Speisekarte zum Stiftungsfest des Geselligkeitsvereins „Bjesada“ in Bautzen, 1865; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut Bautzen
Gesamtheit von Vereinen. Sorbische Vereine verfolg(t)en seit der nationalen
Wiedergeburt in beiden Lausitzen bestimmte, durch Satzungen gebotene
Zwecke zugunsten der sorbischen Sprache und Kultur. Vorläufer des bürgerlichen
Vereinswesens, das bei den Sorben in den 1830er Jahren
einsetzte, waren die Wendischen Predigergesellschaften zu Leipzig (gegründet 1716) und Wittenberg (1749) sowie – im Zeitalter der
Aufklärung – einzelne wissenschaftliche Vereinigungen mit nennenswerter
sorbischer Beteiligung (1766 Physikalisch-ökonomische Bienengesellschaft in der
Oberlausitz, 1779 Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften). Bis zum Verbot
jeglicher sorbischer kultureller Betätigung in der NS-Zeit (1937) wirkten nahezu 300 sorbische Vereine meist
innerhalb der Nationalbewegung. 1945 wurde die Vereinstätigkeit vorübergehend
wiederbelebt, musste sich jedoch in der DDR-Zeit auf die einheitliche Organisation Domowina beschränken, die damals Mitglied der
Nationalen Front war und sich in neun Kreisverbände und ca. 300 Ortsgruppen
gliederte.
Mitglieder des sorbischen Seminaristenvereins „Swoboda“ in Bautzen, 1878/80; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut Bautzen
Die Tätigkeit sorbischer Vereine als Triebkraft moderner nationaler Identität
entfaltete sich im 19. und 20. Jh. hauptsächlich in der sächsischen Oberlausitz.
In der Niederlausitz schlossen sich
Sorben überwiegend den örtlichen Gesang- und Turnvereinen an, die oft unter
deutsch-nationalem Einfluss standen. Im Vormärz begann eine Entwicklung, die in
den Revolutionsjahren 1848/49 Massencharakter erhielt, zwischenzeitlich
stagnierte, nach der Reichsgründung 1871 erneut zunahm und in der Weimarer Republik das Leben der Minderheit vielfältig prägte. Die
sorbischen Vereine, die in den 1840er Jahren entstanden waren, bildeten
organisatorisch eine Art Netzwerk unter Führung des Wendischen Redeübungsvereins
Bautzen, des anerkannten
Hauptvereins innerhalb der Vereinigten wendischen Vereine (beide gegründet
1848). Satzungsmäßiges Ziel dieser politischen Zusammenschlüsse, die prinzipiell
beiden Konfessionen offenstanden, war das Wohl des sorbischen Volkes mit seiner
Sprache, Kultur, Tradition und Lebensweise, wobei die Loyalität zur Monarchie
stets gewahrt blieb. Dennoch entzog ihnen die sächsische Verordnung vom
21.8.1849, das Verbot der Vaterlandsvereine betreffend, die Legitimation.
Daraufhin erfolgte mitunter eine Umwandlung in lokale »Armenvereine«.
Ostern 1847 war in Bautzen in Gestalt der wissenschaftlich-kulturellen
Gesellschaft Maćica
Serbska eine überkonfessionelle Organisation geschaffen worden, die mit
ihren Veranstaltungen, Sammlungen, Forschungen und Publikationen – bis zum
Verbot 1937 bzw. dem Beitritt zur Domowina 1949 – auf allen Gebieten der Sorabistik eine Führungsrolle übernahm. 1880 wurde als niedersorbische
Abteilung in Cottbus die
eigenständige Maśica Serbska für die Niederlausitz geschaffen, die v. a. Bücher
herausgab. Beide Abteilungen zählten mehrere hundert Mitglieder, darunter
Vertreter slawischer Völker. Als moralische Stützen mit politischer Funktion
erwiesen sich nach dem Ersten Weltkrieg (z. T. schon früher) die internationalen
Freundesgesellschaften, die namentlich im slawischen Ausland sowie in
Frankreich Kenntnisse über die Sorben und die Lausitz verbreiteten und Kontakte zur sorbischen Intelligenz
knüpften.
Verein „Jednota“ aus Dresden, um 1920; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut Bautzen
Die Reichseinigung mit ihrer deutsch-nationalen Euphorie bewirkte nach 1871 in
einer Gegenbewegung auch die Neubelebung des sorbischen Vereinswesens. Ab 1918
bot die parlamentarische Demokratie in Deutschland umfangreiche Möglichkeiten,
die sich in Vereins- und Parteigründungen niederschlugen. Bis 1937 widmeten sich
insgesamt ca. 60 Vereine der Wahrnehmung allgemeiner sorbischer Interessen.
Hinzu kamen spezifische Vereinigungen mit partikularen Zielen. Mit Aspekten der
Wirtschaft, namentlich der Landwirtschaft, befassten sich im 19. und 20. Jh.
über 60 meist bäuerliche Vereine, bei denen das genossenschaftliche Bank- und
Kreditwesen häufig im Mittelpunkt stand. Das Vereinsvermögen wurde in einigen
Fällen zur Unterstützung Armer, Kranker und sozial Bedürftiger eingesetzt (z. B.
nach Naturkatastrophen). Zwecks regionaler Wirtschaftsförderung wurden in
Städten (Bautzen, Cottbus, Weißwasser) kurzzeitig Vertriebsgenossenschaften unterhalten.
Hier traten mitunter sorbische Unternehmer und Handwerker an die Spitze der
Vereine. In Einzelfällen sorgten ab 1880 genossenschaftliche Krankenkassen der
Industrie- und Bergarbeiter für soziale Absicherung im Krankheits- und
Todesfall, wie dies auch der einzige obersorbische Kriegerverein
beabsichtigte.
Programm des Gründungsfestes des Vereins „Bratrowstwo“ in Wittichenau, 1919; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut Bautzen
Studenten, Seminaristen und Gymnasiasten zählten zu den Initiatoren erster
sorbischer Vereinigungen (1838 Breslau/heute Wrócław (Polen), 1839 Bautzen, 1841 Leipzig, 1846 Prag). Diese übernahmen in Selbsthilfe
Bildungsfunktionen, die der Staat – abgesehen vom Religionsunterricht –
seinerzeit vernachlässigte. Zusätzlich wirkten ab 1862 erfolgreich
konfessionelle Buchgemeinschaften, die ihre Aktivitäten allmählich auf das gesamte
religiöse Leben der Sorben ausdehnten (Serbske ewangelsko-lutherske knihowne
towarstwo/Wendischer evangelisch-lutherischer Buchverein, Towarstwo swjateju
Cyrilla a Methoda/St. Cyrill-Methodius-Verein). Die evangelischen und
katholischen Gemeinschaften blieben dabei oft unter sich, bis 1918 bestimmte die
jeweilige Herrschaft das schulische und kirchliche Vereinswesen. Diese
althergebrachte Abgrenzung wurde in wichtigen nationalen Fragen schrittweise
überwunden.
Verein „Nadźija“ in Bautzen, 1926; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut Bautzen
Erheblichen Anteil an den sorbischen Bestrebungen hatten die lokalen Kulturvereine, die sich
besonders dem Gesang und dem Theaterspiel widmeten. Die ersten Gesangsfeste in
Bautzen (ab 1845) wurden noch von freien Sängern ausgerichtet, ab etwa 1860
entstanden spezielle Vereinigungen (z. B. der Wendische Gesangverein »Lumir« in
Bautzen), die Wert auf Geselligkeit in der Muttersprache legten. Auf eine lange
Tradition können die Gesangvereine »Meja« in Radibor, »Bratrowstwo« in Wittichenau oder »Lipa Serbska« in Panschwitz-Kuckau zurückblicken. Sie
pflegten anfangs meist Kirchengesang, nahmen aber bald das sorbische Volkslied
und populäre slawische Melodien in ihr Repertoire auf. 55 solcher Vereine
schlossen sich 1923 zum Bund wendischer Gesangvereine zusammen. Mindestens 30
Laientheatervereine zeigten bis 1937 ihre Programme u. a. zu den jährlichen
Stiftungsfesten (→ Theater). Organisierten Sport
betrieb zuerst 1896 der Prager Studentenverein »Serbowka«. Ländliche Radfahrvereine sowie ein Kahnfahrverein
(1924 in Dreikretscham bzw. Wartha)
und ein Segelflugverein (um 1930 in Crostwitz) folgten. Von 1920 bis 1933
stärkte der Turnverband »Sokoł«
nachhaltig die körperlich-geistigen, politischen und kulturellen Kräfte der
Sorben. Einzelne Vereine unternahmen laut Statut Wanderungen, mit Vorliebe auf
den Berg Czorneboh. Nach der
relativen Kulturautonomie in der Weimarer Periode wurde das sorbische
Vereinswesen ab 1933 »gleichgeschaltet«. Nur einige Jahre erlaubten die
NS-Behörden den Sorben noch die Pflege von Volkstum, Sprache und Kultur (→ Weimarer Republik, → NS-Zeit).
Webauftritt des Bundes sorbischer Gesangsvereine, 2020
Einen nationalen Führungsanspruch erhoben erstmals 1848 die o. g. Vereinigten
wendischen Vereine, danach 1888 der Verein wendischer Bauern in Crostwitz, der
ca. ein Dutzend Zweigvereine mit angeschlossenen Spar- und Darlehenskassen
betreute. Daneben nahm die Maćica Serbska zeitweise gesamtsorbische politische
Anliegen wahr. Die Bemühungen zur Schaffung eines Dachverbands bürgerlicher und
bäuerlicher sorbischer Vereine gipfelten – nach zwei gescheiterten Versuchen –
vor dem Ersten Weltkrieg in der Gründung der Domowina (13.10.1912 in Hoyerswerda). Ihr schlossen sich in den folgenden Jahren ca. 30
Vereine aus der Oberlausitz sowie ein Verein aus der Niederlausitz an, was ihre
Bedeutung unterstrich. Nach Hemmnissen infolge des Kriegs und
Meinungsverschiedenheiten nahm die Domowina ab 1920 ihre Arbeit in
Gebietsverbänden (»župy«) auf. Sie war für innersorbische Angelegenheiten
zuständig, während die Lausitzer Volkspartei (später Wendische Volkspartei) die
politische Vertretung und die Maćica Serbska die wissenschaftlich-kulturellen
Aktivitäten regeln sollten. Der ab 1923 von diesen Körperschaften in Bautzen
gebildete Wendische Volksrat vertrat sorbische Anliegen gegenüber Reichs- und
Länderregierungen (bis zu seiner Resignation 1933). Durch die antisorbische
Politik des NS-Staats kam das offizielle Vereinswesen 1937 faktisch zum
Erliegen.
Sofort nach der Niederlage des Dritten Reiches nahm die Domowina mit Genehmigung
der sowjetischen Besatzungsmacht ihre Tätigkeit wieder auf und agierte bis 1989
als einzige anerkannte »sozialistische nationale Organisation« der Sorben in
beiden Lausitzen (zeitweise über 14 000 Mitglieder). Andere erneuerte Vereine
(etwa die Maćica Serbska) mussten ihr 1949 beitreten oder sich auflösen. Auf
Druck der Sorbischen Volksversammlung kam es 1989/90 zur Wiederbelebung
des Vereinswesens und zur Erneuerung der Domowina, die seitdem als Bund
Lausitzer Sorben e. V. neben der Einzelmitgliedschaft auch sorbische
Vereinigungen umfasst.
Lit.: E. Hartstock: Die sorbische nationale Bewegung in der sächsischen
Oberlausitz 1830–1848/49, Bautzen 1977; A. Brankačk: Do dźěła sej spinaj ruce.
Chór Meja w kole časow, Bautzen 1994; W. Šołćina: Bratrowstwo. 100 lět serbske
towarstwo w Kulowskej wosadźe, Bautzen 1997; S. Musiat: Sorbische/Wendische
Vereine 1716–1937. Ein Handbuch, Bautzen 2001; S. Musiat: Das Vereinswesen bis
1937 – ein Eckpfeiler der sorbischen nationalen Bewegung, in: Zwischen Zwang und
Beistand. Deutsche Politik gegenüber den Sorben vom Wiener Kongress bis zur
Gegenwart, Hg. E. Pech/D. Scholze, Bautzen 2003; S. Hose, H. Schirmer, K. Elle:
Kulturelle Kompetenz im Ehrenamt. Über Akteure der sorbischen
Zivielgesellschaft. In: Minderheiten als Mehrwert. Hg. M. T. Vogt u. a.,
Frankfurt a. Main 2010.