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Mythologie
von Susanne Hose

Gesamtheit der Schöpfungsgeschichten sowie der Götter- und Heroengeschichten und deren wissenschaftliche Deutung. Für die sorbische Überlieferung sind v. a. die Berichte von den Ursprüngen der Stämme, von Kulten und Riten und von der Begründung der gesellschaftlichen Ordnung interessant, die hier in ihrer Gesamtheit unter Mythologie zusammengefasst werden. Der zugrunde liegende geisteswissenschaftliche Schlüsselbegriff „Mythos“ kann im engen und im weiten Sinne verstanden werden.

Im Allgemeinen bezeichnet er das Resultat einer Mythisierung, d. h. einer sich allezeit vollziehenden Verklärung von Personen, Ideen oder Ereignissen zum Legendären mit bildhaftem Symbolcharakter. Im Besonderen sind Erzählungen über die Entstehung des Kosmos, der Götter und des Menschen sowie über endzeitliches und jenseitiges Geschehen gemeint. Die synonyme Verwendung des Begriffs Mythologie für „Sagenwelt“ stützt sich im Wesentlichen auf die „Deutsche Mythologie“ (1835) von Jacob Grimm, der den Quellenbereich für die Rekonstruktion germanischer Göttermythen um Sagen, Märchen und andere Gattungen der Volksdichtung erweiterte. Die Nähe von Mythos und Sage zeigt sich z. B. in der Gestalt des Wendenkönigs. Romantische Vorstellungen, die in der volkstümlichen Überlieferung generell Reste eines archaischen Götterglaubens oder einer Heldenepik aus vorchristlicher Zeit sahen, führten mitunter zu vagen Hypothesen (→ Czorneboh, → Volkslied).

Aufgrund der geringen archäologischen und linguistischen Zeugnisse zählt die vorchristliche Religion der slawischen Völker zu den Forschungsfeldern mit nur wenigen gesicherten Aussagen. Da die Nachrichten aus Chroniken, Urkunden und Traktaten von fremden Verfassern stammen, die den heidnischen Slawen skeptisch bis feindlich oder aber in missionarischer Absicht (→ Christianisierung) gegenüberstanden, gelten die Quellen als problematisch. Das derzeitige Wissen beschränkt sich auf die Beschreibung der vorchristlichen Religion der Slawen als heidnischer Polytheismus und Animismus. Die Slawen verehrten mehrere Götter mit verschiedenen Kräften für Fruchtbarkeit und Gedeihen sowie Götter, die das Recht und die kultische Ordnung zu wahren hatten oder für den Sieg im Kampf und den Schutz des eigenen Volkes zuständig waren. Darüber hinaus glaubten sich die Menschen umgeben von Elementargeistern, die die Gesetze und Kräfte der Natur steuerten und belebten und mit denen sie in magischer Weise verkehrten.

Swantewit-Stein in der Altenkirchener Kirche (Rügen); Fotograf: Werner Měškank

Die meisten Informationen besitzen wir über die Gottheiten der nordwestslawischen Stämme zwischen dem Unterlauf der Elbe und der Oder (→ Besiedlung), die dem Christentum in einem organisierten Kult mit Tempeln und einer Priesterkaste entgegentreten konnten. Die Chronisten betonen, dass jedes Land, oft jeder Ort einen Gott besaß, dessen Name nur dann in kollektiver Erinnerung blieb, wenn sich seine Bedeutung über die lokalen Grenzen hinaus ausbreiten konnte. Der früheste Bericht stammt von Einhard (789), der den Feldzug Karls des Großen gegen die Liutizen schildert und einen Tempel auf der Burg des Fürsten Dragovit anführt, ohne allerdings die Gottheit zu nennen, der man dort diente. Thietmar von Merseburg beschreibt in seiner Chronik den Tempel und den Kult des Swarog oder Swarožic auf einer Burg namens Radegost oder Riedigost, der als Kriegsgott und Genius der Redarier im Stammesverband der Liutizen und laut Helmold von Bosau (Chronica Slavorum, 1167–1172) später auch von den Obodriten verehrt wurde. Adam von Bremen nennt Ende des 11. Jh. die zentrale Kultstätte Rethra im heutigen Mecklenburg, deren Zerstörung im Winter 1068/69 urkundlich belegt ist. Das Heiligtum aus Holz stand inmitten eines Hains, seine Wände bildeten eine Doppelreihe zugespitzter, in die Erde gerammter Eichenbohlen. Die Außenwände zierten geschnitzte Bilder von Göttern und Göttinnen. Die Ausgrabungen der Tempelanlage auf dem Burgwall von Groß-Raden (1973–1980) durch Ewald Schuldt bestätigen die Schilderungen der Chronisten über Rethra. Der Hauptgott der pommerschen Hafenstädte Wollin und Stettin und ihrer Umgebung wird von den Biografen des Bischofs Otto von Bamberg als „Triglaw“ bezeichnet, wobei unklar bleibt, ob es sich dabei um den ursprünglichen Namen der Gottheit oder das Attribut eines anders benannten Gottes handelt. Sein Kult soll bis zur Taufe des Hevellerfürsten Pribislaw-Heinrich 1136 auch in Teilen des späteren Brandenburg verbreitet gewesen sein. Während Bischof Otto die drei silbernen Köpfe des Triglaw von Stettin Papst Calixt II. nach Rom zum Beweis seiner erfolgreichen Mission schickte, soll das vergoldete Idol von Wollin vor der Zerstörung gerettet worden sein.

Die Insel Rügen galt wegen ihrer schweren Erreichbarkeit als Festung des slawischen Heidentums. Hier konzentrierte sich der Kult des Swantewit, der in sich Eigenschaften eines Kriegs- und Wirtschaftsgottes vereinigte. Die von Saxo Grammaticus („Geschichte der Dänen“, 1185–1201) detailliert beschriebene, übermenschlich große Holzstatue im Tempel zu Arkona hatte vier Köpfe – zwei nach hinten, zwei nach vorn schauend – und hielt in der rechten Hand ein metallenes Trinkhorn, das der Priester zum Erntefest mit Wein füllte, wobei er – je nach Pegelstand – Prophezeiungen für die Ernte des Folgejahrs abgab. Neben der Statue lagen Sattel, Schwert und Teile des Zaumzeugs, die dem der Gottheit geweihten Schimmel gehörten, mit dessen Hilfe man den Erfolg des nächsten Kriegszugs vorauszusagen suchte. Zugang zum Tempelinnern besaß lediglich der Priester, der auch nur mit angehaltenem Atem Wein und Honigkuchen opfern durfte, um mit seinem Atem das Heiligtum nicht zu verunreinigen. Neben Swantewit wurden auf Rügen und an der benachbarten Küste auch Rugiewit – dem Namen nach „der Herr von Rügen“ –, Porewit und Porenutius angebetet, die die skandinavische Knytlinga-Saga sowie Saxo Grammaticus mit Fruchtbarkeitsriten in Verbindung bringen. Der Sturz der Rügener Götterstatuen und des Tempels in Arkona durch den dänischen König Waldemar 1168 markiert den Untergang der Religion der Ostseeslawen.

Wendische Gottheiten in Samuel Großers „Lausitzische Merckwürdigkeiten“, 1714; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Eine gesicherte Angabe über die Götterverehrung der „Surbi“ (Sorben) geht auf Bischof Thietmar zurück. Er beschreibt die Kultstätte Zutibure (heute Schkeitbar südwestlich von Leipzig) als heiligen Hain, der als Heimstätte einer Gottheit verehrt und nur von Priestern betreten wurde. Geheiligte Waldungen, in die der Mensch nicht ordnend eingreifen durfte, schützten Zufluchtsuchende; das Wasser dort befindlicher Bäche galt als heilkräftig. Die Nachricht über die Existenz eines der Göttin Liuba geweihten Eichenhains in Lübben gilt als unbewiesen und basiert auf Spekulationen. Seen und Quellen dienten als Opfer- und Orakelstätten der Götterverehrung und Schicksalsvorhersage. Laut Thietmar erkannten die Daleminzer an der Farbe des „Heiligen Sees“ Glomuci – einem seit 1845 verlandeten Quellteich im Lommatzscher Ortsteil Paltzschen – die Ernte- und Kriegsausbeute. Namenkundlich verweisen auch der Swietensee bei Trebatsch (niedersorb. swěty jězor ,heiliger See’) mit dem unweit befindlichen Swietengraben und dem Swietenberg auf Stätten, die „heiligen Handlungen“ vorbehalten waren. Um den animistischen Volksglauben umzuwidmen, gründeten die christlichen Missionare vorzugsweise an diesen Orten Kirchen und Klöster, so z. B. im 1008 vom Merseburger Bischof Wigbert zerstörten Zutibure.

Mit der Vernichtung von Standbildern und Tempelanlagen ließ sich zwar der jeweilige Götterkult ausrotten, die Verehrung von Bäumen, Pflanzen und Tieren lebte aber ebenso wie der Glaube an die Naturgeister in der mündlichen Überlieferung, in Gewohnheiten und Ritualen modifiziert fort. In Märchen und Sagen bieten Bäume, v. a. Eichen und Linden, Schutz für Menschen oder sakrale Gegenstände wie Marienstatuen. Auffällig ist die Häufung von Orakelsprüchen, Liedern und Sagenmotiven um die Aussaat, Pflege und Ernte des Flachses (→ Mittagsfrau, → Spinnstube). Die Schlange in den sorbischen Sagen ist nicht die Verführerin bzw. die giftige, kriechende Kreatur des biblischen Satans, sondern ihre Anwesenheit im Haus verheißt Glück, was auf die Vorstellung von der Schlange als Erscheinung der Seelen verstorbener Ahnen verweist. Die vorchristliche Funktion des Hahns als Fruchtbarkeits- und Vegetationssymbol spielt eine Rolle beim niedersorbischen Kokot, deutsch Hahnschlagen, (→ Erntebräuche). Die Vogelhochzeit an „Pauli Bekehr“ (25. Januar), das Winteraustreiben am Sonntag Lätare sowie verschiedene Oster- und Weihnachtsbräuche erinnern an heidnische Weihe- und Opferhandlungen resp. Prophezeiungen. Gekreuzte Gerätschaften an den Stalltoren, die über die Schwelle gelegte Axt oder das Hufeisen an der Tür führen auf Abwehrzauber zurück, der Mensch und Vieh vor Krankheiten wie der Tobsucht oder Epilepsie, vor plötzlichem Stumm- oder Taubwerden und vor Geistesgestörtheit schützen sollte (→ Volksmedizin). Der Glaube an die beseelte Natur schlug sich in den dämonologischen Sagen nieder, die von Geistern und Spukgestalten berichten, die die vier Grundelemente Feuer, Wasser, Luft und Erde beherrschen. Verbreitet war die Vorstellung, dass die Elemente in periodischen Abständen ein Opfer fordern: Menschen werden im Berg eingeschlossen oder vom Wassermann in die Tiefe gezogen, der Hausdrachen, obersorb. zmij, niedersorb. plon verbrennt aus Rache Hab und Gut. Ein religionsgeschichtlich altes Motiv ist die Wilde Jagd, die mit schrecklichem Getöse in der orakelreichen Zeit zwischen dem Andreastag (30. November) und dem Ende der zwölf Raunächte (6. Januar) durch die Luft reitet und nahende Kriege, Seuchen und anderes Unheil ankündigt. Prophetische Gaben besitzt auch die unscheinbare Gestalt der Wehklage, obersorb. bože sedleško, niedersorb. boža łosć, die als Windsbraut das Schicksal beweint oder vor Unzucht und Sünde warnt. Die Hausgeister – Kobold, Hausdrachen und Schlangen – leben in Zwischenräumen unter Schwellen und Treppen bzw. auf dem Dachboden – Orte des Übergangs von Drinnen und Draußen, die ihre eigentliche Schutzfunktion anzeigen. Ihre Lieblingsplätze am Herd bzw. in der „Hölle“ nahe dem Ofen markieren ihre Nähe zum Zentrum der menschlichen Wohnstatt, die nur dann gesegnet ist, wenn Mensch und Dämon einander achten und nicht in den Bereich des anderen eindringen. Das Schüsselchen Milch, der pünktlich zu reichende Hirsebrei oder die beim Schlachten abgezweigten Stückchen für den „Spiritus familiaris“ ähneln Opfergaben und -riten des Altertums.

Schlangenköpfe als Giebelverzierung in der Niederlausitz; Fotograf: Błaźij Nawka, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Die wissenschaftliche Betrachtung dieser vielfach gebrochenen und vom Christentum adaptierten Traditionen erfordert einen äußerst kritischen Umgang mit den größtenteils aus dem ausgehenden 17. bis 19. Jh. stammenden Niederschriften und ihren Deutungen. Die christliche Glaubenslehre hatte die slawischen Götter und Elementargeister diabolisiert, sodass der aus dem Griechischen herrührende, wertungsfreie Begriff Dämon eine negative Bedeutung erhielt. Martin Luther erklärte alle mythischen Wesen zu Verwandlungsgestalten des Teufels. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. befassten sich Gelehrte und Geistliche in Traktaten und Predigten damit, die „schändlichen Überbleibsel heidnischer Abgötterei“ unter dem ungebildeten Volk auszurotten. Dies erhöhte allerdings auch die Aufmerksamkeit gegenüber dem Volksglauben und führte zu Erhebungen und Systematiken, die an die naturphilosophischen Überlegungen der Humanisten des 16. Jh. und an deren spätantikes Deutungssystem anknüpften. Erste Beiträge zur Mythologie der Sorben reichen ins ausgehende 17. Jh. zurück. 1691 disputierte an der Universität in Wittenberg Michał Frencel jun. zum Thema „De idolis Serborum“. Sein Bruder Abraham Frencel legte 1719 einen umfangreichen Kommentar über die Götter der Slawen, bes. der Sorben, unter dem Titel „De diis Slavorum et Soraborum in specie“ vor. Hadam Bohuchwał Šěrach verabschiedete sich 1743 von der Meißener Fürstenschule mit einem Referat über altsorbische Mythologie. Karl Gottlob von Antons akribische Studie „Erste Linien eines Versuches über der alten Slawen Ursprung, Sitten, Gebräuche, Meinungen und Kenntnisse“ (1783, 1789) zählt zu den seinerzeit viel beachteten und weitere Forschungen zur slawischen Altertumskunde inspirierenden Werken. Pfarrer Samuel Bohuwěr Ponich lieferte eine erste Systematik der „Reliquien der Feld-, Wald-, Wasser- und Hausgötter unter den Wenden“ (1797), die als grundlegendes Gliederungsprinzip in den neuzeitlichen Sageneditionen fortlebt, die ihr Material wiederum im Wesentlichen aus den Sammlungen von Karl Haupt und Adolf Černý schöpfen. In der Bildenden Kunst setzte sich Měrćin Nowak-Njechorński programmatisch mit der Mythologie zur Formung eines sorbischen Nationalstils auseinander. Maja Nagelowas Rückgriff auf mythische Gestalten zeugt eher von ihrem Willen zur philosophischen Dekonstruktion.

Lit.: K. Haupt: Sagenbuch der Lausitz, Leipzig 1862/63; A. Černý: Mythiske bytosće łužiskich Serbow, Bautzen 1898; N. Profantová/​M. Profant: Encyklopedie slovanských bohů a mýtů, Praha 1990; Z. Váňa: Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker, Stuttgart 1992; M. Mirtschin: Mythos und Symbol im Wandel, in: Das Vermächtnis der Mittagsfrau, Bautzen/​Cottbus 2003; A. Gerth: Götter, Glücksritter und Gelehrte. Auf den Spuren großer Mythen der Oberlausitz, Spitzkunnersdorf 2009.

Metadaten

Titel
Mythologie
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Mythologie
Autor:in
Hose, Susanne
Autor:in
Hose, Susanne
Schlagwörter
Sage; Volksdichtung; Volkserzählung; Mythos; Paganismus; Gottheiten; Heidentum
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Sage; Volksdichtung; Volkserzählung; Mythos; Paganismus; Gottheiten; Heidentum
Abstract

Gesamtheit der Schöpfungsgeschichten sowie der Götter- und Heroengeschichten und deren wissenschaftliche Deutung. Für die sorbische Überlieferung sind v. a. die Berichte von den Ursprüngen der Stämme, von Kulten und Riten und von der Begründung der gesellschaftlichen Ordnung interessant.

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Gesamtheit der Schöpfungsgeschichten sowie der Götter- und Heroengeschichten und deren wissenschaftliche Deutung. Für die sorbische Überlieferung sind v. a. die Berichte von den Ursprüngen der Stämme, von Kulten und Riten und von der Begründung der gesellschaftlichen Ordnung interessant.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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