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Erntebräuche
von Susanne Hose und Martina Noack

Rituale und Zeremonien, die Beginn und Abschluss der Getreideernte begleiten. Sie regeln die Arbeitsabläufe während der Ernte und normieren das Erntefest (→ Bräuche). Erntebräuche haben sich in Abhängigkeit von der agrarischen Verfassung der jeweiligen Landschaft entwickelt. Die Aufhebung von Leibeigenschaft und Roboten im 19. Jh. führte in Preußen, wo Verordnungen zum Bauernschutz fehlten, zum Aufkauf der kleinen Bauerngüter durch die Gutsherrschaften. Es entstand die Schicht der besitzlosen Landarbeiter, die sich zur Ernte- und Druschzeit auf den Gütern verdingten. Die von ihnen geprägten Erntebräuche wie das „Binden und Lösen“ als Anfangsbrauch oder das Erntedankfest widerspiegeln ihre Rechtsansprüche gegenüber dem Gutsherrn. Wegen der Mobilität der Saisonarbeiter ähneln sich die Erntebräuche besonders in Brandenburg, Mecklenburg, Pommern und Schlesien. Kuno Frankenstein (1892) bezeichnete die Sorben als tüchtige Erntekräfte, die wegen ihrer „Bedürfnislosigkeit und Treue“ auch außerhalb der Lausitz gern in Dienst genommen wurden. In Sachsen blieb nach 1832 die bäuerliche Agrarstruktur neben der gutsherrschaftlichen erhalten. Während für die Beschäftigten auf dem Rittergut das Erntefest das bedeutendste Fest war, dominierte in den bäuerlichen Wirtschaften der Oberlausitz die Kirmes als das wichtigste Hochfest. Hier hatte sich das Gedenken an die Kirchweihe mit dem Erntedank verbunden.

Beginn der Mahd war der Jakobustag (25. Juli). Schnitter und Binderin bzw. Abrafferin bildeten ein Arbeitspaar, dessen Zusammenstellung innerhalb des Gesindes hierarchisch geordnet war. Die Schnitter bekamen von ihren Binderinnen ein Sträußchen Feld- oder Kunstblumen für Hut und Sense (→ Fastnacht). In einigen Orten östlich von Bautzen wurde zur Übergabe das sog. Schnitterlied „Dźewjaty dźeń lipa kće“ (Am neunten Tag blüht die Linde) gesungen, das Handrij Zejler 1847 mit dem Wunsch, die Jugend möge es in ihr Repertoire aufnehmen, in der Zeitung „Tydźenska nowina“ veröffentlichte. Mit dem „Binden“ signalisierten die Landarbeiter dem Gutsherrn, dass sie während der Ernte die „Herren über die Felder“ waren. Die 1865 von Wilhelm Mannhardt erfassten Belege stammen mehrheitlich aus der Niederlausitz, wenngleich der Erntebrauch in der gesamten Lausitz bekannt war. Arnošt Muka führte das Binden im niedersorbischen Wörterbuch unter wězaś, wuwězaś někogo als „wendische Sitte der Arbeiter“ an. Schnitter und Abrafferinnen „banden“ den Gutsherren und jeden anderen Besucher auf dem Feld mit einem Strohband und einem Segensspruch, wie ihn Ewald Müller (1893) für Bagenz notierte. Der Gebundene musste sich mit Geld, Bier oder Branntwein freikaufen bzw. „lösen“.

Froschkarren in Drachhausen, 1995; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Nach Einfuhr der Ernte gab die Gutsherrschaft ein Erntefest, das in der Oberlausitz wroblaca kermuša (Sperlingskirmes) genannt wurde. Auf Bauernhöfen sagte man auch domchowanka (Heimbringen) oder mała kermuška (kleine Kirmes) zur Einfuhr der letzten Garbe; der Bauer lud zum „Vertrinken des Sträußchens“ bei Festmahl und Tanz ein. Für die Niederlausitz nannte Müller den Begriff „Lobetanz“. Laut der Befragungen durch Mannhardt und Wilibald von Schulenburg (1882) bezeichnet lobdanc nur das kirchliche Erntedankfest, das in der Reformationszeit mit dem Michaelistag (29. September) verknüpft wurde und heute meist entweder am letzten Sonntag im September oder am ersten Sonntag im Oktober gefeiert wird. Der Altarraum der Kirche wird mit Feld- und Gartenfrüchten geschmückt, die die Gemeinde heute an karitative Einrichtungen verschenkt; früher erhielt sie der Pfarrer.

Typische Elemente des weltlichen Erntefestes, das nach dem Hahn kokot (niedersorb. für Hahn) genannt wird, sind das Einbringen der letzten Garbe mit einem zuvor im Feld gefangenen Hahn, die Übergabe von Erntekranz oder -krone an den Gutsherrn, der Tanz und der Ernteschmaus mit Freibier und Branntwein. Für die Oberlausitz verzeichneten die Mannhardt-Belege üppige Festessen mit Wettspielen und Tanz auf den Gutshöfen in Milkel, Rackel und Weißenberg, die von Dudelsackspielern (→ Volksmusikanten) begleitet wurden. Verbreitet war der Brauch, die letzte Garbe in Gestalt einer Puppe als „den Alten“ zu übergeben. In der Oberlausitz wurde „der Alte“ nach Beendigung des Druschs auf die Tenne eines Bauernhofs geworfen, der noch bei der Arbeit war. In der Niederlausitz ließ der Gutsherr die Erntearbeiter durch Musikanten abholen, die den Zug geschmückter Erntewagen und Gerätschaften durchs Dorf zum Gutshof anführten. Mancherorts eröffnete das Schnitterpaar, das die letzte Garbe gebunden hatte, in Verkleidung als „Alter“ und „Alte“ (→ Weihnachtsbräuche) mit den Gutsbesitzern den Tanz. Zum Ernteschmaus gehörten Butterbrote, Fleisch- und Biersuppe, Schweinebraten mit Sauerkraut, Erbsenbrei, Milchhirse und Kuchen (→ Küche). Erste Zeichen der „Verbürgerlichung“ traten in den 1870er und 1880er Jahren auf, als einige Gutsherren die Tradition des Erntefestes durch Verteilung von Lebensmitteldeputaten und Geldprämien ersetzten. Mit der Modernisierung der Anbautechniken und dem Einsatz von Mäh- und Dreschmaschinen am Ende des 19. Jh. setzte ein massiver Bedeutungswandel der Erntebräuche ein.

Mädchen mit Stollen beim Stollenreiten in Caminchen, 1955; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Der Hahn tritt bei der Ernte in mehreren Sinnzusammenhängen auf. Als das männliche Prinzip verkörpernder Vegetationsgeist hatte er mit Einbringen der Ernte seine Funktion erfüllt und war schlachtreif. Manche sahen in ihm einen Korndämon. Der „Hahn“ wurde mit der Erntekrone vom Feld gebracht oder schmückte das letzte Fuder. Nach Muka bezeichnet kokot metaphorisch den Erntekranz, niedersorb. kokota łapiś das Erhaschen des Kranzes. In der Östlichen Lausitz wurde das Erntefest „Erntekranz“ oder „zu Hahne gehen“ genannt. Einen hölzernen Hahn musste der Gutsherr gegen einen lebenden austauschen, der dann im Spiel getötet und gemeinsam verspeist wurde. In Schmogrow oder in Ruben versteckte der Gutsherr im letzten Getreideschwaden einen Hahn, der von den Schnittern gefangen und erschlagen wurde. Eine andere Interpretation verweist auf den Anteil des Getreides, der den Arbeitern als Naturallohn zustand. Je nach Verhandlung mit dem Gutsherrn war das jede 10. bis 16. Garbe, die mit Reisig markiert wurde und dabei wie ein Hahn aussah. Die letzte Garbe hieß in Brandenburg die „Hahngarbe“; die Binderin, die sie gebunden hatte und die Erntekrone trug, war die „Hahnjungfer“. Die Bezeichnung „Hahn“ für das Erntefest war auch in Westfalen, Braunschweig, Hannover, Mecklenburg, Pommern und Schlesien geläufig. In Brandenburg hatte sich laut Mannhardt „das Hahnschlagen“ zum Volksspiel entwickelt. In der Oberlausitz wurde der letzte Flegelschlag auf der Tenne als „Erschlagen des Hahns“ bezeichnet. Bei dem erstmals von Abraham Frencel (um 1720) im Zusammenhang mit anderen Wettkämpfen (→ Maibaumwerfen) beschriebenen Spiel versuchten die Burschen mit verbundenen Augen den bis an den Hals eingegrabenen Hahn mit dem Dreschflegel zu töten. Das Hahnschlagen im ausgehenden 19. Jh., bei dem das Tier geschützt in einer Grube saß, über die ein Topf gestülpt war, zählte zu den Belustigungen auf dem Lande äquivalent zum Vogel- und Scheibenschießen. Es gehörte zu den Vergnügen, die Dorfgastwirte um Bautzen für städtisches Publikum arrangierten.

Hahnrupfen in Jänschwalde; Nowy Casnik

Ebenso wie das Hahnschlagen, niedersorb. zabijanje kokota, das heute in einigen Orten der Niederlausitz von der Jugend veranstaltet wird, haben sich andere Wettspiele aus dem eigentlichen Zusammenhang der Erntebräuche gelöst. Hahnrupfen (niedersorb. łapanje kokota), Kranzstechen (niedersorb. wěncyštapanje) oder Stoppel- bzw. Stollenreiten (niedersorb. rejtowanje wó kołac) finden an einem Sonntag in den Sommermonaten statt. Sie werden auf ungesattelten Pferden auf einem – ursprünglich dem letzten – abgeernteten Feld bzw. einer Wiese ausgetragen. Der Sieger ist Erntekönig, niedersorb. kral. Die Burschen tragen ein weißes Hemd zur schwarzen Hose, die Mädchen die Tracht. Auch sie widmen sich Geschicklichkeitsspielen wie dem Frosch- oder Junggesellenkarren, Hufeisenweitwurf oder Eierlaufen. Meist begleitet eine Kapelle die zum Festzug geordneten Paare zum Feld bzw. von dort zum Tanzsaal. In manchen Orten wird die Erntekrone vorangetragen.

Am weitesten verbreitet ist das Hahnrupfen. Dafür stellt die Dorfjugend ein mit Laubgirlanden umwundenes hölzernes Tor auf. An seinem Querbalken hängt, neben kleineren Trophäen wie Schnapsfläschchen und Zigaretten, hoch oben kopfüber ein toter Hahn. Die Reiter versuchen nacheinander, den Kopf oder einen Flügel des Tiers oder einen der aufgehängten Trostpreise zu erhaschen, indem sie im Galopp durch das Tor reiten und sich dabei aufrichten. Derjenige, der den Kopf abreißt, wird als Erntekönig gefeiert. Er und die beiden Reiter, die einen Flügel erhascht haben, erhalten aus Eichenlaub gewundene Ehrenkränze; je einen Kranz bekommen auch ihre Pferde. Anschließend dürfen sich die drei „Erntekönige“ mit verbundenen Augen unter den Mädchen ihre „Königinnen“ auswählen und mit ihnen eine Ehrenrunde tanzen. Danach ziehen alle Beteiligten mit Musik zum Gasthof, wo das Erntefest gefeiert und der Hahn zugunsten der Dorfjugend versteigert wird. Die Ehrenkränze zieren meist im folgenden Jahr die Höfe der Sieger.

Unter dem Motto „Super-Kokot“ wird das Hahnrupfen unter allen im laufenden Jahr ermittelten Erntekönigen ausgetragen (nach 2000). In einigen Orten – z. B. in Bärenbrück – befestigt man statt des Hahns ein bis drei kleine Kränze im Torbogen, die die Reiter mit Stöcken durchstoßen und aushebeln müssen (Kranzstechen). Mancherorts ersetzen Fahrräder, Mopeds oder Kähne die Pferde. Das Stolle(n)- oder Stoppelreiten entwickelte sich aus einem Reitwettstreit der Hirten zu Pfingsten, später wurde er in die Zeit zwischen Pfingsten und Johannis verlegt. Heute wird er im August als Erntebrauch begangen. Der Sieger erhält neben den Kränzen einen großen, mit Blumen und Spargelkraut geschmückten Stollen, der früher von den Mädchen der Spinnstube gestiftet wurde. Der Letzte bekommt eine geschmückte Pfeife. Am ursprünglichsten hat sich der Brauch in Neu Zauche bei Lübben erhalten.

Lit.: K. Frankenstein: Die ländlichen Arbeiterverhältnisse in Hohenzollern, Thüringen, Bayern, Hessen, Sachsen, Leipzig 1892; S. Musiat: Zur Lebensweise des landwirtschaftlichen Gesindes in der Oberlausitz, Bautzen 1964; I. Weber-Kellermann: Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts, Marburg 1965.

Metadaten

Titel
Erntebräuche
Titel
Erntebräuche
Autor:in
Hose, Susanne; Noack, Martina
Autor:in
Hose, Susanne; Noack, Martina
Schlagwörter
Brauch; Brauchtum; Kokot; Sommer; Reiterspiel; Erntekönig; Spiel; Ernte; Lausitz; Hahnrupfen; Hahnschlagen; Kirmes; Niederlausitz
Schlagwörter
Brauch; Brauchtum; Kokot; Sommer; Reiterspiel; Erntekönig; Spiel; Ernte; Lausitz; Hahnrupfen; Hahnschlagen; Kirmes; Niederlausitz
Abstract

Rituale und Zeremonien, die Beginn und Abschluss der Getreideernte begleiten. Sie regeln die Arbeitsabläufe während der Ernte und normieren das Erntefest. Erntebräuche haben sich in Abhängigkeit von der agrarischen Verfassung der jeweiligen Landschaft entwickelt.

Abstract

Rituale und Zeremonien, die Beginn und Abschluss der Getreideernte begleiten. Sie regeln die Arbeitsabläufe während der Ernte und normieren das Erntefest. Erntebräuche haben sich in Abhängigkeit von der agrarischen Verfassung der jeweiligen Landschaft entwickelt.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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