Bezeichnung für einen realen oder imaginären Monarchen, der in unterschiedlichen
historischen und kulturellen Zusammenhängen für die Sorben bedeutsam war. Die
Vorstellung von der Existenz eines Wendenkönigs widerspiegelt die Sehnsucht der
Sorben nach Wiederherstellung der Verhältnisse vor dem Verlust der nationalen
Eigenständigkeit durch Unterwerfung, das Bedürfnis nach einer starken und gerechten
Herrscherpersönlichkeit.
Gedenktafel an den Wedenfürsten Pribilsav in der Klosterkirche Bad Doberan; Fotografin: Anja Pohontsch, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Der Begriff Wendenkönig wurde (retrospektiv) in hochmittelalterlichen Chroniken
auf sorbische Dynasten aus der Frühzeit der elb- und ostseeslawischen Stämme
angewandt. Die Chronik des Fredegar
berichtet von Samo, einem fränkischen
Kaufmann, der Handel mit den Wenden
trieb und von ihnen um 623/24 zum König gewählt wurde. Laut einer im 19. Jh. am
Neckar aufgezeichneten Sage soll der
Frankenkönig Dagobert I. seiner
Tochter Notburga den linken Arm ausgerissen haben, als sie sich weigerte, Samo
zu ehelichen. Fürst Miliduch führte
mehrere sorbische Stämme im Kampf gegen Karl den
Großen an. Nach seinem Tod 806 zwangen die Franken alle ihm
hörigen Stammesfürsten zur Tributpflicht. Der Wendenkönig Cisćibor zog an der Seite Ludwigs des Deutschen gegen den mährischen
Herzog Rastislav und soll 858 nahe
dem Limes Sorabicus infolge
seiner Frankentreue umgebracht worden sein. Daneben berichten Sagen von einem
Wendenkönig Crescentiu (lateinisch für Přibislaw), der in den Königshainer
Bergen (sorb. Limas) den Tod fand. Im Zusammenhang mit den Kriegszügen gegen die
Obodriten werden Gottschalk der Wende
(ca. 1000–1066) und Heinrich von
Alt-Lübeck (vor 1066–1127), beide aus der Dynastie der Nakoniden,
sowie der Herrscher des Obodritenreichs Knut
Laward (1096–1131) als Wendenkönige bezeichnet; ebenso der letzte
Fürst der Heveller im Havelland Pribislaw-Heinrich von Brandenburg (ca. 1075–1150), der die
königlichen Insignien besaß. Wegen seiner Kinderlosigkeit bestimmte er den
Askanier Albrecht den Bären und nicht
Jaczo (Jaxa), den Fürsten der Sprewanen, zu seinem
Erben, was nicht nur zu Streitigkeiten, sondern auch zur Sagenbildung
(Schildhornsage) führte. Mit dem Tod Niklots, des letzten bedeutenden Repräsentanten der Obodriten,
1160 im Kampf gegen den Dänen Waldemar
I. und Heinrich den
Löwen, endete die slawische Herrschaft in Mecklenburg. Die
Eroberer der Ostseeslawen führten den Namen »König der Wenden« in ihren
Titularien weiter, das dänische und das schwedische Königshaus bis in die 1970er
Jahre.
Im 16. und 17. Jh. erscheint der Begriff Wendenkönig in Verbindung mit den Bauernaufständen 1528 in
Blossin bei Storkow und 1548 in Uckro bei Luckau, bei denen man in den jeweiligen Anführern »heimliche
wendische Könige« vermutete. Dem Reisebericht des Sprachforschers und
Alchemisten Jacob Tollius (1626–1696)
zufolge hat der brandenburgische Kurfürst
Friedrich Wilhelm nach einem als Bauer lebenden Wendenkönig
gesucht, der angeblich Krone und Zepter besaß und die inneren Angelegenheiten
der Sorben regelte, was ihm das Volk mit lebenslangem Unterhalt lohnte. Sowohl
der Landadel als auch die preußische Staatsmacht, die auf Ruhe unter den
Untertanen bedacht war, sahen in der möglichen Existenz eines Wendenkönigs eine
Gefahr.
Pressebericht zur Aufführung der Operette „Der Wendenkönig“ in Cottbus, 1911; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut
In der Volksdichtung haben sich
sowohl der Wunsch des sorbischen Volkes nach einem eigenen König als auch die
Furcht vor dem mythischen Wesen niedergeschlagen. Es zeichnen sich drei größere
Themenkreise ab: In der Oberlausitz sind Sagen belegt, nach denen sieben
sorbische Könige auf dem Drohmberg (→ Lubin) südlich von Bautzen ruhen.
Ähnliches wird über Berittene im Löbauer Berg, im Strohmberg bei Weißenberg und im Hahneberg bei Luppa berichtet. Das Motiv von den
schlafenden Helden im Berge, die wie Barbarossa im Kyffhäuser darauf warten, ihr Volk aus der
Unfreiheit zu erlösen, hat – ebenso wie das vom fürsorglichen Landesvater, der
sich inkognito unters Volk mischt – den Stoff für zahlreiche romantische
Gestaltungen geliefert. Zum zweiten Themenkreis gehören die Erzählungen vom
Wendenkönig, der einst ein mächtiges Reich regiert und sich nach dessen Verlust
mit seinem Gefolge in den Spreewald
zurückgezogen haben soll. Aus Mangel an eigenen Nachkommen stiehlt er anderer
Leute Kinder. Sagen vom Begräbnis des letzten Wendenkönigs in einem goldenen
Sarg wurden auch in Mecklenburg erzählt. Die meisten der von Edmund Veckenstedt und Wilibald von Schulenburg um 1880 in der
Niederlausitz aufgezeichneten Texte beschreiben den Wendenkönig als ein
übernatürliches Wesen mit dämonischen Zügen, das mit dem wilden Heer durch die
Lüfte reitet, raubt und mordet, Vögel (Adler, Falken oder Raben) als
Kundschafter abrichtet und die Kunst der Verwandlung beherrscht. Von den vielen
vermeintlichen Wohnsitzen, an denen der Schatz des Wendenkönigs zu suchen sei,
wird Burg im Spreewald favorisiert.
Laut Jan Arnošt Smolers Aussagen in
den »Volksliedern der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz« (1841/43)
rechtfertigen die am dortigen Burgwall gemachten Grabungsfunde
die Annahme, dass der Schlossberg einst Domizil des Wendenkönigs war. Der dritte
Themenkreis enthält Erzählungen über die Nachkommen eines legendären sorbischen
Königsgeschlechts, die insgeheim weiterhin als Herrscher verehrt werden. Diese
Gestalt des Wendenkönigs trägt menschliche Züge, wenngleich sein Erscheinen
geheimnisvoll bleibt. Er besitzt die königlichen Insignien, ohne sie öffentlich
zu zeigen. In seiner Gegenwart verstummen die Tiere; meist taucht er ebenso
überraschend auf, wie er spurlos verschwindet. Überdies wirkt er als
Wunderheiler und Schiedsrichter.
Wie die Geschichtsschreibung hat auch die Literatur die Überlieferung des
Mythos vom Wendenkönig gefördert. Von der Auseinandersetzung Jaczo (Jaxa) und
Albrecht dem Bären handelt das epische Gedicht »Der letzte Wendenkönig« (1888)
von Margarethe von Buchholtz
(Pseudonym M. von Buch). Das Epos »Der letzte Wendenkönig« (1882) von Johann von Wildenrath, das dem sorbischen
Pfarrer und Schriftsteller Józef Nowak
als Vorlage für sein Historiendrama »Posledni kral« (Der letzte König, 1916)
diente, stützt sich auf den Glauben an die Existenz eines sorbischen
Volkskönigs. Das ins 17. Jh. verlagerte dramatische Geschehen wird beherrscht
vom Ringen zwischen den Anhängern eines gegenüber der deutschen Kultur
aufgeschlossenen Wendenkönigs und eines sorbischen Traditionalisten. Den
Konflikt zwischen kultureller Öffnung, die auch zur Assimilation
führen kann, und ethnischer Introvertiertheit verarbeitete Paul Keller im Heimatroman »Die alte Krone«
(1909). Das in hoher Auflage gedruckte Buch hat die im Spreewald lebendige
Überlieferung vom Wendenkönig weithin bekannt gemacht. Vom heimlichen Volkskönig
handelt auch der Stoff der romantischen Operette »Der Wendenkönig« von Philipp Bock, die im Dezember 1911 im
Stadttheater Cottbus uraufgeführt wurde. Spürbaren Einfluss nahm es auch auf den
1966 in den »Salzburger Nachrichten« erschienenen Fortsetzungsroman von
Claudia Horn (»Die gute Luft von
Arcachon«).
Lit.: Ch. A. Peschek: Etwas über die wendischen Könige in der Niederlausitz, aus
den ältern und neuern Zeiten, in: Lausitzische Monatsschrift (1792); A. Kuhn:
Sagen und Märchen nebst einem Anhange von Gebräuchen und Aberglauben, Berlin
1843; K. Haupt: Sagenbuch der Lausitz, Leipzig 1862/63; K. Bartsch: Sagen,
Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, Wien 1879/80; J.-Ch. Herrmann: Der
Wendenkreuzzug von 1147, Frankfurt am Main u. a. 2011.