiel
„Lubin a Sprjewja“ (Drohmberg und Spree, 1928) – belebte er den romantischen
Mythos des Landmanns gegen wachsenden Druck aus deutschnationalen Kreisen (→ Theater). Auch Ota Wićaz,
führender Literaturforscher sowie -kritiker jener Zeit, sah in der alten,
patriarchalischen Ordnung eine Garantie für den Erhalt des Sorbentums. Den
Auflösungserscheinungen in Volkstum und Kultur suchte er mit sentimental
gefärbten Texten zu begegnen; seinen Gedichten und Skizzen aber maß Wićaz nur
praktisch-didaktischen Unterhaltungswert bei. Den Schritt zur Kolportage vollzog
Ende der 1920er Jahre Mikławš Romuald
Domaška. Schreibanlass wurde für den Administrator der
Wallfahrtskirche Rosenthal die
mangelhafte Qualität literarischer Beiträge in der Tageszeitung „Serbske
Nowiny“. Mit historischer Fortsetzungsprosa erschloss er eine neue Leserschicht,
verharrte aber in schematischer, harmonisierender Figurengestaltung, die er als
christliches Menschenbild begriff. Den ersten größeren Prosatext nach dem
Weltkrieg legte Marja Kubašec vor: die
Novelle „Wusadny“ (Der Aussätzige, 1922/23). In weiteren Erzählungen und Dramen
versuchte die erste ausgebildete sorbische Lehrerin, mit geschichtlichen Stoffen
und folkloristischen Elementen das nationale Selbstbewusstsein der Rezipienten
zu stärken. Nach 1945 schrieb sie, wie auch Jurij Wjela, überwiegend
historisch-psychologische Romane. Die sorbische Dramatik wurde durch
Wechselwirkung mit konkreten Theaterensembles von Fall zu Fall angeregt. So
verfasste Wjela für eine Laiengruppe in Hochkirch in den 1930er Jahren mehrere erfolgreiche Stücke –
„Knjez a roboćan“ (Herr und Fronbauer, 1931), „Zhubjena njewjesta“ (Die
verschwundene Braut, 1935), „Naš statok“ (Unser Gehöft, 1937) –, die einen
sozialkritischen Zyklus über das Los der Unterschichten im Feudalismus bildeten.
Mit dem fantastisch-allegorischen Spiel „Paliwaka“ (Der Lindwurm, 1936)
verschlüsselte der Autor seine Kritik am Nationalsozialismus, was zu
Repressionen führte. Als „Dichter der sorbischen Heide“ konstituierte Jan Lajnert eine eigene poetische Welt als
Gegenentwurf zur Realität. Seine Naturlyrik beruhte auf neoromantischen,
naturalistischen und impressionistischen Motiven, die – bei Bezügen zum
tschechischen Vitalismus – an die Ästhetik der Moderne anknüpften. Der
produktive Grafiker und Publizist Měrćin
Nowak-Njechorński, der sich bewusst einem
spätromantisch-volksverbundenen Konzept zuwandte, machte sich um die
dokumentarischen Genres verdient. Als Journalist festigte er in Berichten und
Reportagen aus dem In- und Ausland die slawische Identität der Leser, seit den
1920er Jahren erlangte er mit Kunstmärchen in äsopischer Sprache Anerkennung.
Eine Anzahl subjektiver Gedichte von hohem Rang schuf 1936–1938 in Prag der
Student Jurij Chěžka, der im Zweiten
Weltkrieg verschollen ist. Angesichts der existenziellen Bedrohung des
sorbischen Ethnikums konstruierte er aus sprachlichen Zeichen eine symbolische
„andere Heimat“, die nicht länger von überlieferten Werten wie Nation, Folklore
oder Familie abhing. Dabei übernahm er formale Verfahren von den tschechischen
Romantikern und Symbolisten (Karel Hynek
Mácha, Otokar Březina).
In der zweisprachigen Niederlausitz beschränkte sich der nationale Aufbruch nach 1918 auf
relativ wenige Personen. Der evangelische Pfarrer und Sprachforscher Bogumił Šwjela, der 1923 den Kontakt zu
Mato Kosyk nach Amerika wieder
aufnahm, hatte 1921 die Monats-, später Wochenschrift „Serbski Casnik“ als
einziges niedersorbisches Periodikum neu belebt und eine Buchreihe begründet
(elf Bände). 1923 wurde die Redaktion des Blatts der 30-jährigen Arbeiterin
Mina Witkojc aus Burg (Spreewald) übertragen, die (bis zu
ihrer Ausweisung 1941) dem kulturellen Leben um Cottbus als „Zeitungsfrau“ unerwartete Impulse gab. Mit ca. 150
emotionalen, liedhaften Gedichten suchte sie auf das nationale Empfinden ihrer
Landsleute einzuwirken (Ausgaben 1925, 1934, 1955); mit dem Poem „Erfurtske
spomnjeśa“ (1945, „Erfurter Erinnerungen“ in „Echo aus dem Spreewald“, 2001)
über das Kriegsende 1945 hinterließ sie ein persönliches Bekenntnis auf solidem
formalen Niveau. Ihr Nachfolger in der Leitung des Wochenblatts war der Lyriker
Fryco Rocha, der als junger Lehrer
zu schreiben begann, später in einer evangelischen Monatsschrift sowie in zwei
eigenen Sammlungen Gedichte zu vielen Gelegenheiten veröffentlichte. Witkojc
ermunterte u. a. Marjana Domaškojc zum
literarischen Schreiben. Neben Lyrik und kurzer Prosa verfasste die
Fabrikarbeiterin aus Zahsow zwei
naturalistische Theaterstücke (1929, 1932); „Z chudych žywjenja“ (Aus dem
Armenleben) wurde 1930 ins Tschechische übersetzt. Während die niedersorbische
Zeitung Mitte 1933 aus finanziellen Gründen aufgab, konnte die obersorbische
Presse bis August 1937 erscheinen („Katolski Posoł“ bis 1939). Von da ab war
jede Verbreitung sorbischer Literatur staatlich unterbunden, ab 1938 wurde das
Sorbische (→ Sorbisch) an Schulen nicht mehr gelehrt. Als Zeugnisse innerer
Emigration blieben in der Oberlausitz mehrere „Kriegschoräle“ (Michał Nawka), in der Niederlausitz Gedichte
in Abschriften erhalten (Bogumił Šwjela, Frido
Mětšk).
Dem Verbot kultureller Betätigung ab 1937 folgte nach dem Krieg eine relative Autonomie in
Bildung, Kultur und Wissenschaft mittels entsprechender Institutionen (→ Sorbengesetze). Sorbische
Literatur war nun objektiv frei vom „Trauma einer exklusiv nationalen
Verpflichtung“ (Kito Lorenc), sie
konnte sich nach Formen und Themen weitgehend ungehindert entfalten. Bis 1989
galt sie zugleich als Bestandteil der DDR-Literatur, innerhalb derer sie – bei
ähnlichen kulturpolitischen Einschränkungen – ihre Spezifik zu wahren suchte. Am
Beginn dominierte ein Pathos der Befreiung, das Generationen und Konfessionen
vereinte: Die Niedersorbin Mina Witkojc begrüßte in ihren Kriegserinnerungen die
slawischen „Brüder“, der 1940 zwangsversetzte katholische Pfarrer Józef Nowak
kennzeichnete den Faschismus in romantischer Geste als „teuflisches Werk“
(„Wuswobodźeni 1945“, „Befreit 1945“). Da es an einer sorbischen Bildungsschicht
mangelte, erneuerte sich das literarische Leben nach 1945 nur zögerlich.
Kontinuität wurde durch die herkömmliche Verslyrik gewahrt. Bei Jurij Brězan, der anfangs alle drei
Gattungen bediente, sollten optimistische Gedichte die Jugend zum Neubeginn
motivieren. Die Gelegenheitsdichter Jurij
Wuješ und Jurij Młynk
förderten die Umgestaltung kurzzeitig durch Ausdruck individuellen Erlebens;
eine eigene satirische Note stiftete Jurij
Winar. Mit dem Band „Nowe časy – nowe kwasy“ (Neue Zeiten – neue
Hochzeiten) debütierte 1961 der Student Kito Lorenc, der in intellektuellen
Texten die sozialistischen Dogmen rasch hinter sich ließ. Im zweisprachigen
Essay „Struga – eine Konfession“ (1967) beanspruchte er für die sorbische
Literatur den „ganzen Raum“ sozialen Wandels, d. h. eine Mittlerfunktion
zwischen beiden Ethnien; die funktionale Zweisprachigkeit wurde bei ihm und
anderen zum Programm.
Reihe „Die sorbische Bibliothek“ im Domowina-Verlag; Fotografin:
Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
1951 veröffentlichte Brězan in Berlin einen Band
Erzählungen und Gedichte („Auf dem Rain wächst Korn“), die erste rein
deutschsprachige Buchausgabe eines sorbischen Autors. Er widmete sich danach
vornehmlich der Prosa und schrieb mit der Felix-Hanusch-Trilogie (1958–1964)
einen autobiografisch angelegten Entwicklungsroman, der in der DDR als
Paradebeispiel sozialistisch-realistischer Epik angesehen wurde. Seine beiden
„Krabat“-Romane (1976, 1994/95)
rückten spezifisch sorbische Geschichtsabläufe in einen universellen Kontext,
der aktuelle Bedrohungen einbezog; der philosophische Anspruch blieb im
postmodernen Ausklang des zweiten Buchs – das Fortschrittsglauben zurücknahm –
erhalten. In „Bild des Vaters“ (1982) verband er die Beschreibung der letzten
Lebenstage seines Vaters, eines Steinbrucharbeiters, mit einer Wertediskussion.
Anton Nawka verarbeitete das
Kriegserlebnis in zwei originellen Romanen (1961, 1964). Vorrangiger Gegenstand
der Prosaautoren blieb die – noch weitgehend ländliche – zweisprachige Lausitz;
allmählich schwanden jedoch die Illusionen des heroischen Aufbruchs.
Die Gründung des Domowina-Verlags (1958)
schuf die materielle Basis für eine Literaturproduktion mit quantitativ und
qualitativ höherem Standard. Nach dem Mauerbau (1961) rückte das sog. Eigene ins
Zentrum der literaturkritischen Diskussion. Eine neue Generation von Romanciers,
die meist zugleich deutsch schrieben, löste sich aus traditionellen Bindungen
und schilderte – z. T. kritisch – die Gegenwart des totalitären Staates. Dazu
zählten u. a. Pětr Malink, der auch
als Dramatiker erfolgreich war, Marja
Młynkowa, Jurij Krawža
und Křesćan Krawc. Der in Cottbus
lebende Jurij Koch verteidigte in
Prosa, Dramatik und Publizistik sorbische Landschaft, Sprache, Kultur, denen mit
dem Kohleabbau ständig Gefahr erwuchs (vgl. Schauspiel „Mój wuměrjeny
kraj“/„Landvermesser“; deutsch und sorbisch 1977/78). Bereits Anfang der 1970er
Jahre formierte sich aus dem von Lorenc geleiteten Zirkel junger Autoren eine
Gruppe von Lyrikern, die sorbische literarische Aktivitäten – z. B. das ab 1979
jährlich stattfindende Fest der sorbischen Poesie – von da an mitbestimmten. So
erreichte Beno Budar mit einer
volkstümlich-humoristischen Lyrik ein breites Publikum; die Altersgenossin
Marja Krawcec, die nur in Sorbisch
publizierte, nahm mit minimalistisch-freirhythmischen Versen eine Isolation
ihres lyrischen Subjekts in Kauf. Eine konträre Strategie verfolgte Benedikt Dyrlich, der – in der Intention auf
Bart-Ćišinski verweisend – sich zum Ringen um Volk und Sprache bekannte, seine
lyrischen Botschaften oft in Appelle kleidete und dieses Engagement durch
politische und publizistische Aktivitäten stützte. Erst in den 1990er Jahren
wurde die Position von Róža Domašcyna
deutlich; in experimentellen lyrischen Texten formte sie aus sorbischen und
deutschen (dialektalen) Bruchstücken mitunter eine „Drittsprache“, an der
Elemente beider Ausgangsidiome beteiligt waren. An mehreren sorbischen
Lyrikbänden lässt sich überdies die subversive Kraft des Minderheitendiskurses
nachweisen, der um 1989/90 zur Dekonstruktion eines bankrotten politischen
Systems beitrug: Dyrlichs „W paslach“ (In der Falle, 1986), Lorenc’ „Gegen den
großen Popanz“ (1990), Domašcynas „Wróćo ja doprědk du“ (Zurück geh ich voran,
1990) sind dafür Beispiele.
Róža Domašcyna auf dem Titel der deutschen Literatur- und
Kunstzeitschrift „Matrix“, Pop Verlag 2011
Überraschende Tendenzen zeigten sich nach der politischen Wende auch in den anderen Gattungen: Lorenc präsentierte
das nur deutsch verfasste sorbische Monumentaldrama „Die wendische Schiffahrt“
(1994) sowie das „Tierstück“ „Kim Broiler“ (1996). In Ersterem wurde der
romantische Mythos der sorbischen Insel im deutschen Meer zur Dreierbeziehung
Meer – Insel – Schiff umgedeutet. Jurij Brězan als konsequenter Romanautor legte
1997 in Form einer Schwejkiade sorbisch und deutsch den Roman „Salowčenjo“ („Die
Leute von Salow“) vor, der den ökonomischen Auftrag der Treuhandanstalt
satirisch-fantastisch auslegte und durch Ralph
Oehme dramatisiert wurde („Das Leinölkomplott“, 1998). Im Übrigen
erhielt die sorbische Literatur Verstärkung bzw. Verjüngung einerseits in der
Lyrik (Měrana Cušcyna, Timo Meškank, Lubina Šěnec, Pětr
Thiemann), andererseits im Bereich der Kurzprosa. Nach der in den
1970er und 1980er Jahren aktiven Angela
Stachowa, die ihrem Debüt „Halo Kazek“ (1974) mehrere weitere
Erzählungssammlungen folgen ließ, traten Mitte der 1990er-Jahre mit ähnlichen
Alltagsausschnitten in Prosabänden Měrka
Mětowa, Jěwa-Marja
Čornakec und Dorothea
Šołćina hervor. 2006 veröffentlichte Lubina Hajduk-Veljkovićowa den ersten
sorbischen Kriminalroman mit aktueller Thematik. Praktisch alle jüngeren
Autorinnen und Autoren schreiben nebenberuflich.
Seit dem Auftaktband „Nawrót“ (Heimkehr, 1951) sicherte der sorbische Verlag ca. alle fünf
Jahre die Herausgabe von Prosaanthologien (etwa ein Dutzend in Obersorbisch,
dazu einige in Niedersorbisch), an denen
insgesamt ca. 80 Personen mitwirkten, viele davon mehrfach. Literarische Texte
in niedersorbischer Sprache erschienen fast ausschließlich in diesem Rahmen,
wobei Wylem Bjero, Herbert Nowak, Erich Wojto, Margita Heinrichowa, Ingrid
Naglowa oder Ingrid
Hustetowa mit oftmals autobiografischen Arbeiten die Wirklichkeit
der Niederlausitz nach wie vor in sorbischer Sprache abzubilden suchten.
Kennzeichnend für die Literatur der Sorben seit 1945 ist eine umfangreiche Kinder- und
Jugendliteratur, die sämtliche Gattungen und Genres bedient. Dafür
bürgten u. a. Hańža Bjeńšowa,
Jěwa-Marja Čornakec, Gerat Libš,
Gerat Nagora, Madlena Nasticcyna, Jan Wornar sowie zahlreiche der o. g.
Schriftsteller.
Lit.: R. Jenč: Stawizny serbskeho pismowstwa, 2 Bde., Budyšin 1954, 1960; P. Nowotny:
Dolnoserbske pismojstwo 1918–1945, Budyšin 1983; D. Scholze: Stawizny serbskeho
pismowstwa 1918–1945, Budyšin 1998; Přinoški k stawiznam serbskeho pismowstwa
lět 1945–1990, Red. M. Völkel, Budyšin 1994; Sorbisches Lesebuch/Serbska
čitanka, Hg. K. Lorenc, Leipzig 1981; Chrestomatija dolnoserbskego pismowstwa
wot zachopjeńka až na cas kněstwa fašizma w Němskej, Hg. F. Mětšk, 2. Aufl.,
Budyšyn 1982; D. Scholze: Die sorbische Literatur – heute, in: Die slavischen
Literaturen heute, Hg. R. Lauer, Wiesbaden 2000.