Überkonfessionelle oppositionelle Strömung sorbischer Studenten und Gymnasiasten um Jakub Bart-Ćišinski in Prag und Arnošt
Muka in Leipzig im
letzten Viertel des 19. Jh., die sich v. a. in Literatur und Wissenschaft
ausdrückte. Die junge Generation hatte zu einer kritischen Bewertung der
nationalen Situation gefunden und begründete in der Zeitschrift
junger Sorben „Lipa Serbska“ (Sorbische Linde) den eigenen Führungsanspruch. Im
Hintergrund stand der Generations- und Politikwandel innerhalb der tschechischen
Nationalbewegung seit 1863, d. h. die Abtrennung der sog. jungtschechischen
Partei von den Alttschechen, also den Konservativen unter Führung von František Palacký und František Ladislav Rieger. Wie die
Jungtschechen nach 1919 in der nationaldemokratischen Partei unter Karel Kramář aufgingen, so wurde das
jungsorbische Erbe nach 1912 von der Domowina aufgenommen. Die Abgrenzung der „Jungen“ gegenüber den
„Alten“ war ein gesamteuropäisches Phänomen der in Staatsbildung begriffenen
Nationen, das seitdem auch die kleinen Völker ohne Staat erfasste, z. B.
Kaschuben und Katalanen. Dieser Emanzipationsprozess weist bei allen
Unterschieden charakteristische Generationskonflikte auf, die fast zeitgleich
bei wissenschaftlichen Kontroversen auftraten, wie das Beispiel der
Junggrammatiker zeigt. Einer davon war der Leipziger Slawist August Leskien, wichtigster akademischer
Lehrer von Arnošt Muka.
Erste Ausgabe der Zeitschrift „Lipa Serbska“, 1876; Repro: Sorbische
Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Arnošt Muka, um 1872; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Die Wurzeln der jungsorbischen Agitation und Radikalität lagen nicht in Leipzig, wo Muka den
ersten Jahrgang der „Lipa Serbska“ (1876/77) redigierte, sondern in Prag. 1877
übernahm Jakub Bart-Ćišinski die Redaktion mit dem Anspruch, die Zeitschrift
auch unter dem „evangelischen bäuerlichen Volk“ zu verbreiten, worum sich
bislang niemand gekümmert hätte. In Abgrenzung u. a. zu deutschen
Kommers-Allüren redigierte Bart-Ćišinski die Zeitschrift (erschienen bei Schmalers
Verlag und Buchdruckerei in Bautzen) bis zu seiner Einberufung zum Militär im Herbst 1881. Der
Titel knüpfte unauffällig, doch erkennbar an den am 15.9.1849 im Gasthaus „Zum
Weinberg“ in Bautzen gegründeten, jedoch schon 1850 zerfallenen ersten
gesamtstudentischen sorbischen Verein „Serbska lipa“ (Sorbische Linde) an.
Dieses Erbe der Revolutionszeit aufnehmend, hatte die am 8.8.1875 einberufene
Schadźowanka die Herausgabe
einer Zeitschrift beschlossen, die als „Organ der Jungen“ gelten sollte. Die
Jungsorben betrachteten die nach der Reichsgründung veränderten Zeitumstände zu
Recht als existenzielle Gefährdung der Minderheit und gelangten so zu einer
negativen Wahrnehmung und Beurteilung des sorbischen Lebens. Sie suchten
Verantwortung als Teil des Volkes, im Sinne seiner nationalen Selbstbehauptung,
seines Festhaltens am „Ererbten“. Dies schloss Ethik und Moral,
Verhaltensweisen, Sprache, poetische Ausdrucksmittel u. v. a. ein. Der Ansatz
zeigte die Brisanz der nationalpolitischen Auseinandersetzung mit den „Alten“,
in Gang gesetzt durch Barts „Hłosy ze Serbow do Serbow“ (Stimmen von Sorben zu
Sorben, 1878), ein offenes, wenn auch anonymes Sendschreiben. Solcher
Journalismus war für sorbische Verhältnisse neu. Für die „Alten“ antwortete,
gleichfalls anonym, der Philologe Křesćan Bohuwěr
Pful, indem er seinen Text „Hłós přećiwo hłosam“ (Stimme gegen
die Stimmen) Jan Arnošt Smoler
übergab; doch dieser, vorsichtig taktierend und eher den Jungsorben zuneigend,
druckte ihn im „Łužičan“, der als Organ der „Altsorben“ galt, nicht ab. Fasst
man die Altsorben als Gruppe, so waren es Etablierte, darunter Repräsentanten
der Maćica
Serbska, etwa Pfarrer Jaroměr Hendrich
Imiš, der 1882 als vermeintlicher Panslawist ins Zentrum einer
sorbenfeindlichen Pressekampagne geriet (→ Panslawismus). Dies schüchterte ihn ein, woraufhin sein
katholischer Amtsbruder Michał Hórnik
feststellte, Imiš bemühe sich fast nur noch um religiöse Literatur, um allen
deutschen Vorwürfen zu entgehen.
Um 1880 erklang in jungsorbischen Stellungnahmen die Auffassung, dass die Debatte mit den
„Alten“ zugunsten der Jungsorben verliefe. In der Rückschau sah Bart-Ćišinski
dieses Ziel erreicht. Eine „Zeit des Umschwungs“ sei es gewesen, wenngleich die
Gruppierung der Akteure danach zerfiel – sei es, dass sie der Beruf in Anspruch
nahm, sei es, dass sie in die Fremde verschlagen wurden oder die Lust an der
Sache verloren hatten. Bart-Ćišinski reduzierte die Jungsorben, die als „neue
Strömung“ nach Handrij Zejlers Tod die
junge Generation anführten, nun auf eine literarische Bewegung und sprach sich
selbst im Richtungsstreit um die ästhetische, aber auch nationale Position die
tragende Rolle zu.
Karikaturen in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Lipa Serbska“, 1876; Repro:
Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
Jakub Bart-Ćišinski; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen
Institut
Es war der Blick von außen und von innen, der seitdem stärker auf den sorbischen Mikrokosmos
fiel, intellektuell geschärft besonders in Prag, weniger in Leipzig; so bei dem
Slowaken Martin Hattala, seit 1861
Ordinarius für slawische Philologie an der Prager tschechischen Universität.
Seine Arbeiten zu Syntax, Volkssprache und Sprachnorm sowie seine Sprachtheorie
beeinflussten die Sprachkonzeption Bart-Ćišinskis und anderer Jungsorben sehr.
Geprägt durch Vorbilder wie diese und beflügelt von den großstädtischen
Lebensstilen und Moden, erschien die Diskrepanz zur sorbischen Existenz, die
einem Inseldasein glich, noch größer. Dies schürte den Wunsch, in die
Verhältnisse einzugreifen, sich selbst durch „positive Arbeit“ zu erproben, der
Sprachverdrängung entgegenzutreten, die bäuerliche Bevölkerung zu erwecken, sie
auszurüsten für den „furchtbaren Darwin’schen Kampf“ der großen und kleinen
Völker um Selbstständigkeit und Erhaltung der Nationalität. Diese und andere
Überlegungen verfestigten sich zur jungsorbischen Programmatik: „Wir wollen aus
den Sorben Sorben machen.“ Teil der Zukunftsplanungen war, angeregt durch die
tschechische nationale Bewegung, der Bau eines repräsentativen Hauses (→ Wendisches Haus in
Bautzen).
Die erste staatliche Instanz, die den Wandel in der sorbischen Nationalbewegung erfasste, war 1878 die
Bezirksschulinspektion Bautzen. Das Neue der „Agitation der wendischen Partei“
erblickte die Behörde darin, dass die Führer namentlich „jüngere Leute“,
Seminaristen und Gymnasiasten sowie Kandidaten der Theologie und des Schulamts,
heranzuziehen suchten. 1883 behauptete die Schulaufsichtsbehörde, dass „den
jungen wendischen Lehrern im Seminar in Bautzen panslawistische Ideen
eingepflanzt werden“ und sie diese „ins Leben und in ihr Amt“ mit hinausnehmen,
dass sie sich daher „gegenseitig nicht mit ihren verdeutschten, sondern ihren
wendischen Namen nennen“. Dies war jedoch ein Prozess der Selbstfindung,
eingefügt in jene breite Emanzipationsbewegung, die im Prager Umfeld der
Jungsorben als slawische Wechselseitigkeit Gestalt annahm.
Lit.: P. Nowotny: Ćišinskeho narodny program na zakładźe jeho swětonahlada,
Budyšin 1960; Sorbische Volksbewegung, 1872–1918. Quellenauswahl, Hg. H. Zwahr,
B. 1968; J. Bart-Ćišinski: Zhromadźene spisy, Bde. 8 u. 9: Publicistika, B.
1974; H. Zwahr: Die Sorben: ihre neuere Geschichte vergleichend betrachtet, in:
Im Wettstreit der Werte. Sorbische Sprache, Kultur und Identität auf dem Weg ins
21. Jahrhundert, Hg. D. Scholze, Bautzen 2003.