Bestand der Phraseologismen einer Sprache, gleichzeitig Bezeichnung für die
sprachwissenschaftliche Disziplin, die sich mit ihnen beschäftigt.
Obersorbisch-deutsch-russisches phraseologisches Wörterbuch,
Domowina-Verlag 2004
Phraseologismen sind Redewendungen, die aus mehr als einem Wort bestehen und in einer relativ
festen Form mit einer vollständig oder partiell idiomatischen Gesamtbedeutung
lexikalisiert sind. Der idiomatische Charakter eines Phraseologismus äußert sich
darin, dass seine Gesamtbedeutung nicht regulär nach den syntaktischen
Kombinationsregeln aus den Bedeutungen der Bestandteile ableitbar ist, oft ist
sie bildhaft oder übertragen. Typisch für die Bedeutung der meisten
Phraseologismen ist ihr expressiver, stilistisch markierter Charakter. Den Kern
der Phraseologie bilden satzgliedwertige Phraseologismen (z. B. obersorb.
nócny hawron, wörtlich ,nächtliche Saatkrähe‘, übertragen
,Nachtschwärmer‘; niedersorb. ptaškowa riś, wörtlich ,Vogelarsch‘,
übertragen ,Angsthase‘), im weiteren Sinne gehören dazu auch sog. kommunikative
Phraseologismen wie z. B. Gruß- und Wunschformeln (obersorb. pomhaj
Bóh; daj sej słodźeć; niedersorb. dobre zajtšo; Bog
daj gluku) und Sprichwörter (z. B. obersorb. Bjez prócy a potu njepřińdźeš k
złotu, wörtlich ,Ohne Mühe und Schweiß kommst du nicht zum Gold‘ =
Ohne Schweiß kein Preis; niedersorb Druga ruka – druga
gluka, wörtlich ,Andere Hand – anderes Glück‘ = Neues Spiel – neues
Glück).
Sorbische Phraseologismen wurden erstmals in der niedersorbischen Grammatik von Johann Gottlieb Hauptmann (1761) in einer
Sammlung zusammengestellt, wobei die einzelnen Typen noch nicht unterschieden
sind und die Sprichwörter überwiegen. Bedeutende Sammler von obersorbischen
Phraseologismen waren Handrij Zejler,
Jakub Buk („Časopis Maćicy
Serbskeje“ 1953/54, 1856/57, 1862), Jan Arnošt
Smoler („Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz“,
1841/43) und Jan Wjela-Radyserb
(Sammlungen im „Časopis Maćicy Serbskeje“, „Metaforiske hrona abo přenoški a
přirunanki w rěči Hornjołužiskich Serbow“ – Metaphorische Ausdrücke oder
Übertragungen und Vergleiche in der Sprache der Oberlausitzer Sorben, 1905).
Überwiegend Sprichwörter, aber auch zahlreiche Phraseologismen enthält
Wjela-Radyserbs Sammlung „Přisłowa a přisłowne hrónčka a wusłowa Hornjołužiskich
Serbow“ (Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten und Wendungen der
Oberlausitzer Sorben, 1902, bearbeitete Neuausgabe 1997). Ein dreisprachiges
obersorbisch-deutsch-russisches phraseologisches Wörterbuch von Anatolij Ivčenko und Sonja Wölkowa mit ca. 3 600
satzgliedwertigen Phraseologismen erschien 2004 („Hornjoserbski frazeologiski
słownik“, Internetversion unter www.serbski-institut.de). Niedersorbische
Phraseologismen wurden in neuerer Zeit nicht in eigenständigen Sammlungen
publiziert, niedersorbisches Sprichwortmaterial enthält jedoch das „Sorbische
Sprichwörterlexikon“ von Susanne Hose
(1996). Satzgliedwertige niedersorbische Phraseologismen sind in allgemeinen
niedersorbischen Wörterbüchern enthalten, ein Grundbestand von ca. 200
niedersorbischen Phraseologismen ist bei Herbert
Nowak („Gutes Niedersorbisch. Powědamy dolnoserbski“, 1988)
zusammengetragen. Der Bestand der niedersorbischen Phraseologismen ist insgesamt
noch ungenügend erforscht.
Sowohl die obersorbische als auch die niedersorbische Phraseologie weisen
zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der deutschen auf. Einerseits kann es sich um
parallele Bildungen handeln, die auch in zahlreichen weiteren Sprachen
nachweisbar sind: obersorb. wuši nastajeć, niedersorb. wušy
póstajaś = die Ohren spitzen (vgl. englisch prick up one’s
ears, französisch pointer les oreilles; russisch
навострить уши).
Andererseits können ähnliche Phraseologismen auf eine gemeinsame literarische Quelle
zurückgehen. Auf die Bibel (→ Bibelübersetzungen) sind z. B. zurückzuführen: obersorb. falšni
profeća, niedersorb. wopacne profety = falsche
Propheten (Matthäus 24,11); obersorb. někoho na rukomaj
njesć/nosyć = jemanden auf Händen tragen (Psalm 91,12).
In der andauernden Kontaktsituation des Ober- und Niedersorbischen mit dem Deutschen konnte jedoch auch eine
gegenseitige Beeinflussung der Phraseologie nicht ausbleiben, unter den
Bedingungen der Dominanz des Deutschen vor allem in deutsch-sorbischer Richtung.
Dabei handelt es sich meist nicht um direkte Entlehnungen (vgl. aus dem
Lateinischen nolens volens, auch im Obersorbischen nachweisbar, neben
lehnübersetztem chcyjo nochcyjo), sondern um Lehnübersetzungen
deutscher Redewendungen: z. B. obersorb. režiju wjesć = Regie
führen; obersorb. nós połny měć, niedersorb. měś nos
połny = die Nase voll haben. Dieses Verfahren lässt sich
jedoch nur anwenden, wenn die bildhafte Motivation des Phraseologismus
nachvollziehbar ist. Lehnübersetzungen von Phraseologismen, die in der
Ausgangssprache keine durchsichtige Motivation haben, sind fehlerhaft und
inakzeptabel (auf den Strich gehen > *na smužku chodźić). Vom
Standpunkt der Sprachkultur wird die stetige Vermehrung phraseologischer
Lehnübersetzungen oft kritisch als Überfremdung gesehen (→ Wortschatz).
Tatsächlich ist die Verbreitung von Phraseologismen durch Lehnübersetzung ein
produktives Mittel der Erweiterung und Erneuerung der Phraseologie auch in
anderen Sprachen, ihre pauschale Ablehnung ist als Ausdruck des Sprachpurismus einzuschätzen.
Gemeinsamkeiten bestehen darüber hinaus mit der Phraseologie der anderen slawischen Sprachen.
Entsprechungen in allen westslawischen und den meisten südslawischen Sprachen
hat z. B. der Phraseologismus obersorb. swjatk a pjatk, niedersorb.
swětki a pětki, wörtlich ,am Feiertag und am Freitag‘, übertragen
,jeden Tag, tagein, tagaus‘ (vgl. polnisch w świątek i piątek,
tschechisch jak v pátek tak svátek, slowakisch na sviatok i na
piatok, slowenisch petek in svetek, kroatisch svetkom i
petkom, petak i svetak).
Illustrierte Ausgabe obersorbischer Redewendungen,
Domowina-Verlag 2009
Das obersorbische phraseologische Wörterbuch als [Online-Publikation](https://www.serbski-institut.de/de/Obersorbisches-phraseologisches-Woerterbuch/) auf der Webseite des Sorbischen Instituts
Daneben gibt es zahlreiche spezifisch sorbischen Phraseologismen ohne direkte Parallelen zu
anderen Sprachen, z. B. niedersorb. měś brjogi a stogi něcogo, wörtlich
,Ufer und Heuschober von etwas haben‘, übertragen ,etwas in Hülle und Fülle
haben‘ oder obersorb. někomu w hembjerkach šeri, wörtlich ,bei jemandem
spukt es im Gebälk‘, übertragen ,jemand ist nicht ganz richtig im Oberstübchen‘.
Darin können u. a. Besonderheiten der sorbischen Volkskultur oder lokale
Gegebenheiten fixiert sein. Eine sorbische Sagengestalt (→ Sagen) ist z. B. der Hintergrund für die Redewendung
obersorb. zmija měć, niedersorb. plona měś, wörtlich ,einen
Drachen haben‘, übertragen ,wirtschaftlich (erstaunlich) gut situiert sein‘ –
der zmij bzw. plon als Sagengestalt beschenkt seinen Wirt mit
Milch, Geld oder Getreide. Ähnliches gilt für obersorb. so prašeć kaž
připołdnica, niedersorb. pšašaś se ako pśezpołdnica, wörtlich
,fragen wie eine Mittagsfrau‘, übertragen ,unaufhörlich, lästig Fragen stellen‘
– wer der Mittagsfrau in der Sage begegnet, muss eine volle Stunde über ein
Thema sprechen, sonst droht ihm der Tod. Andere Phraseologismen enthalten lokale
Ortsnamen, sie basieren oft auf den lokalen Charakteristika, vgl. obersorb.
w něčim sedźeć kaž Malešecy w błóće, wörtlich ,in etwas sitzen wie
Malschwitz im Schlamm‘, übertragen in der Patsche sitzen – Motivation
ist die Lage des Dorfes Malschwitz in der Oberlausitzer Teichlandschaft, sowie
niedersorb. historisch pśez Tocke byś, wörtlich ,über das Totzkefließ
sein‘, übertragen ,entkommen sein‘ – das Totzkefließ war Teil der
sächsisch-preußischen Grenze. Auch die spezifische Situation der Binationalität
der Lausitz widerspiegelt sich in der sorbischen Phraseologie, vgl. obersorb.
někomu Němc na hubu bije, wörtlich ,jemandem schlägt der Deutsche
auf den Mund‘, übertragen ,jemand spricht mit deutschem Akzent‘ (→ Interferenz). Für weitere
phraseologische Spezifika lässt sich die Motivation nicht rekonstruieren, vgl.
z. B. obersorb. někoho je koza liznyła, wörtlich ,jemanden hat die
Ziege geleckt‘, übertragen ,jemand ist enttäuscht worden, erfolglos geblieben‘
oder obersorb. mydło wjezć, wörtlich ,Seife fahren‘, übertragen ,sich
erfolglos entfernen, Leine ziehen‘.
Lit.: S. Wölke: Verbale Phraseme im Obersorbischen. Untersuchungen zur Valenz und
Struktur, Bautzen 1992; A. Ivčenko/S. Wölke: Hornjoserbski frazeologiski
słownik. Obersorbisches phraseologisches Wörterbuch. Верхнелужицкий
фразеологический словарь, Budyšin 2004; A. Ivčenko: Staw a perspektiwy slědźenja
na polu serbskeje frazeologije, in: Lětopis 53 (2006) 2.