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Leib­eigen­schaft
von Peter Kunze

Vom Mittelalter bis ins 18./19. Jh. weit verbreitete Form der persönlichen und rechtlichen Abhängigkeit der Bauern von ihren Grundherren. – Nach der politischen Eroberung und Unterwerfung der sorbischen Stämme im 10. Jh. gingen Grund und Boden in den Besitz des fränkischen Königs und später in das Eigentum kirchlicher oder weltlicher Feudalherren über. So entstanden im 11. und 12. Jh. größere Grundherrschaften, denen die bäuerliche Bevölkerung untergeordnet war. Die ehemalige bäuerliche Oberschicht, die über erblichen Bodenbesitz verfügte, war zu geringen Naturalabgaben und Gespanndiensten verpflichtet. Die Masse der Landbevölkerung bildeten einst freie Bauern, die nun Hörige und Leibeigene waren und kein erbliches Besitzrecht an Grund und Boden besaßen und Handdienste und Abgaben leisten mussten. Im Gegenzug gewährte der Leibherr seinen Untertanen militärischen und juristischen Schutz, der Leibeigene war jedoch der Gerichtsbarkeit seines Herrn unterstellt. Dieser bestimmte etwa, ob und wann er heiraten durfte. Ein Verlassen der Hofstelle war nur mit Genehmigung möglich. Flüchtige wurden mit Gewalt zurückgebracht, es sei denn, sie hatten das Territorium einer Stadt erreicht. Die unterste Schicht bildeten verarmte Bauern, die völlig rechtlos waren.

Im 14. und 15. Jh. setzte sich die Differenzierung der bäuerlichen Bevölkerung fort. Die Quellen sprechen von Bauern oder Hüfnern, Halbbauern oder Halbhüfnern, Gärtnern bzw. Kossäten und Büdnern, wobei die Büdner nicht als Bauern im engeren Sinne angesehen wurden. Im 16. Jh. hatten sich die wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse der Leibeigenen in der Ober- und Niederlausitz weiter zugespitzt. Der Adel erlebte um diese Zeit eine schwere Krise. Durch die sinkende Kaufkraft des Geldes waren seine Einkünfte aus Zinszahlungen von Bauern und aus Ländereien stark gefallen, doch es stiegen die Ansprüche an die Lebenshaltung, die wegen der erhöhten Preise städtischer Produkte kaum befriedigt werden konnten. Immer mehr Adlige vergrößerten ihre Wirtschaften und intensivierten die landwirtschaftliche Produktion, um das Dilemma zu überwinden. Sie begannen die Bauern von ihren Hufen zu vertreiben oder ihnen schlechtere und kleinere Ackernahrungen zuzuweisen, sie in ungünstigere Besitzverhältnisse zu drängen, indem sie den erblichen in unerblichen Lassbesitz umwandelten, der den Bauern jederzeit wieder entzogen werden konnte. Das betraf v. a. die seit dem 12. Jh. zugewanderten Kolonisten, denen seinerzeit günstige Bedingungen gewährt worden waren, indem sie Grund und Boden als erbliches Eigentum erhielten, geringere Abgaben als die Altsiedler leisteten und das Recht der Freizügigkeit besaßen (→ Kolonisation).

Auch ansässige Sorben, die sich am Landesausbau beteiligt hatten, waren in den Genuss solcher Vergünstigungen gelangt. Doch nun glichen sich die rechtlichen Verhältnisse an. Im Vergleich zu den sächsischen Erblanden und zu Schlesien war die deutsche und sorbische Landbevölkerung in den Rittergutsdörfern beider Lausitzen zu umfangreicheren Frondiensten, den sog. Roboten, gezwungen. Gegenüber den Klosterdörfern war sie sozial benachteiligt. Eine in Böhmen 1500 erlassene Landesordnung, die auch für die Lausitzer Gebiete galt und dem Adel uneingeschränkte Macht einräumte, bestärkte diesen in seinem Vorgehen.

Ausschnitt aus Johann Andreas Tamms kritischem Traktat gegen die Leibeigenschaft, 1792; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Hier zeichnete sich bereits eine Entwicklung ab, die im 17. und 18. Jh. kulminierte und durch den Übergang von der Grundherrschaft zur großen Gutsherrschaft gekennzeichnet war. Angesichts der Strenge gegenüber der Landbevölkerung wird diese Periode auch als zweite Leibeigenschaft bezeichnet. Die rechtlichen Grundlagen dafür waren in Untertanenordnungen von 1651 für die sächsische Oberlausitz und die Niederlausitz und von 1653 für den brandenburgischen Cottbuser Kreis sowie den Kurmärkisch-wendischen Distrikt verankert. An die Stelle der Leibeigenschaft trat die Erbuntertänigkeit, eine eigene Form der persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der Bauern von den Grundherren. Sie bedeutete, dass die Erbuntertanen an die Scholle gebunden und dem Gesindezwangs- und Frondienst unterworfen waren, dass sie ihr Hab und Gut nur lassweise besaßen und von der Herrschaft gezwungen werden konnten, auf ihre Stelle zu verzichten oder ihre Güter samt Ausstattung zurückzugeben. Als Ausgleich genossen die Untertanen einen relativ hohen Schutz bei Krankheit, Alter oder Tod. Nach dem Dreißigjährigen Krieg kam es zu einem verstärkten »Bauernlegen«, zur Einbeziehung von Bauern in Herrschaftsland. Da die Gutsbesitzer ihre geschwächten Wirtschaftsbetriebe rasch wieder aufbauen und erweitern wollten, eigneten sie sich Bauernstellen an. Dank ihrer Gerichts- und Polizeigewalt vermehrten sie willkürlich und beliebig die Dienste und wälzten Lasten und Abgaben auf ihre Untertanen ab. Unbegrenzte, in der Regel tägliche Frondienste waren üblich. Hinzu kamen zusätzliche Belastungen wie Jagd- und Wachdienste, Holz-, Bau- und Produktenfuhren, deretwegen die Untertanen oft tagelang unterwegs waren. Körperliche Züchtigungen waren ebenso verbreitet wie Geldstrafen, Pfändungen, die Wegnahme von Vieh, Ackergerät, Werkzeug und Gebrauchsgegenständen, etwa Betten oder Bekleidungsstücken. Der Bauer wurde so zum lebenden Inventar des Ritterguts.

Dass sich die Landbevölkerung gegen das Vorgehen der Gutsherren zur Wehr setzte, ist begreiflich. Sie führte einen täglichen Kleinkrieg, erfüllte ihre Pflichten nachlässig, nutzte legale Formen des Protests – von Petitionen und Klagen bis zu langwierigen Prozessen. Sie entzog sich der Lage nicht selten durch Flucht in benachbarte Gebiete oder griff zu bewaffneten Aktionen, die mehrmals in Bauernaufstände mündeten.

Mitte des 18. Jh. häuften sich Anzeichen einer Krise der Gutsherrschaft. Die Belastungen für die Untertanen hatten sich so erhöht, dass für Eigeninitiativen kein Spielraum bestand und Produktionserfolge ausgeschlossen waren. Die Bauern fanden weder die Kraft noch den Anreiz, sich intensiv um ihre Wirtschaften zu kümmern, Verbesserungen einzuführen oder neue Methoden anzuwenden. Um 1800 erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Es sollten jedoch noch Jahrzehnte vergehen, ehe Lassbesitz und Erbuntertänigkeit aufgehoben wurden. Erst 1819 bzw. 1821 schuf die preußische Regierung für die Niederlausitz und den Kreis Cottbus gesetzliche Grundlagen zur Abschaffung der Leibeigenschaft; die sächsische Regierung folgte 1832 mit dem Gesetz über Ablösungen und Gemeinheitsteilungen, das die Aufhebung der ständischen Agrarverfassung verfügte.

Der Prozess der Bauernbefreiung und Umgestaltung der Landwirtschaft erstreckte sich über einen längeren Zeitraum und war erst in den 1850er Jahren im Wesentlichen abgeschlossen.

Lit.: R. Lehmann: Die Verhältnisse der niederlausitzischen Herrschafts- und Gutsbauern in der Zeit vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den preußischen Reformen, Köln/​Graz 1956; J. W. Boelcke: Bauer und Gutsherr in der Oberlausitz, Bautzen 1957; J. Brankačk: Landbevölkerung der Lausitzen im Spätmittelalter, Bautzen 1990; P. M. Jahn: Vom Roboter zum Schulpropheten – Hanso Nepila (1766–1856). Mikrohistorische Studien zu Leben und Werk eines wendischen Fronarbeiters und Schriftstellers aus Rohne in der Standesherrschaft Muskau, Bautzen 2010.

Metadaten

Titel
Leib­eigen­schaft
Titel
Leib­eigen­schaft
Autor:in
Kunze, Peter
Autor:in
Kunze, Peter
Schlagwörter
Abgabe; Gerichtsbarkeit; Grundherr; Höriger; Landbevölkerung; Landesausbau; Geschichte
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Abgabe; Gerichtsbarkeit; Grundherr; Höriger; Landbevölkerung; Landesausbau; Geschichte
Abstract

Vom Mittelalter bis ins 18./19. Jh. weit verbreitete Form der persönlichen und rechtlichen Abhängigkeit der Bauern von ihren Grundherren.

Abstract

Vom Mittelalter bis ins 18./19. Jh. weit verbreitete Form der persönlichen und rechtlichen Abhängigkeit der Bauern von ihren Grundherren.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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