Rituale und Zeremonien, die Beginn und Abschluss der Getreideernte begleiten. Sie regeln die
Arbeitsabläufe während der Ernte und normieren das Erntefest (→ Bräuche). Erntebräuche haben sich in Abhängigkeit von der
agrarischen Verfassung der jeweiligen Landschaft entwickelt. Die Aufhebung von
Leibeigenschaft und Roboten im 19. Jh. führte in Preußen, wo
Verordnungen zum Bauernschutz fehlten, zum Aufkauf der kleinen Bauerngüter durch
die Gutsherrschaften. Es entstand die Schicht der besitzlosen Landarbeiter, die
sich zur Ernte- und Druschzeit auf den Gütern verdingten. Die von ihnen
geprägten Erntebräuche wie das „Binden und Lösen“ als Anfangsbrauch oder das
Erntedankfest widerspiegeln ihre Rechtsansprüche gegenüber dem Gutsherrn. Wegen
der Mobilität der Saisonarbeiter ähneln sich die Erntebräuche besonders in
Brandenburg, Mecklenburg, Pommern und Schlesien. Kuno Frankenstein (1892) bezeichnete die Sorben als tüchtige Erntekräfte, die wegen ihrer
„Bedürfnislosigkeit und Treue“ auch außerhalb der Lausitz gern in Dienst genommen wurden. In Sachsen blieb nach 1832 die
bäuerliche Agrarstruktur neben der gutsherrschaftlichen erhalten. Während für
die Beschäftigten auf dem Rittergut das Erntefest das bedeutendste Fest war,
dominierte in den bäuerlichen Wirtschaften der Oberlausitz die Kirmes als das
wichtigste Hochfest. Hier hatte sich das Gedenken an die Kirchweihe mit dem
Erntedank verbunden.
Beginn der Mahd war der Jakobustag (25. Juli). Schnitter und Binderin bzw. Abrafferin
bildeten ein Arbeitspaar, dessen Zusammenstellung innerhalb des Gesindes
hierarchisch geordnet war. Die Schnitter bekamen von ihren Binderinnen ein
Sträußchen Feld- oder Kunstblumen für Hut und Sense (→ Fastnacht). In einigen Orten östlich von Bautzen wurde zur Übergabe das sog.
Schnitterlied „Dźewjaty dźeń lipa kće“ (Am neunten Tag blüht die Linde)
gesungen, das Handrij Zejler 1847 mit
dem Wunsch, die Jugend möge es in ihr Repertoire aufnehmen, in der Zeitung
„Tydźenska nowina“ veröffentlichte. Mit dem „Binden“ signalisierten die
Landarbeiter dem Gutsherrn, dass sie während der Ernte die „Herren über die
Felder“ waren. Die 1865 von Wilhelm
Mannhardt erfassten Belege stammen mehrheitlich aus der Niederlausitz, wenngleich der
Erntebrauch in der gesamten Lausitz bekannt war. Arnošt Muka führte das Binden im niedersorbischen Wörterbuch
unter wězaś, wuwězaś někogo als „wendische Sitte der Arbeiter“ an.
Schnitter und Abrafferinnen „banden“ den Gutsherren und jeden anderen Besucher
auf dem Feld mit einem Strohband und einem Segensspruch, wie ihn Ewald Müller (1893) für Bagenz notierte. Der Gebundene musste sich
mit Geld, Bier oder Branntwein freikaufen bzw. „lösen“.
Froschkarren in Drachhausen, 1995; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Nach Einfuhr der Ernte gab die Gutsherrschaft ein Erntefest, das in der Oberlausitz
wroblaca kermuša (Sperlingskirmes) genannt wurde. Auf Bauernhöfen
sagte man auch domchowanka (Heimbringen) oder mała kermuška
(kleine Kirmes) zur Einfuhr der letzten Garbe; der Bauer lud zum „Vertrinken
des Sträußchens“ bei Festmahl und Tanz ein. Für die Niederlausitz nannte Müller
den Begriff „Lobetanz“. Laut der Befragungen durch Mannhardt und Wilibald von Schulenburg (1882) bezeichnet
lobdanc nur das kirchliche Erntedankfest, das in der
Reformationszeit mit dem Michaelistag (29. September) verknüpft wurde und heute
meist entweder am letzten Sonntag im September oder am ersten Sonntag im Oktober
gefeiert wird. Der Altarraum der Kirche wird mit Feld- und Gartenfrüchten
geschmückt, die die Gemeinde heute an karitative Einrichtungen verschenkt;
früher erhielt sie der Pfarrer.
Typische Elemente des weltlichen Erntefestes, das nach dem Hahn kokot (niedersorb.
für Hahn) genannt wird, sind das Einbringen der letzten Garbe mit einem zuvor im
Feld gefangenen Hahn, die Übergabe von Erntekranz oder -krone an den Gutsherrn,
der Tanz und der Ernteschmaus mit Freibier und Branntwein. Für die Oberlausitz
verzeichneten die Mannhardt-Belege üppige Festessen mit Wettspielen und Tanz auf
den Gutshöfen in Milkel, Rackel und Weißenberg, die von Dudelsackspielern (→ Volksmusikanten) begleitet wurden. Verbreitet war
der Brauch, die letzte Garbe in Gestalt einer Puppe als „den Alten“ zu
übergeben. In der Oberlausitz wurde „der Alte“ nach Beendigung des Druschs auf
die Tenne eines Bauernhofs geworfen, der noch bei der Arbeit war. In der
Niederlausitz ließ der Gutsherr die Erntearbeiter durch Musikanten abholen, die
den Zug geschmückter Erntewagen und Gerätschaften durchs Dorf zum Gutshof
anführten. Mancherorts eröffnete das Schnitterpaar, das die letzte Garbe
gebunden hatte, in Verkleidung als „Alter“ und „Alte“ (→ Weihnachtsbräuche) mit den Gutsbesitzern den
Tanz. Zum Ernteschmaus gehörten Butterbrote, Fleisch- und Biersuppe,
Schweinebraten mit Sauerkraut, Erbsenbrei, Milchhirse und Kuchen (→ Küche). Erste Zeichen der „Verbürgerlichung“
traten in den 1870er und 1880er Jahren auf, als einige Gutsherren die Tradition
des Erntefestes durch Verteilung von Lebensmitteldeputaten und Geldprämien
ersetzten. Mit der Modernisierung der Anbautechniken und dem Einsatz von Mäh-
und Dreschmaschinen am Ende des 19. Jh. setzte ein massiver Bedeutungswandel der
Erntebräuche ein.
Mädchen mit Stollen beim Stollenreiten in Caminchen, 1955; Sorbisches
Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Der Hahn tritt bei der Ernte in mehreren Sinnzusammenhängen auf. Als das männliche Prinzip
verkörpernder Vegetationsgeist hatte er mit Einbringen der Ernte seine Funktion
erfüllt und war schlachtreif. Manche sahen in ihm einen Korndämon. Der „Hahn“
wurde mit der Erntekrone vom Feld gebracht oder schmückte das letzte Fuder. Nach
Muka bezeichnet kokot metaphorisch den Erntekranz, niedersorb.
kokota łapiś das Erhaschen des Kranzes. In der Östlichen Lausitz wurde das Erntefest
„Erntekranz“ oder „zu Hahne gehen“ genannt. Einen hölzernen Hahn musste der
Gutsherr gegen einen lebenden austauschen, der dann im Spiel getötet und
gemeinsam verspeist wurde. In Schmogrow oder in Ruben versteckte der Gutsherr im letzten Getreideschwaden einen
Hahn, der von den Schnittern gefangen und erschlagen wurde. Eine andere
Interpretation verweist auf den Anteil des Getreides, der den Arbeitern als
Naturallohn zustand. Je nach Verhandlung mit dem Gutsherrn war das jede 10. bis
16. Garbe, die mit Reisig markiert wurde und dabei wie ein Hahn aussah. Die
letzte Garbe hieß in Brandenburg die „Hahngarbe“; die Binderin, die sie gebunden
hatte und die Erntekrone trug, war die „Hahnjungfer“. Die Bezeichnung „Hahn“ für
das Erntefest war auch in Westfalen, Braunschweig, Hannover, Mecklenburg,
Pommern und Schlesien geläufig. In Brandenburg hatte sich laut Mannhardt „das
Hahnschlagen“ zum Volksspiel entwickelt. In der Oberlausitz wurde der letzte
Flegelschlag auf der Tenne als „Erschlagen des Hahns“ bezeichnet. Bei dem
erstmals von Abraham Frencel (um 1720)
im Zusammenhang mit anderen Wettkämpfen (→ Maibaumwerfen) beschriebenen Spiel versuchten die Burschen mit
verbundenen Augen den bis an den Hals eingegrabenen Hahn mit dem Dreschflegel zu
töten. Das Hahnschlagen im ausgehenden 19. Jh., bei dem das Tier geschützt in
einer Grube saß, über die ein Topf gestülpt war, zählte zu den Belustigungen auf
dem Lande äquivalent zum Vogel- und Scheibenschießen. Es gehörte zu den
Vergnügen, die Dorfgastwirte um Bautzen für städtisches Publikum arrangierten.
Hahnrupfen in Jänschwalde; Nowy Casnik
Ebenso wie das Hahnschlagen, niedersorb. zabijanje kokota, das heute in
einigen Orten der Niederlausitz von der Jugend veranstaltet wird, haben sich
andere Wettspiele aus dem eigentlichen Zusammenhang der Erntebräuche gelöst.
Hahnrupfen (niedersorb. łapanje kokota), Kranzstechen (niedersorb.
wěncyštapanje) oder Stoppel- bzw. Stollenreiten (niedersorb.
rejtowanje wó kołac) finden an einem Sonntag in den Sommermonaten
statt. Sie werden auf ungesattelten Pferden auf einem – ursprünglich dem letzten
– abgeernteten Feld bzw. einer Wiese ausgetragen. Der Sieger ist Erntekönig,
niedersorb. kral. Die Burschen tragen ein weißes Hemd zur schwarzen
Hose, die Mädchen die Tracht. Auch sie widmen
sich Geschicklichkeitsspielen wie dem Frosch- oder Junggesellenkarren,
Hufeisenweitwurf oder Eierlaufen. Meist begleitet eine Kapelle die zum Festzug
geordneten Paare zum Feld bzw. von dort zum Tanzsaal. In manchen Orten wird die
Erntekrone vorangetragen.
Am weitesten verbreitet ist das Hahnrupfen. Dafür stellt die Dorfjugend ein mit Laubgirlanden
umwundenes hölzernes Tor auf. An seinem Querbalken hängt, neben kleineren
Trophäen wie Schnapsfläschchen und Zigaretten, hoch oben kopfüber ein toter
Hahn. Die Reiter versuchen nacheinander, den Kopf oder einen Flügel des Tiers
oder einen der aufgehängten Trostpreise zu erhaschen, indem sie im Galopp durch
das Tor reiten und sich dabei aufrichten. Derjenige, der den Kopf abreißt, wird
als Erntekönig gefeiert. Er und die beiden Reiter, die einen Flügel erhascht
haben, erhalten aus Eichenlaub gewundene Ehrenkränze; je einen Kranz bekommen
auch ihre Pferde. Anschließend dürfen sich die drei „Erntekönige“ mit
verbundenen Augen unter den Mädchen ihre „Königinnen“ auswählen und mit ihnen
eine Ehrenrunde tanzen. Danach ziehen alle Beteiligten mit Musik zum Gasthof, wo
das Erntefest gefeiert und der Hahn zugunsten der Dorfjugend versteigert wird.
Die Ehrenkränze zieren meist im folgenden Jahr die Höfe der Sieger.
Unter dem Motto „Super-Kokot“ wird das Hahnrupfen unter allen im laufenden Jahr ermittelten
Erntekönigen ausgetragen (nach 2000). In einigen Orten – z. B. in Bärenbrück – befestigt man statt des Hahns
ein bis drei kleine Kränze im Torbogen, die die Reiter mit Stöcken durchstoßen
und aushebeln müssen (Kranzstechen). Mancherorts ersetzen Fahrräder, Mopeds oder
Kähne die Pferde. Das Stolle(n)- oder Stoppelreiten entwickelte sich aus einem
Reitwettstreit der Hirten zu Pfingsten, später wurde er in die Zeit zwischen
Pfingsten und Johannis verlegt. Heute wird er im August als Erntebrauch
begangen. Der Sieger erhält neben den Kränzen einen großen, mit Blumen und
Spargelkraut geschmückten Stollen, der früher von den Mädchen der Spinnstube gestiftet wurde. Der Letzte
bekommt eine geschmückte Pfeife. Am ursprünglichsten hat sich der Brauch in
Neu Zauche bei Lübben erhalten.
Lit.: K. Frankenstein: Die ländlichen Arbeiterverhältnisse in Hohenzollern,
Thüringen, Bayern, Hessen, Sachsen, Leipzig 1892; S. Musiat: Zur Lebensweise des
landwirtschaftlichen Gesindes in der Oberlausitz, Bautzen 1964; I.
Weber-Kellermann: Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19.
Jahrhunderts, Marburg 1965.