XS
SM
MD
LG
XL
XXL
🌐
Katholische Region
von Měrćin Wałda

Südwestlicher Teil des sorbischen Siedlungsgebiets der Oberlausitz, begrenzt in etwa vom Städtedreieck BautzenKamenzHoyerswerda. Dort liegen die zum Bistum Dresden-Meißen gehörenden Pfarreien einschließlich der Dompfarrei St. Petri in Bautzen, deren Filialkirche Zu Unserer Lieben Frau seit dem Mittelalter als Wendische Kirche gilt, sowie die zum Bistum Görlitz zählende Pfarrei Wittichenau. In den rund 70 katholischen Dörfern unterschiedlicher Größe stellen die Sorben meist die Mehrheit (z. T. bis zu 90 %). 2016 gabe es in den Dörfern des Sorbischen Pastoralen Raums sowie in Bautzen und Wittichenau ca. 17 700 Katholiken, davon etwa zwei Drittel Sorben. Äußere Zeichen wie Bildstöcke, Wegkreuze in Hausgärten, an Straßen und Fluren verweisen auf eine besondere Volksfrömmigkeit der Bewohner. Die sorbische katholische Region unterscheidet sich von ihrer (deutsch-protestantischen) Umwelt nicht nur konfessionell, sondern auch sprachlich und kulturell.

Katholische Region um 1790; Karte: Iris Brankatschk

Dorfansicht von Ostro, Lithografie von Julius Möckel aus: Sachsens Kirchengalerie. Die Oberlausitz als besondere Abtheilung von Sachsens Kirchen-Galerie, 1840; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Als mit der Reformation 90 % der Sorben evangelisch wurden, blieben lediglich die zum Grundbesitz des Klosters St. Marienstern (→ Klöster) und zum Domstift St. Petri in Bautzen gehörenden Gemeinden beim alten Glauben. Von den heutigen sorbischen katholischen Pfarreien existierten schon vor der Reformation Bautzen, Crostwitz, Nebelschütz, Radibor und Wittichenau; später entstanden weitere: 1754 Ralbitz, 1722 Ostro, 1902 Storcha. 1595 kaufte das Bautzener Domstift das Rittergut in Sdier mit dem Dorf Brehmen. Zunächst betreut von Kaplänen Bautzen bzw. Radibor, wurde Sdier 1923 Pfarrei. Radibor war das einzige sorbische katholische Pfarrdorf unter „weltlichem“ Patronat (Rittergutsbesitzer), dessen Gutsherren vergeblich evangelische Geistliche anzusiedeln versuchten. Über 100 Jahre, bis 1651, währten die Verhandlungen des Domkapitels um den Erhalt der katholischen Konfession; in die Streitigkeiten war die bäuerliche Bevölkerung einbezogen, die ihr Bekenntnis aktiv verteidigte.

Wohnhaus mit Kruzifix, 1981; Fotograf: Pawoł Rota, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Schülerinnen aus dem Kirchspiel Wittichenau, um 1930; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Beim Übergang der Lausitzen von der Böhmischen Krone an den sächsischen Kurfürsten 1635 wurde im Traditionsrezess der Konfessionsstand festgeschrieben. Daran hielten sich die Stände der Oberlausitz über 200 Jahre. Angesichts der Möglichkeit einer Rekatholisierung übten sie gegenüber dem sorbischen Ethnikum politische Zurückhaltung. Die Konkurrenz zwischen beiden Bekenntnissen belebte ab dem 16. Jh. spürbar die sorbische Sprach- und Kulturentwicklung.

Brautjungfern und Patin in Crostwitz; Fotograf: Lotar Balke, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Katholische Geistliche begründeten mit religiösen und wissenschaftlichen Editionen eine eigene Variante der obersorbischen Schriftsprache. Der Theologe Jurij H. Swětlik übersetzte die Bibel bis 1711 ins Obersorbische und erstellte 1721 das „Vocabularium Latino-Serbicum“. Katholische Geistliche studierten in verschiedenen Jesuitenkollegien in Böhmen, u. a. seit 1627 am Collegium Pragense, und waren 1727–1921 im Wendischen Seminar in Prag untergebracht. Der Kontakt zu Tschechen und anderen Slawen, die Unterweisung in Sorbisch u. a. slawischen Sprachen sowie die Mitgliedschaft in der Studentenvereinigung „Serbowka“ prägten die Alumnen. Nach dem Wiener Kongress von 1815 musste die nunmehr in der preußischen Oberlausitz gelegene große Pfarrei Wittichenau trotz Protesten von Sorben an das Erzbistum Breslau abgetreten werden (seit 1945 Apostolische Administratur Görlitz, 1994 zum Bistum erhoben). Ab 1896 versuchten die Priestervereinigungen mehr sorbische Seelsorge durchzusetzen. Gemeinsam mit Pädagogen traten sie in der Konferenz katholischer sorbischer Lehrer (1837–1867) bzw. der Freien Vereinigung katholischer Lehrer der sorbischen Lausitz (1890–1937) für sorbischen Sprachunterricht ein, gaben erste Lehrbücher heraus und boten Sprachkurse für Lehrer an.

Kirche und Friedhof in Crostwitz; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Pfingstwallfahrt nach Rosenthal, 2012; Fotograf: Rafael Ledschbor

In der relativ geschlossenen katholischen Region konnten sich Sprache, Religion und Volkskultur in organischer Verbindung zum bäuerlichen Wirtschaftsraum entfalten. Die ökonomischen Bedingungen mit den fruchtbaren Lößböden der Klosterpflege St. Marienstern (Panschwitz-Kuckau) wirkten sich auf das Selbstgefühl der sorbischen Bauern positiv aus und begünstigten ein national-religiöses Bewusstsein. Bräuche und Traditionen wie Heiligenverehrung, Marienandachten, Bußprozessionen, Wallfahrten (nach dem sorbischen Gnadenort Rosenthal, aber auch zu ferneren Zielen) oder auch das Osterreiten gewannen eine eigene Dynamik. Die Prozession zum Fronleichnamsfest wurde durch ihre Ausstattung zum prächtigsten Umgang des Jahres. Repräsentiert die Prozession sonst in katholischen Gebieten das gesamte Gemeinwesen (Feuerwehr, Musikkapelle, Kirchenchor, Schützenverein usw.), so erscheinen in der sorbischen katholischen Region hauptsächlich Frauen und Blumen streuende Mädchen in ihren Festtagstrachten. Eine starke konfessionelle Bindung besitzt die katholische Tracht, was sich auf Form- und Farbgebung auswirkte (dunkle Kirchgangstracht, form- und farbenreiche Festtagstracht zu Taufen, Hochzeiten oder Hochfesten, z. B. die Brautjungferntracht „družka“).

Betkreuz am Feldrand, 2013; Fotograf: Rafael Ledschbor

Die Einheit der Region liegt überdies im eigenständigen katholischen Milieu begründet, das sich Ende des 19. Jh. ausbildete. Nach der deutschen Reichseinigung 1871 gipfelten die Auseinandersetzungen zwischen protestantischem Staat und katholischer Kirche im sog. Kulturkampf. Die politischen Ressentiments der Katholiken wuchsen, weshalb Kirchenhierarchie und Gläubige enger zusammenrückten. Von dieser Entwicklung profitierten die katholischen Sorben: Sie erblickten ihr religiöses Zentrum im Vatikan und ihre geistige Autorität im Papst – in Institutionen außerhalb Deutschlands. Als „Lehrer des Volkes“ prägten die Priester das Weltbild der Gläubigen (sie hatten in Prag und nicht im Deutschen Reich studiert), förderten ein reges Vereinsleben, erneuerten religiöse Bräuche und unterstützten familiäre, volkstümliche Frömmigkeitsformen. Der wechselseitige Zusammenhang von Religion, Sprache und Nationalität blieb erhalten. Nationalität wurde zum religiösen Wert an sich, umgekehrt der Katholizismus zum Grundelement ethnischer Identität. Die Ansicht von Jakub Bart-Ćišinski, das sorbische katholische Bauerntum auf eigener Scholle sei ein Garant für den Bestand des sorbischen Volkes, wurde von vielen übernommen. Weil die Schule den Einfluss der Kirche zunehmend beschnitt, wurde die sorbische katholische Familie zur wichtigsten Hüterin der nationalen Substanz deklariert.

Zeitschrift der katholischen Sorben, seit 1863 herausgegeben vom Cyrill-Methodius-Verein

Da für Katholiken eine konfessionelle Mischehe bis 1945 kaum möglich war, waren die Grenzen der katholischen Region zugleich Heiratsgrenzen, denn der katholische Partner war in der Regel ein Sorbe. Ein spezielles (sorbisches) katholisches Denken, Fühlen und Handeln, ein starkes Wir-Gefühl konnten sich ausprägen. Der NS-Staat reagierte darauf im Rahmen seiner „Wendenpolitik“ mit Druck und erreichte die Versetzung nahezu aller katholischer Pfarrer aus der Region (1940). Das sorbische katholische Milieu blieb sowohl in der NS-Zeit als auch in der DDR-Zeit gegenüber dem Atheismus weitgehend resistent. Auch nach 1945 war die Kirche ein Hort des passiven Widerstands, ihre Mitglieder suchten darin Schutz vor der Beeinflussung durch den Staat und dessen Institutionen.

Im Hinblick auf die Erhaltung der überlieferten Sprache und Kultur gilt die katholische Region seit Mitte des 20. Jh. als sorbisches Kerngebiet. Der Cyrill-Methodius-Verein, 1862 als Buchgemeinschaft gegründet, unterstützt seit der politischen Wende erneut das pastorale, nationale und kulturelle Leben der katholischen Sorben.

Lit.: M. Salowski/​R. Kilank: Katholische sorbische Lausitz, Leipzig 1976; M. Salowski: Wosady našeje domizny. Krajan 3, Leipzig 1983; An der Via Bennonis: Bilder aus der sorbischen katholischen Lausitz, Bautzen 1993; T. Kowalczyk: Die katholische Kirche und die Sorben 1919–1990, Bautzen 1999; M. Walde: Gestaltung sorbischer katholischer Lebenswelt. Eine Diskursanalyse der religiösen Zeitschrift „Katolski Posoł“ zwischen 1863 und 1939, Bautzen 2000; Eine Kirche – zwei Völker, 3 Bde., Bautzen/​Leipzig 2003–2013.

Metadaten

Titel
Katholische Region
Titel
Katholische Region
Autor:in
Wałda, Měrćin
Autor:in
Wałda, Měrćin
Schlagwörter
Bistum Dresden-Meißen; Bistum Görlitz; Katholik; Katholikin; Katholizismus; Volksfrömmigkeit; Domstift; Kloster; Böhmen; Sachsen; Religion; Wallfahrt; Osterreiten; Prozession
Schlagwörter
Bistum Dresden-Meißen; Bistum Görlitz; Katholik; Katholikin; Katholizismus; Volksfrömmigkeit; Domstift; Kloster; Böhmen; Sachsen; Religion; Wallfahrt; Osterreiten; Prozession
Abstract

Südwestlicher Teil des sorbischen Siedlungsgebiets der Oberlausitz, begrenzt in etwa vom Städtedreieck Bautzen – Kamenz – Hoyerswerda. Dort liegen die zum Bistum Dresden-Meißen gehörenden Pfarreien einschließlich der Dompfarrei St. Petri in Bautzen sowie die zum Bistum Görlitz zählende Pfarrei Wittichenau.

Abstract

Südwestlicher Teil des sorbischen Siedlungsgebiets der Oberlausitz, begrenzt in etwa vom Städtedreieck Bautzen – Kamenz – Hoyerswerda. Dort liegen die zum Bistum Dresden-Meißen gehörenden Pfarreien einschließlich der Dompfarrei St. Petri in Bautzen sowie die zum Bistum Görlitz zählende Pfarrei Wittichenau.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter

Entdecke mehr

Sorbische Volkstreffen
Bauernaufstände
Volksliteratur
Bibliografie
Ortsnamen
Wendische Ammen