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Nationale Wiedergeburt
von Peter Kunze

Aufklärerische Schrift von Jan Hórčanski, 1782; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Prozess des nationalen Erwachens, der bei zahlreichen slawischen Völkern Ende des 18. Jh. einsetzte und im 19. Jh. in die Entstehung moderner bürgerlicher Nationen mündete. Anzeichen einer nationalen Bewusstwerdung zeigten sich bei den Sorben Mitte des 18. Jh., insbesondere in der Oberlausitz. Von der Spätaufklärung und dem Pietismus vorbereitet, verlief die nationale Wiedergeburt in mehreren Phasen bis zur Mitte des 19. Jh.

In der ersten, etwa bis zum zweiten Jahrzehnt des 19. Jh. reichenden Phase dominierten allgemeine Bemühungen um Wissensvermittlung unter den sorbischen Intellektuellen auf der Basis der Muttersprache. Die sorbische nationale Entwicklung erhielt damals besonders von deutscher Seite starke Impulse. Knotenpunkte fortschrittlicher Ideen bildeten die Universitätsstädte Leipzig und Prag. Bereits 1716 war in Leipzig unter dem Einfluss der Aufklärung die Wendische Predigergesellschaft entstanden, in der sorbische Studenten der Theologie das Predigen in der Muttersprache übten. Auch literarische Tätigkeit förderte das nationale Bewusstsein unter den Mitgliedern. Jedoch blieb ihre Ausstrahlung zunächst gering, da die Gesellschaft nur von wenigen Vertretern des Bildungsbürgertums getragen wurde. Das galt auch für den 1746 nach Leipziger Vorbild entstandenen Wittenberger Predigerverein (→ Wendische Predigergesellschaft). Für die katholischen Sorben erlangte das 1706 in Prag gegründete Wendische Seminar Bedeutung, das sich als eine Stätte der Pflege und Förderung sorbischer Sprache erwies. Eine wichtige Rolle für die Entfaltung des geistig-kulturellen Lebens in der zweisprachigen Lausitz spielte die 1779 in Görlitz gegründete Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften. Mit vielfältigen Initiativen zur Unterstützung sorabistischer Forschungen und konsequentem Eintreten für die Rechte der Sorben beeinflusste sie maßgeblich die Vertreter sowohl des deutschen als auch des sorbischen Bürgertums. Doch administrative Maßnahmen wie die Zerstückelung des sorbischen Siedlungsgebiets nach dem Wiener Kongress (1815), so die Zuordnung der Territorien zu verschiedenen Staaten (Sachsen und Preußen) und innerhalb dieser zu verschiedenen Verwaltungseinheiten, verhinderten, dass sich alle Sorben in einer Zeit des Aufschwungs von Gesellschaft, Wirtschaft und Handel zu einem festen Organismus zusammenschließen und ihre Sprache und Kultur gemeinsam pflegen konnten. Die Verbreitung sorbischer Literatur und der Austausch von Ideen über Landesgrenzen hinweg waren erschwert. Hinzu kam, dass es an einer sorbischen städtischen Bourgeoisie mangelte. Deshalb übernahmen kleinbürgerliche Schichten, d. h. Pfarrer, Lehrer und Studenten sowie bäuerliche Kreise, die Führung der Nationalbewegung. Ihre Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten differierten, da der Spielraum für die Anwendung der sorbischen Sprache in den einzelnen Territorien unterschiedlich war. Führende Vertreter der Intelligenz konzentrierten ihre Anstrengungen darauf, die nationale Gleichberechtigung innerhalb der deutschen Territorialstaaten zu erlangen, die sorbische Kultur weiterzuentwickeln und den Übergang zur bürgerlichen Nationalität zu vollziehen.

Am Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jh. setzte unter wachsendem Einfluss der Romantik die zweite Phase der nationalen Wiedergeburt ein. Nun wurden die wissenschaftlichen Bestrebungen und kulturellen Zielstellungen bewusst in den Dienst am Volk gestellt. Anstoß zu einer Stärkung des geistig-kulturellen Lebens gaben die Erneuerung der Wendischen Predigergesellschaft 1814 durch Handrij Lubjenski, den späteren evangelischen Pfarrer an der Bautzener Michaeliskirche, und Bjedrich Adolf Klin, der 1847 erster Vorsitzender der wissenschaftlich-kulturellen Gesellschaft Maćica Serbska wurde. 1817 begrüßten die in Leipzig studierenden Sorben das Wartburgfest als Demonstration für die Einheit Deutschlands. Die sorbische Sprache wurde nun Gegenstand der Forschung. Dem Dichter Handrij Zejler gelang es 1830, eine »Kurzgefasste Grammatik der sorbenwendischen Sprache nach dem Budissiner Dialekte« herauszugeben. Unter dem Einfluss der romantischen Ideen begannen sorbische Studenten Volkslieder, Sagen, Märchen und Sprichwörter zu sammeln und gründeten eine handschriftliche Zeitschrift, in der sie selbst verfasste Gedichte und andere literarische Arbeiten publizierten. Es wurden Kontakte zu slawischen Gelehrten geknüpft, die ihrerseits die Sorben besuchten und ihnen Anregungen für kulturelle Aktivitäten gaben. Studienreisen führten z. B. Michał Bobrowski 1822, Andrzej Kucharski 1825/26 und Josef Dobrovský 1825 in die Lausitz. Das Wendische Seminar in Prag spielte bei der Vermittlung dieser Kontakte eine herausragende Rolle, es war für die katholischen sorbischen Studenten eine unverzichtbare Wohn- und Bildungsstätte. Hier widmeten sie sich ihrer Muttersprache, schrieben Aufsätze und Gedichte, sammelten Schätze der Volkskultur und schufen sich ebenfalls eine handgeschriebene Zeitschrift. Ihnen wurde gesamtslawisches Gedankengut vermittelt, wodurch sie einen tieferen Einblick in die Sprachen, die Geschichte und die Kultur slawischer Völker erhielten. In dieser Phase gewann die slawische Wechselseitigkeit entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der bürgerlichen sorbischen Kultur und die Festigung des nationalen Bewusstseins. Dies kommt deutlich in einer Petition von 18 evangelischen sorbischen Geistlichen zum Ausdruck, die 1834 im Namen von 50 000 Sorben eine gleichberechtigte Anwendung der sorbischen Sprache im öffentlichen Leben forderten.

Jan Pětr Jordan; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Die dritte, entscheidende Phase der sorbischen Wiedergeburt setzte mit Beginn der 1840er Jahre ein. Jetzt bildete sich v. a. im sächsischen Teil der Oberlausitz eine sorbische nationale Bewegung unter Einschluss breiter Volksschichten heraus. Ihre charakteristischen Merkmale waren: Vermittlung des Sorbischen im Elementarschulwesen, Bemühungen um Pflege und Erhaltung der nationalen Sprache und Kultur durch Schaffung einer eigenen Literatur und eines eigenen Theaters, Entfaltung der sorbischen Presse, Sammlung von Schätzen der Volkskultur, Besinnung auf eigene historische Traditionen, Kampf gegen Germanisierung und Assimilation. Voraussetzungen für den Aufschwung waren die Neuerungen in Sachsen in den 1830er Jahren, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Verfassung von 1831 und die Ablösungsgesetze von 1832, die Reformen im Bereich des Schulwesens (Volksschulgesetz von 1835, → Schule) und die Liberalisierung der politischen Verhältnisse. Nun kamen die vielfältigen Initiativen sorbischer Intellektueller, die ihre Kräfte für die Erhaltung von Sprache und Kultur einsetzten, zum Tragen. Zentren der nationalen Wiedergeburt waren zunächst die Studenten- und Gymnasiastenvereine, weil gerade die Jugend von den neuen Ideen inspiriert und begeistert war. Sorbische und deutsche Studenten aus der Lausitz gründeten 1838 in Breslau einen Akademischen Verein für lausitzische Geschichte und Sprache.

1839 entstand am Gymnasium in Bautzen der Verein Societas Slavica Budissinensis, dem damals eine wichtige Rolle zukam. Auch am Bautzener Landständischen Seminar, wo die Mehrzahl der sorbischen Lehrer für die Oberlausitz ausgebildet wurde, schlossen sich die Zöglinge 1839/40 zu einem Verein zusammen. In Leipzig gründeten sorbische, polnische und tschechische Studenten 1841 einen Akademischen Slawenverein. Die katholischen Studenten bildeten 1846 am Prager Wendischen Seminar die Vereinigung Serbowka, die eine Mittlerrolle zwischen den Sorben und anderen slawischen Völkern übernahm. In der Niederlausitz entstand 1849 der erste Verein: Cottbuser Gymnasiasten schlossen sich in der Vereinigung Łužyca zusammen, die allerdings nur drei Jahre bestand.

1842 erschien nach einer Unterbrechung von 30 Jahren wieder eine gedruckte obersorbische Zeitung, die von Jan Pětr Jordan gegründete »Jutrnička«, der bald die »Tydźenska Nowina« folgte. Einen nachhaltigen Eindruck bei der deutschen und sorbischen Bevölkerung hinterließen die seit 1845 auf Anregung von Handrij Zejler und Korla Awgust Kocor durchgeführten sorbischen Gesangsfeste in Bautzen (→ Musik). Die Feste stärkten das nationale Bewusstsein sowohl der Intelligenz als auch der ländlichen Bevölkerung, sie bewiesen die gewachsene Breite der nationalen Bewegung. Von 1845 bis 1851 fanden insgesamt elf Gesangsfeste statt. Ein Höhepunkt der nationalen und kulturellen Aktivitäten im Vormärz markierte 1847 die Gründung der Maćica Serbska. Damit schuf sich die Intelligenz eine straffe Struktur zur Organisation des kulturellen Lebens, zur Koordinierung wissenschaftlicher Arbeit und zur Herausgabe sorbischer Publikationen. Während die Maćica bis zu ihrem Tätigkeitsverbot 1937 erfolgreich in Bautzen wirkte, bestand der 1850 in Cottbus auf Anregung deutscher Gutsbesitzer gegründete Sorbische Verein für die Niederlausitz nur ein reichliches Jahr. Hier gelang es erst 1880, mit der Maśica Serbska eine vergleichbare Gesellschaft zu schaffen, die die nächsten Jahrzehnte das niedersorbische Kulturleben namentlich durch Buchausgaben bereicherte.

Jan Arnošt Smoler, führende Persönlichkeit der sorbischen nationalen Wiedergeburt; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Einen gewissen Abschluss fand die nationale Wiedergeburt mit der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49. Durch Einbeziehung der unabhängigen Bauern nahm sie nun Massencharakter an und schloss in ihr kulturelles Engagement auch politische und soziale Ziele ein. In einer von 5 000 »Haushaltungsvorständen« unterzeichneten Petition an die sächsische Regierung forderten die Sorben 1848 die Gleichberechtigung ihrer Sprache und Kultur in Kirche und Schule, bei Behörden und vor Gericht. Die sorbische Landbevölkerung dehnte den Forderungskatalog auf den sozialen Bereich aus. In weiten Teilen der Lausitz bildeten sich Bauernvereine, in denen die Mitglieder politisch geschult wurden, aktuelle Zeitfragen erörterten und nach Wegen zur Verbesserung ihrer Lage suchten. Bis April 1849 entstanden in der sächsischen Oberlausitz 22 Vereine mit nahezu 2 000 Mitgliedern (→ Vereinswesen). Die Bauernbewegung erfasste beide Lausitzen. In mehreren Petitionen wurden die Beseitigung der feudalen Überbleibsel auf dem Lande, die Verringerung der Dienste und Abgaben sowie eine Revision der geltenden Ablösungsgesetze verlangt.

Die nachrevolutionäre Periode war geprägt vom Ringen um die Wahrung der bis 1848/49 erreichten Positionen. Jetzt zogen sich viele ehemals führende Sorben, enttäuscht über den unbefriedigenden Ausgang der Revolution, von der politischen Bühne zurück, Bauernvereine lösten sich auf. Erst in den 1860er Jahren wurde die Stagnation in der Kulturarbeit allmählich überwunden. Das zeigte sich zunächst in einer wachsenden Buchproduktion. Von 1849 bis 1865 erschienen 282 sorbische Titel, Buchgemeinschaften sorgten für die Verbreitung der Druckerzeugnisse. Weitere kulturelle Höhepunkte waren 1860 die Gründung der literarischen Zeitschrift »Łužičan«, die Erneuerung der seit 1851 unterbrochenen sorbischen Gesangsfeste durch neu gegründete Chöre, die erste sorbischsprachige Theateraufführung 1862, die Gründung einer sorbischen Buchhandlung 1863 in Bautzen (→ Verlagswesen), die sich um den Verkauf sorbischer und weiterer slawischer Publikationen kümmerte, sowie nach über 20-jähriger Forschungstätigkeit die Herausgabe des von Křesćan Bohuwěr Pful erarbeiteten »Lausitzisch-wendischen Wörterbuchs« (1866).

Nach der Reichseinigung von 1871 trat die Jungsorbische Bewegung an die Spitze der Bestrebungen um Erhaltung und Entfaltung von sorbischer Sprache und Kultur.

Lit.: M. Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas, Praha 1968; P. Kunze: Formen der Kulturentwicklung im Rahmen der nationalen Wiedergeburt der Lausitzer Sorben, in: Lětopis B 29 (1982) 2; P. Kunze: Jan Arnošt Smoler. Ein Leben für sein Volk, Bautzen 1995; S. Brězan: Deutsche Aufklärung und sorbische nationale Wiedergeburt, Bautzen 1993.

Metadaten

Titel
Nationale Wiedergeburt
Titel
Nationale Wiedergeburt
Autor:in
Kunze, Peter
Autor:in
Kunze, Peter
Schlagwörter
Aufklärung; Kultur; Nation; Romantik; Sprache; Student; Verein
Schlagwörter
Aufklärung; Kultur; Nation; Romantik; Sprache; Student; Verein
Abstract

Prozess des nationalen Erwachens, der bei zahlreichen slawischen Völkern Ende des 18. Jh. einsetzte und im 19. Jh. in die Entstehung moderner bürgerlicher Nationen mündete. Anzeichen einer nationalen Bewusstwerdung zeigten sich bei den Sorben Mitte des 18. Jh., insbesondere in der Oberlausitz. Von der Spätaufklärung und dem Pietismus vorbereitet, verlief die nationale Wiedergeburt in mehreren Phasen bis zur Mitte des 19. Jh.

Abstract

Prozess des nationalen Erwachens, der bei zahlreichen slawischen Völkern Ende des 18. Jh. einsetzte und im 19. Jh. in die Entstehung moderner bürgerlicher Nationen mündete. Anzeichen einer nationalen Bewusstwerdung zeigten sich bei den Sorben Mitte des 18. Jh., insbesondere in der Oberlausitz. Von der Spätaufklärung und dem Pietismus vorbereitet, verlief die nationale Wiedergeburt in mehreren Phasen bis zur Mitte des 19. Jh.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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