Etymologisches Wörterbuch, Domowina-Verlag 1978–1996
Wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Erforschung, Beschreibung und
Kodifizierung (Standardisierung) der Sprache befasst. Zum Gegenstand der
sorbischen Sprachwissenschaft gehören alle Ausprägungen des Sorbischen in
Geschichte und Gegenwart, d. h. sowohl die ober- und niedersorbischen
Schriftsprache (→ Obersorbisch, → Niedersorbisch) als auch nichtschriftsprachliche Varietäten wie die
Dialekte und die Umgangssprache.
Erforscht werden Struktur, Funktion und Entwicklung des Sorbischen auf allen
Ebenen des Sprachsystems.
Der Beginn der sorbischen Sprachwissenschaft ist verbunden mit der Entstehung des
religiösen Schrifttums seit dem 17. Jh., die eine sprachliche Konsolidierung und
Standardisierung erforderlich machte. Bis zur Mitte des 19. Jh. konzentrierte
sich die sorbische Sprachwissenschaft auf die Erfassung der Struktur und des Wortschatzes der Sprache in drei Standardformen: dem Niedersorbischen
und den zwei konfessionell gebundenen schriftsprachlichen Varianten des
Obersorbischen in Grammatiken und Wörterbüchern.
Die erste handschriftliche (niedersorbische) Grammatik stammt aus dem Jahr 1650
(Jan Chojnan), eine erste
Abhandlung zur (obersorbischen) Orthografie von 1689 (Zacharias Běrlink, »Didascalia seu
Orthographia Vandalica«), der erste Versuch eines
(obersorbisch-deutsch-lateinischen) Wörterbuchs vom Ende des 17. Jh. (Abraham Frencel, »De originibus linguae
sorabicae«, 1693–1696).
Im 19. Jh. setzte mit der nationalen Wiedergeburt auch in
der sorbischen Sprachwissenschaft ein Aufschwung ein. Als Voraussetzung dafür
schuf sich die sorbische Intelligenz 1847/48 mit der
wissenschaftlich-kulturellen Gesellschaft Maćica Serbska eine
Institution, die eine systematische Beschäftigung mit sorabistischen Themen
förderte und mit der Zeitschrift »Časopis Maćicy
Serbskeje« (ČMS, 1848–1937) ein Diskussionsforum in ober- bzw. niedersorbischer
Sprache bot. Als erste Fachabteilung der Maćica Serbska wurde 1854 diejenige für
Sprachwissenschaft gegründet. Im Mittelpunkt standen zunächst die Überwindung
der konfessionsgebundenen Teilung des obersorbischen Schrifttums und die
Kodifizierung einer einheitlichen obersorbischen Schriftsprache. Křesćan Bohuwěr Pful veröffentlichte im
ersten Jahrgang des ČMS einen entsprechenden grammatischen Abriss und fixierte
die sog. analoge Orthografie.
Ausschnitt aus dem etymologischen Wörterbuch
Systematische Kontakte mit polnischen, tschechischen, slowakischen und deutschen
Slawisten (z. B. Josef Dobrovský,
Václav Hanka, František Ladislav Čelakovský, Martin Hattala, August Leskien) an den Ausbildungsorten der
jungen Sorben (bes. Leipzig,
Prag und Breslau/ heute Wrocław) führten zu einer zunehmenden
Verflechtung der sorbischen Sprachwissenschaft mit der internationalen
Slawistik. Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft und später die
junggrammatische Schule lenkten das Interesse auf die historische Entwicklung im
Bereich von Phonetik und Morphologie (vgl. die Grammatiken von Pful 1867 und
Arnošt Muka 1891). Eine erste
monografische Darstellung der obersorbischen Syntax legte 1884 Jurij Libš vor. Zur Konsolidierung des
Wortschatzes der ober- und niedersorbischen Schriftsprache in der damaligen
Phase des Sprachausbaus trugen zwei umfangreiche lexikografische Standardwerke
bei: das von Pful in Zusammenarbeit mit Handrij
Zejler und Michał
Hórnik verfasste »Lausitzisch-Wendische Wörterbuch«
(obersorbisch-deutsch mit deutschem Register, 1866) und Mukas »Wörterbuch der
niederwendischen Sprache und ihrer Dialekte« (niedersorbisch-deutsch, 1911–1916,
1928). Im ČMS erschienen gleichzeitig grundlegende Aufsätze zur Kodifikation der
Orthografie und Morphologie, zur Sprachgeschichte und Namenkunde, lexikalische, phraseologische und
Sprichwörtersammlungen, Dialektstudien usw. Als Autoren sind Jan Arnošt Smoler, Pful, Hórnik, Muka bzw.
aus der Niederlausitz Hendrich Jordan
und Bogumił Šwjela zu nennen.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. konnte die sorabistische Sprachwissenschaft
teilweise von der Etablierung der Slawistik in und außerhalb Deutschlands
profitieren, die als ihren Gegenstand nun auch das Sorbische wahrnahm. Es
entstanden dialektologische Arbeiten von Lew V.
Ščerba, Zdzisław
Stieber, Pawoł Wirth
und Arnulf Schröder, Editionen und
Analysen von Sprachdenkmalen durch Reinhold
Trautmann, Curt
Hoenicke, Karl Heinrich
Meyer; den lexikalischen Auswirkungen des deutsch-sorbischen
Sprachkontakts war Hans Holm
Bielfeldts Arbeit »Die deutschen Lehnwörter im Obersorbischen«
(1933) gewidmet. Als bedeutende Beiträge zur Sprachwissenschaft seitens
sorbischer Forscher erschienen in dieser Zeit die Wörterbücher von Filip Rězak (deutsch-obersorbisch, 1920) und
Jurij Kral (obersorbisch-deutsch,
1927). Die Arbeiten von Šwjela zur niedersorbischen Lexikografie konnten dagegen
erst nach dem Zweiten Weltkrieg gedruckt werden (deutsch-niedersorbisch, 1953;
niedersorbisch-deutsch, 1961).
Der intensive Ausbau des sorbischsprachigen kulturellen Lebens nach 1945 sowie
der Aufbau des sorbischen Schulwesens machten eine weitere Stabilisierung und
Vereinheitlichung der schriftsprachlichen Norm erforderlich und brachten einen
großen Bedarf an praktischen Nachschlagewerken und Lehrbüchern aus dem Bereich
der Sprachwissenschaft mit sich. 1951 wurden mit der Gründung des Sorbischen
Instituts an der Universität Leipzig (→ Institut für Sorabistik) und des
außeruniversitären Instituts für sorbische Volksforschung (→ Sorbisches Institut) in Bautzen die
Voraussetzungen für eine professionelle Grundlagenforschung zur sorbischen
Sprachwissenschaft geschaffen.
Digitales niedersorbisches Textkorpus auf der Internetplattform [dolnoserbski.de](https://dolnoserbski.de/)
Am Universitätsinstitut unter Leitung von Heinz
Schuster-Šewc stand insbesondere die nieder- und obersorbische
Sprachgeschichte im Mittelpunkt der Forschung. Wichtigste Aufgaben der
sprachwissenschaftlichen Abteilung des Bautzener Instituts waren einerseits die
Erfassung und Beschreibung der schwindenden sorbischen Dialekte in der gesamten
Lausitz (→ Dialektologie), andererseits die
Erforschung der beiden Schriftsprachen. Einen ständigen Schwerpunkt bei der
wissenschaftlichen Beschreibung der ober- und niedersorbischen Gegenwartssprache
bildet die Lexikografie. Als herausragende Ergebnisse sind hier das zweibändige
deutsch-obersorbische Wörterbuch von Helmut
Jenč, Frido Michałk und
Irena Šěrakowa (1989/91) und das
niedersorbisch-deutsche Wörterbuch von Manfred
Starosta (1999) zu nennen. In der Cottbuser Arbeitsstelle des
Sorbischen Instituts wurde nach einem innovativen computerlexikografischen
Konzept ein großes deutsch-niedersorbisches Wörterbuch entwickelt, das schon vor
dem Erscheinen einer Druckversion im Internet zur Verfügung steht
(www.niedersorbisch.de).
Fragen der Entwicklung des obersorbischen Wortschatzes behandelten u. a.
Gerald Stone (»Lexical Changes in
the Upper Sorbian Literary Language during and following the National
Awakening«, 1971) und Helmut Jenč
(»Die Entwicklung der obersorbischen Schriftsprache vom 18. Jh. bis zum Beginn
des 20. Jh.«, 1999); dem niedersorbischen Wortschatz ist die Arbeit von
Anja Pohončowa »Der Einfluss
obersorbischer Lexik auf die niedersorbische Schriftsprache« (2002) gewidmet.
Neuere Bearbeitungen der Phonologie und Morphologie der ober- und
niedersorbischen Schriftsprache finden sich in den Grammatiken von Schuster-Šewc
(1968, 1976), Helmut Faska (1981,
2003), Pětš Janaš sowie in den
Sprachlehrbüchern von Starosta (1991/92). Synthesen zur Syntax liegen nur für
das Obersorbische vor. Hier sind vor allem der zweite Band der Schulgrammatik
von Schuster-Šewc (1976) und die Monografie »Składnia zdania złożonego w języku
górnołużyckim« (1967) von Kazimierz
Polański zu nennen, auch die »Grammatik der obersorbischen
Schriftsprache der Gegenwart. Morphologie« von Faska (1981) berücksichtigt
syntaktische Aspekte; gleichwohl sind zahlreiche Fragen auf dem Gebiet der
obersorbischen Syntax noch unerforscht, zum Niedersorbischen fehlen
entsprechende Untersuchungen nahezu ganz.
Aufgrund des bestehenden engen Kontakts mit dem Deutschen bildet die
Sprachkontaktforschung einen weiteren Schwerpunkt der sorbischen
Sprachwissenschaft. Das Interesse der Forscher galt zunächst den Lehnwörtern.
Ein »Etymologisches Wörterbuch der slawischen Elemente im Ostmitteldeutschen«
(1965) veröffentlichte Ernst Eichler.
Speziell den Lehnwörtern im Niedersorbischen ist eine Studie von Hauke Bartels gewidmet (2009). Fragen der
deutsch-sorbischen und sorbisch-deutschen Interferenz in der Volkssprache behandeln u. a. die zwei Bände
»Studien zur sprachlichen Interferenz« von Michałk und Helmut Protze (1967, 1974), in neuester Zeit
die Studie von Markus Bayer
»Sprachkontakt deutsch-slavisch: eine kontrastive Interferenzstudie am Beispiel
des Ober- und Niedersorbischen, Kärntnerslovenischen und Burgenlandkroatischen«
(2006).
Wiederholt wurden im Bautzener Institut bzw. seiner Cottbuser Arbeitsstelle
soziolinguistische und sprachstatistische Fragestellungen bearbeitet (→ Bevölkerungsstatistik). Stellvertretend seien hier die Forschungen von
Leoš Šatava (»Sprachverhalten und
ethnische Identität«, 2005) und die kollektive Monografie »Die aktuelle
Situation der niedersorbischen Sprache« (2001) genannt.
Lit.: S. Michalk: Die sorabistische Sprachwissenschaft in der DDR, in: Makedonski
Jazik 26 (1975); H. Schuster-Šewc: Das Sorbische und der Stand seiner
Erforschung, Berlin 1991; J. Petr: Sorabistika jako kompleks wědomosćow, in:
Přinoški k stawiznam serbskeho pismowstwa lět 1945–1990, Budyšin 1994; W. Zeil:
Sorabistik in Deutschland. Eine wissenschaftsgeschichtliche Bilanz aus fünf
Jahrhunderten, Bautzen 1996.