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Volkslieder
von Susanne Hose

Über Generationen mündlich überlieferte, populäre Lieder. Den Begriff prägte 1773 Johann Gottfried Herder. Volkslieder sind gebunden an Traditionen im Arbeits- und Festbereich (→ Hochzeit, → Osterbräuche, → Kirmes), sie werden von einer regional und sozial determinierten Gemeinschaft gesungen. Volkslieder sind nicht zwangsläufig allen bekannt, sondern in bestimmten Landstrichen, einzelnen Städten oder Dörfern unter bestimmten Gruppen, z. B. den Frauen (→ Spinnstube) oder einzelnen Berufsgruppen (Bauern, Hirten, Soldaten). Ihre Herkunft lässt sich meist nicht ermitteln. Je nach Thematik und sozialer Funktion werden Arbeits- (z. B. beim Dreschen, Flachsreffen, Federnschleißen) und Tanzlieder, Scherz- und Liebeslieder, Hochzeits- und Klagelieder, Heische- und Kinderlieder sowie geistliche Gesänge (→ Kirchenlied) und den Märchen und Sagen ähnliche, erzählende Lieder unterschieden. Nach Jan Hórčanski (1782) nannte die sorbische Landbevölkerung in der Oberlausitz ihre Volkslieder pěsnički, in der Niederlausitz laut Jan Arnošt Smoler (1843) proznicki. Die heute gebräuchliche Bezeichnung obersorb. ludowy spěw, niedersorb. ludowy spiw für Volkslieder leitet sich von obersorb. spěwać, niedersorb. spiwaś ,singen’ her und ist erstmals in den Bibelübersetzungen in Verbindung mit „Lobgesang“ und „Gebet“ belegt. In den Sammlungen sorbischer Volksdichtung bilden Volkslieder mit ca. 1 500 Texten und 1 000 Melodien den umfangreichsten Teil. Dies ist nicht allein der romantischen Begeisterung der Sammler und ihrem Fleiß im 19. Jh. geschuldet, sondern entspricht der Beobachtung, dass das Singen bei Jung und Alt, bei Frauen wie Männern sehr beliebt war.

Erste Ausgabe sorbischer Volkslieder von Jan Pětr Jordan, 1841; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Sorbische Volkslieder sind in der Regel kehrreimlos. Zwei- und dreizeilige Strophen mit meist weniger als zehn Silben pro Zeile bestimmen die Struktur. Der für das Sorbische typische trochäische Charakter bedingt die Auftaktlosigkeit der Melodien. Wo ein Auftakt erzeugt werden soll, steht die Bindesilbe ha bzw. hale, die auch den Übergang von der einen zur anderen Strophe glättet. In älteren Volksliedern tritt als musikalisch formbildendes Element die dreitaktige Periode auf. Charakteristisch sind gerade und ungerade Taktarten, besonders der 2/4-, 3/4- und 4/4-Takt. Taktwechselnde „zwiefache“ Melodien gehören zu den Eigenheiten des Volksgesangs in der Schleifer Region. Etwa 12 % der bis zum Ende des 19. Jh. aufgezeichneten Melodien wurden laut Aussage des tschechischen Musikethnologen Ludvík Kuba in den Kirchentonarten, v. a. im dorischen und im äolischen Modus, nicht aber im heute üblichen Dur-Moll-tonalen System gesungen, was auf eine Tradition vor 1600 verweist. Die Sangesart wird als einstimmig, laut und vorzugsweise in hohen Tonlagen beschrieben.

Einen ersten schriftlichen Beleg über die Existenz sorbischer Volkslieder bieten Niederlausitzer Gerichtsakten aus dem 16. Jh., die den Gesang „windischer Scheltlieder“ beanstanden. Vermutlich handelte es sich dabei um Protestlieder der Bauern gegen ihre Obrigkeit. Christian Knauthe unterstrich 1767 die Vorliebe der Sorben für das geistliche Volkslied im kirchlichen wie im profanen Gebrauch. Damit konnten sowohl Kirchenlieder (obersorb. kěrluše, niedersorb. kjarliže) als auch Legendenlieder (obersorb. pokěrluški, niedersorb. bamžycki) gemeint sein. Letztere ähneln den Legendenmärchen und besingen die Erlösungsgeschichte vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht. Ihre Überlieferung ist verbunden mit der mittelalterlichen Tradition der Passionsspiele, diese wurde von der katholischen Kirche auch nach der Reformation fortgeführt. Dementsprechend waren sie besonders in der katholischen Region verbreitet, während in den übrigen Gebieten das protestantische Kirchenlied gepflegt wurde.

Niedersorbischer Teil der Volksliedersammlung von Leopold Haupt und Jan Arnošt Smoler, 1841/43; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Ein anschauliches Beispiel für die Wanderung des Liedguts durch ganz Europa bis nach Asien und mit den europäischen Kolonisten nach Amerika bieten die Balladenlieder. Schon Smoler machte auf die weite Verbreitung dieser epischen, meist dramatisch zugespitzten Liedgattung aufmerksam. Ihre Überlieferung führt u. a. auf die städtischen Marktplätze der Frühen Neuzeit zurück, wo Spielleute und Gaukler mit Moritaten auftraten und mit Liederdrucken handelten. Smoler beschreibt die sorbischen Balladen als „romantisch und elegisch“ – ein Eindruck, den die schwermütig versonnene Vortragsweise seiner Gewährsleute erweckte. Wie die Sagen und Märchen gehörten die Balladen zur erzählenden Unterhaltung der Landbevölkerung am Feierabend wie bei eintönigem Tagwerk. Hauptthemen sind unglückliche Liebe, Verführung, Notzucht und Totschlag. Kinder werden von Fremden entführt und Wirtsleuten als Pfand für Bier und Wein überlassen, Mädchen ins Kloster gesteckt, weil sie einen anderen Geliebten haben, Burschen verlassen ihre Bräute, weil sie in den Krieg oder sieben Jahre in die Fremde ziehen usw. Das aus dem Altertum überlieferte Motiv von Hero und Leander, bekannt als die Ballade von den zwei Königskindern, die wegen des tiefen Wassers nicht zueinander gelangen können, verortet der niedersorbische Beleg „Za Kamjeńcom, za górami“ (Hinter Kamenz, hinter den Bergen). Grausam wie im Märchen erzählen mehr als 30 dreizeilige Strophen von der Ehe eines Mädchens mit dem Wassermann, der die gemeinsamen sieben Kinder tötet, weil ihre Mutter seinen Anweisungen zuwiderhandelt und den Segen beim Sonntagsgottesdienst empfängt.

Mit weitaus weniger Dramatik als die Balladen erzählen die lyrischen Volkslieder, wenngleich auch sie nicht ohne epische Elemente auskommen. Im Mittelpunkt steht hier das Liebesleben. Die vorherrschenden Motive Werbung und Liebesglück, Abschied, Trennungsschmerz und Wiederbegegnung werden lyrisch und mit dem Anklang einer zarten Erotik besungen. Derb-sinnliche Lieder fehlen, da sie – im Gegensatz zu entsprechenden Schwänken – nicht aufgezeichnet wurden. Die Texte loben einerseits die Tugend von Vätern und Müttern, die die Keuschheit ihrer unverheirateten Töchter bewachen, geben andererseits den Jünglingen aber auch klare Anweisungen, wie sie nachts unbemerkt in die Kammer der Liebsten gelangen. Überhaupt legen die Lieder recht unmissverständlich dar, was erlaubt ist, sobald die Ehe versprochen wurde.

Bearbeitung sorbischer Volkslieder von Bjarnat Krawc, um 1910; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Kennzeichnend für die mündliche Tradierung sind die formelhaften Wiederholungen von Textzeilen, die Vorliebe für Dialoge sowie der Einsatz metaphorischer Wendungen und sprichwörtlicher Redensarten (→ Phraseologie). Der „wěnašk ruśany“ (niedersorb.) ,Rautenkränzlein’ steht für die Jungfräulichkeit des Mädchens, dessen Schönheit „ličko čerwjene“ (obersorb.) ,rotes Wängelein’ und „čołko błyšćate“ (obersorb.) ,glänzendes Stirnlein’ zieren. Das Bild vom rotwangigen, aber wurmstichigen Apfel warnt allegorisch vor dem schönen, jedoch unzüchtigen Mädchen. Wenn sie „die weißen Händchen ringt“, befindet sie sich in großer Trauer um ihren Liebsten oder weil der „Weg verschneit“, d. h. die Leidenschaft vergangen ist. Sprachliche Formeln und Bilder bilden einen Grundbausatz an Variationen, wenn Lieder als sog. Rundgesänge umlaufend im geselligen Kreis und beim Tanz gesungen und aus dem Stegreif Strophen hinzugedichtet werden. Gleichzeitig unterstützen sie die Gedächtnisleistung und damit die „richtige“, von der Gemeinschaft kontrollierte Weitergabe. Typisch ist der Einzelgesang im Wechsel mit dem Chor bzw. beim Tanz im 19. Jh. der Wechsel zwischen Sängern und Musikanten (→ Musik, → Volksmusikinstrumente, → Volkstanz). Daraus erklärt sich der von Ludvík Kuba festgestellte Unterschied zwischen der Melodie eines gesungenen Volkslieds und der Melodie desselben, aber instrumental gespielten Liedes.

Tschechische Edition sorbischer Volkslieder für Klavier von Ludvík Kuba, 1921; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Brauchgebundene Lieder begleiten den Ablauf des bäuerlichen Festkalenders ebenso wie die Familienfeiern. Sie hängen eng mit ritualisierten Vorstellungen und Praktiken zusammen und werden nur zu diesen Anlässen gesungen. Zu Neujahr gingen die Kinder und Jugendlichen von Haus zu Haus und sangen, wofür mit einer kleinen Gabe gedankt wurde. In der Fastenzeit vor Ostern bevorzugten die Mädchen in den Spinnstuben Passions- und Legendenlieder und zogen in der Osternacht singend durchs Dorf; in den katholischen Gemeinden überbringen bis heute die Osterreiter die Osterbotschaft mit Gesang in die Nachbarorte. In der Niederlausitz steht die Fastnacht in enger Verbindung mit dem Zampern, einem Heischebrauch, der sich bis weit über die Grenzen des sorbischen Siedlungsgebiets erhalten hat. In Lieberose und in der Schleifer Region sang man: „Zemper in die Gasse, Geld in die Tasche, Branntwein in die Flasche, Eier in den Kober. Lasst uns nicht zu lange steh’n, wir woll’n weiter zempern geh’n!“ Heischelieder wurden auch gesungen, wenn jemand im Dorf Brot gebacken oder ein Schwein geschlachtet hatte bzw. zur Kirmes, zum Martins- und Dreikönigstag. Unter den das Leben begleitenden Volkslieder fallen in den Sammlungen besonders die vielen Hochzeitslieder auf, die bei der Verabschiedung der Braut aus dem Elternhaus, auf dem Weg zur und von der Trauung sowie beim Festmahl und bei der Abnahme der Brautkrone bzw. des Schleiers zu Mitternacht erklingen. Ihr Sprachstil weicht deutlich von den naiven und ungekünstelten Volksliedern ab, was auf den Einfluss von Pfarrern und Hochzeitsbittern schließen lässt.

Zu einer systematisierten Ausgabe von Volksliedern kam es Mitte des 19. Jh. mit dem von der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften preisgekrönten Kompendium „Pjesnički hornych a del’nych Łužiskich Serbow = Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz“ (1841/43) von Leopold Haupt und Jan Arnošt Smoler, das mehr als 500 Einträge meist mit Melodien und umfangreiche volkskundliche Kommentare im Anhang enthält. Schon 1780 hatte die Oberlausitzische Gesellschaft zum Sammeln sorbischer Volkslieder aufgerufen. Im Winter 1788/89 ließ sich Leutnant Günther von Bünau von seinen aus der Region um Guben, Spremberg und Krummspree stammenden Soldaten Volkslieder vorsingen, die Aufnahme in den niedersorbischen Teil der Volksliedersammlung fanden. Der polnische Publizist Andrzej Kucharski begab sich 1826 auf eine Wanderung durch die Lausitz und erfasste Volkslieder, die 1830 in der tschechischen Zeitschrift „Časopis Českého Musea“ erschienen. Die Studenten an den Universitäten Breslau, Prag und Leipzig interessierten sich wie die sorbischen Gymnasiasten in Bautzen für Volkslieder, sammelten aber mit Ausnahme des Prager Studenten Jan Pětr Jordan (1841) nur sporadisch. In der Niederlausitz zeichnete Ende der 1830er Jahre parallel zu Smoler und Jordan Jan Boguchwał Markus Volkslieder auf, die jedoch erst 1881 von Michał Hórnik veröffentlicht wurden. Alle späteren, im Wesentlichen zwischen 1860 und 1890 im „Časopis Maćicy Serbskeje“ publizierten Sammlungen – so von Hendrich Jordan, Arnošt Muka, Handrij Dučman, Michał Róla, Adolf Černý und Wilibald von Schulenburg – ergänzen die vorherigen v. a. durch Varianten und noch unbekannte Melodien.

Sammlung von Volksliedern aus der Schleifer Region, Kólesko 2013

1878 erschien das erste Liederbuch unter dem Titel „Towaršny spěwnik za serbski lud“ (Geselliges Liederbuch für das sorbische Volk), zusammengestellt und nach Themen und Anlässen gegliedert von Korla Awgust Fiedler, das neben Kunstliedern auch Volkslieder enthielt und bis 1927 mehrere ergänzende Auflagen erfuhr. Die Struktur dieser Liederbücher nahm Měrko Šołta zum Vorbild für die Neuausgabe des „Towaršny spěwnik“ von 2009 (inzwischen auch als App).

Ludvík Kuba widmete sich 1887 in einer ersten wissenschaftlichen Studie der sorbischen Volksmusik. Diese auch tschechisch veröffentlichte Arbeit (1922) und ein deutschsprachiger Artikel von Jurij Pilk über den „Volksgesang der Wenden“ (1895) trugen zur Popularisierung der Bemühungen um das sorbische Volkslied bei. Im 20. Jh. widmeten sich Bjarnat Krawc, Pawoł Nedo und Jan Rawp dem Studium dieses Liedguts. In den 1960er Jahren entwickelte sich zwischen dem Volkskundler Karel Horálek, dem Historiker Frido Mětšk, dem Literaturwissenschaftler und Slawisten Wolfgang Gesemann und dem Musikethnologen Jan Rawp ein wissenschaftlicher Disput über das Alter und die Echtheit zweier Volkslieder, die Smoler 120 Jahre zuvor als Zeugnis einer frühen sorbischen Heldenepik gewertet hatte. Von einer systematischen Volksliedforschung kann allerdings nicht die Rede sein. Dennoch hat das sorbische professionelle sowie Laienmusikschaffen von Aufnahme und Verschriftlichung der Volkslieder profitiert.

Lit.: L. Kuba: Narodne hudźbne wuměłstwo łužiskich Serbow, in: Časopis Maćicy Serbskeje 90 (1887); P. Nedo: Grundriß der sorbischen Volksdichtung, Bautzen 1966; J. Raupp: Sorbische Musik, 2. Aufl., Bautzen 1978; Handbuch des Volksliedes, Hg. R. W. Brednich/​L. Röhrich/​W. Suppan, Band 1: Die Gattungen des Volksliedes, München 1973; S. Hose: „Serbow dobyća“ – der Disput über die „Echtheit“ eines sorbischen Volkslieds, in: Lětopis 59 (2012) 2.

Metadaten

Titel
Volkslieder
Titel
Volkslieder
Autor:in
Hose, Susanne
Autor:in
Hose, Susanne
Schlagwörter
Lied; Ballade; Brauch; Gesang; Kirchenlied; Volksdichtung; Legendenlied; Musik; Volksmusikinstrument; Volkstanz; Liedgut; Volkspoesie; Liederbuch
Schlagwörter
Lied; Ballade; Brauch; Gesang; Kirchenlied; Volksdichtung; Legendenlied; Musik; Volksmusikinstrument; Volkstanz; Liedgut; Volkspoesie; Liederbuch
Abstract

Über Generationen mündlich überlieferte, populäre Lieder. Volkslieder sind gebunden an Traditionen im Arbeits- und Festbereich, sie werden von einer regional und sozial determinierten Gemeinschaft gesungen. Einen ersten schriftlichen Beleg über die Existenz sorbischer Volkslieder bieten Niederlausitzer Gerichtsakten aus dem 16. Jh.

Abstract

Über Generationen mündlich überlieferte, populäre Lieder. Volkslieder sind gebunden an Traditionen im Arbeits- und Festbereich, sie werden von einer regional und sozial determinierten Gemeinschaft gesungen. Einen ersten schriftlichen Beleg über die Existenz sorbischer Volkslieder bieten Niederlausitzer Gerichtsakten aus dem 16. Jh.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter

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