XS
SM
MD
LG
XL
XXL
🌐
Wendenkönig
von Susanne Hose

Bezeichnung für einen realen oder imaginären Monarchen, der in unterschiedlichen historischen und kulturellen Zusammenhängen für die Sorben bedeutsam war. Die Vorstellung von der Existenz eines Wendenkönigs widerspiegelt die Sehnsucht der Sorben nach Wiederherstellung der Verhältnisse vor dem Verlust der nationalen Eigenständigkeit durch Unterwerfung, das Bedürfnis nach einer starken und gerechten Herrscherpersönlichkeit.

Gedenktafel an den Wedenfürsten Pribilsav in der Klosterkirche Bad Doberan; Fotografin: Anja Pohontsch, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Der Begriff Wendenkönig wurde (retrospektiv) in hochmittelalterlichen Chroniken auf sorbische Dynasten aus der Frühzeit der elb- und ostseeslawischen Stämme angewandt. Die Chronik des Fredegar berichtet von Samo, einem fränkischen Kaufmann, der Handel mit den Wenden trieb und von ihnen um 623/24 zum König gewählt wurde. Laut einer im 19. Jh. am Neckar aufgezeichneten Sage soll der Frankenkönig Dagobert I. seiner Tochter Notburga den linken Arm ausgerissen haben, als sie sich weigerte, Samo zu ehelichen. Fürst Miliduch führte mehrere sorbische Stämme im Kampf gegen Karl den Großen an. Nach seinem Tod 806 zwangen die Franken alle ihm hörigen Stammesfürsten zur Tributpflicht. Der Wendenkönig Cisćibor zog an der Seite Ludwigs des Deutschen gegen den mährischen Herzog Rastislav und soll 858 nahe dem Limes Sorabicus infolge seiner Frankentreue umgebracht worden sein. Daneben berichten Sagen von einem Wendenkönig Crescentiu (lateinisch für Přibislaw), der in den Königshainer Bergen (sorb. Limas) den Tod fand. Im Zusammenhang mit den Kriegszügen gegen die Obodriten werden Gottschalk der Wende (ca. 1000–1066) und Heinrich von Alt-Lübeck (vor 1066–1127), beide aus der Dynastie der Nakoniden, sowie der Herrscher des Obodritenreichs Knut Laward (1096–1131) als Wendenkönige bezeichnet; ebenso der letzte Fürst der Heveller im Havelland Pribislaw-Heinrich von Brandenburg (ca. 1075–1150), der die königlichen Insignien besaß. Wegen seiner Kinderlosigkeit bestimmte er den Askanier Albrecht den Bären und nicht Jaczo (Jaxa), den Fürsten der Sprewanen, zu seinem Erben, was nicht nur zu Streitigkeiten, sondern auch zur Sagenbildung (Schildhornsage) führte. Mit dem Tod Niklots, des letzten bedeutenden Repräsentanten der Obodriten, 1160 im Kampf gegen den Dänen Waldemar I. und Heinrich den Löwen, endete die slawische Herrschaft in Mecklenburg. Die Eroberer der Ostseeslawen führten den Namen »König der Wenden« in ihren Titularien weiter, das dänische und das schwedische Königshaus bis in die 1970er Jahre.

Im 16. und 17. Jh. erscheint der Begriff Wendenkönig in Verbindung mit den Bauernaufständen 1528 in Blossin bei Storkow und 1548 in Uckro bei Luckau, bei denen man in den jeweiligen Anführern »heimliche wendische Könige« vermutete. Dem Reisebericht des Sprachforschers und Alchemisten Jacob Tollius (1626–1696) zufolge hat der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm nach einem als Bauer lebenden Wendenkönig gesucht, der angeblich Krone und Zepter besaß und die inneren Angelegenheiten der Sorben regelte, was ihm das Volk mit lebenslangem Unterhalt lohnte. Sowohl der Landadel als auch die preußische Staatsmacht, die auf Ruhe unter den Untertanen bedacht war, sahen in der möglichen Existenz eines Wendenkönigs eine Gefahr.

Pressebericht zur Aufführung der Operette „Der Wendenkönig“ in Cottbus, 1911; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

In der Volksdichtung haben sich sowohl der Wunsch des sorbischen Volkes nach einem eigenen König als auch die Furcht vor dem mythischen Wesen niedergeschlagen. Es zeichnen sich drei größere Themenkreise ab: In der Oberlausitz sind Sagen belegt, nach denen sieben sorbische Könige auf dem Drohmberg (→ Lubin) südlich von Bautzen ruhen. Ähnliches wird über Berittene im Löbauer Berg, im Strohmberg bei Weißenberg und im Hahneberg bei Luppa berichtet. Das Motiv von den schlafenden Helden im Berge, die wie Barbarossa im Kyffhäuser darauf warten, ihr Volk aus der Unfreiheit zu erlösen, hat – ebenso wie das vom fürsorglichen Landesvater, der sich inkognito unters Volk mischt – den Stoff für zahlreiche romantische Gestaltungen geliefert. Zum zweiten Themenkreis gehören die Erzählungen vom Wendenkönig, der einst ein mächtiges Reich regiert und sich nach dessen Verlust mit seinem Gefolge in den Spreewald zurückgezogen haben soll. Aus Mangel an eigenen Nachkommen stiehlt er anderer Leute Kinder. Sagen vom Begräbnis des letzten Wendenkönigs in einem goldenen Sarg wurden auch in Mecklenburg erzählt. Die meisten der von Edmund Veckenstedt und Wilibald von Schulenburg um 1880 in der Niederlausitz aufgezeichneten Texte beschreiben den Wendenkönig als ein übernatürliches Wesen mit dämonischen Zügen, das mit dem wilden Heer durch die Lüfte reitet, raubt und mordet, Vögel (Adler, Falken oder Raben) als Kundschafter abrichtet und die Kunst der Verwandlung beherrscht. Von den vielen vermeintlichen Wohnsitzen, an denen der Schatz des Wendenkönigs zu suchen sei, wird Burg im Spreewald favorisiert. Laut Jan Arnošt Smolers Aussagen in den »Volksliedern der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz« (1841/43) rechtfertigen die am dortigen Burgwall gemachten Grabungsfunde die Annahme, dass der Schlossberg einst Domizil des Wendenkönigs war. Der dritte Themenkreis enthält Erzählungen über die Nachkommen eines legendären sorbischen Königsgeschlechts, die insgeheim weiterhin als Herrscher verehrt werden. Diese Gestalt des Wendenkönigs trägt menschliche Züge, wenngleich sein Erscheinen geheimnisvoll bleibt. Er besitzt die königlichen Insignien, ohne sie öffentlich zu zeigen. In seiner Gegenwart verstummen die Tiere; meist taucht er ebenso überraschend auf, wie er spurlos verschwindet. Überdies wirkt er als Wunderheiler und Schiedsrichter.

Wie die Geschichtsschreibung hat auch die Literatur die Überlieferung des Mythos vom Wendenkönig gefördert. Von der Auseinandersetzung Jaczo (Jaxa) und Albrecht dem Bären handelt das epische Gedicht »Der letzte Wendenkönig« (1888) von Margarethe von Buchholtz (Pseudonym M. von Buch). Das Epos »Der letzte Wendenkönig« (1882) von Johann von Wildenrath, das dem sorbischen Pfarrer und Schriftsteller Józef Nowak als Vorlage für sein Historiendrama »Posledni kral« (Der letzte König, 1916) diente, stützt sich auf den Glauben an die Existenz eines sorbischen Volkskönigs. Das ins 17. Jh. verlagerte dramatische Geschehen wird beherrscht vom Ringen zwischen den Anhängern eines gegenüber der deutschen Kultur aufgeschlossenen Wendenkönigs und eines sorbischen Traditionalisten. Den Konflikt zwischen kultureller Öffnung, die auch zur Assimilation führen kann, und ethnischer Introvertiertheit verarbeitete Paul Keller im Heimatroman »Die alte Krone« (1909). Das in hoher Auflage gedruckte Buch hat die im Spreewald lebendige Überlieferung vom Wendenkönig weithin bekannt gemacht. Vom heimlichen Volkskönig handelt auch der Stoff der romantischen Operette »Der Wendenkönig« von Philipp Bock, die im Dezember 1911 im Stadttheater Cottbus uraufgeführt wurde. Spürbaren Einfluss nahm es auch auf den 1966 in den »Salzburger Nachrichten« erschienenen Fortsetzungsroman von Claudia Horn (»Die gute Luft von Arcachon«).

Lit.: Ch. A. Peschek: Etwas über die wendischen Könige in der Niederlausitz, aus den ältern und neuern Zeiten, in: Lausitzische Monatsschrift (1792); A. Kuhn: Sagen und Märchen nebst einem Anhange von Gebräuchen und Aberglauben, Berlin 1843; K. Haupt: Sagenbuch der Lausitz, Leipzig 1862/63; K. Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, Wien 1879/80; J.-Ch. Herrmann: Der Wendenkreuzzug von 1147, Frankfurt am Main u. a. 2011.

Metadaten

Titel
Wendenkönig
Titel
Wendenkönig
Autor:in
Hose, Susanne
Autor:in
Hose, Susanne
Schlagwörter
Literatur; Romantik; Monarchie; Elb- und Ostseeslawen; Mythos
Schlagwörter
Literatur; Romantik; Monarchie; Elb- und Ostseeslawen; Mythos
Abstract

Bezeichnung für einen realen oder imaginären Monarchen, der in unterschiedlichen historischen und kulturellen Zusammenhängen für die Sorben bedeutsam war.

Abstract

Bezeichnung für einen realen oder imaginären Monarchen, der in unterschiedlichen historischen und kulturellen Zusammenhängen für die Sorben bedeutsam war.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter

Entdecke mehr

Sorbische Zentral­bibliothek/​Serbska centralne biblioteka
Gewässer­namen
Industriali­sierung
Zeitungen
Gesangbuch
Vereinswesen