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Muskauer Standes­herr­schaft
von Peter Milan Jahn

Eine der vier Oberlausitzer Freien Standesherrschaften, deren Wirtschaftsraum im 16. Jh. zu typisch ostelbischem Großgrundbesitz erweitert wurde und den gesamten nordöstlichen Teil der Oberlausitz zwischen Neiße und Spree abdeckte. Sie grenzte im Norden bei Spremberg an die Niederlausitz und im Süden an die Teichlandschaft der Oberlausitz. Östlich der Neiße (→ Östliche Lausitz) verlief zu Schlesien eine politisch und ethnisch scharfe Grenze zum Fürstentum Sagan. Naturräumlich und ethnisch wenig unterschieden war hingegen die angrenzende Standesherrschaft Hoyerswerda (→ Hoyerswerdaer Land) westlich der Spree. Einen Teil der Muskauer Standesherrschaft bildet bis heute die sprachlich und kulturell besondere Schleifer Region.

Seit dem späten Mittelalter lag die Muskauer Standesherrschaft an der „Haupt-Niederstraße“ der Oberlausitz. Ursprünglich wohl auf das Altland um Muskau beschränkt, schob sie sich im Zuge des spätmittelalterlichen Landesausbaus (→ Kolonisation) über insgesamt 500 km2 nach Süden und Westen in das Oberlausitzer Heideland vor. Bis um 1850 bestand eine Fronherrschaft (→ Leibeigenschaft) über die mehrheitlich sorbische Landbevölkerung.

Eine Vielzahl persönlicher und dinglicher Rechte sicherte den Muskauer Standesherren im Reichsgrafenstand hohe politische und ökonomische Positionen. Darunter waren der erste Rang in der Landständischen Versammlung, verbunden mit überproportionaler Gewichtung der Stimme, ein privilegierter Gerichtsstand, die Oberlehnsbarkeit über die Vasallen, die Obergerichtsbarkeit an einem eigenen Hofgericht sowie die Konsistorialrechte. Wirtschaftlich waren die Zoll- und Bergwerksgerechtigkeit sowie das Salzmonopol von Bedeutung. Später war jede Standesherrschaft im Besitz eines reichsunmittelbaren Fürsten, der durch „Mediatisierung“ (1803 und 1806) Untertan eines Landesherrn wurde, jedoch einige Vorrechte behielt (bis 1918).

Muskauer Standesherrschaft mit Schleifer Region (dunkel) um 1790; Karte: Iris Brankatschk

Die beiden Territorialherrschaften Muskau und Hoyerswerda bildeten den Kernbereich eines geschlossenen Waldgürtels zwischen Ober- und Niederlausitz, der erst im Spätmittelalter besiedelt wurde. Die Sprache der bäuerlichen Bewohner war ein Übergangsdialekt zwischen Ober- und Niedersorbisch, da die Binnenkolonisation aus beiden Richtungen erfolgte (→ Dialekte). Der kalte, sandige Boden musste von den nach sächsischem Recht angesiedelten Heidebauern mit Waldstreu gedüngt werden, um wenigstens Roggen zu liefern. Von Anfang an war beabsichtigt, dass die Bauern sich unter herrschaftlicher Kontrolle weitere Nutzungen erschlossen, die ihnen bei veränderten politischen Bedingungen erst im 19. Jh. entzogen wurden. In der Muskauer Standesherrschaft waren dies v. a. die in Zünften organisierte Bienenzucht, die Köhlerei und die Pechsiederei, der Handel mit Kienholz, Streu und Waldfrüchten, die Verarbeitung von Baumrinde sowie die Waldhutung und -grasung. Muskauer Erbuntertanen waren bis zum Dreißigjährigen Krieg meist zur Bewirtschaftung der Fischteiche und zur Jagd verpflichtet, danach zunehmend mit eigenem Gespann zum Ackerbau auf herrschaftlichen Vorwerken, in der Forstwirtschaft und im Bergbau (→ Roboten). Begleitet von einem starken Bevölkerungszuwachs, der von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jh. zu einer Verdopplung der Einwohnerzahl von ca. 5 000 auf 10 000 führte, machten sich zeittypische Verarmungs- und Proletarisierungstendenzen bemerkbar.

Schrotholzkirche in Sprey; Fotografin: Iris Brankatschk

Unter den Herren von Biberstein breitete sich ab 1540 die Reformation zunächst unter deutschen Stadtbürgern aus. Nach religionspolitischen Veränderungen, die den Landständen größere Entscheidungsbefugnisse einräumten (→ Ständeherrschaft), berief Fabian von Schönaich als neuer Patron der Muskauer Kirche 1564 evangelische Prediger nach Gablenz und Schleife, vermutlich auch nach Nochten und Zibelle/​heute: Niwica (Polen). Die alte Propstei Zibelle war eine Muskauer Exklave jenseits der Neiße und bildete ein Kirchspiel mit zahlreichen deutschen Dörfern unter schlesischer Herrschaft. Der katholische Kaplan von Muskau musste dem evangelischen Diakon Melchior Tilenus weichen, der als zweiter Stadtpfarrer die Zuständigkeit für die sorbische (Land-)Gemeinde übernahm. Burggraf Carl Christoph zu Dohna gab 1622 den Auftrag für den Neubau einer „Deutschen Hauptkirche“ und erließ eine erste evangelische Kirchenordnung für die Muskauer Standesherrschaft. Noch 100 Jahre später wurde Muskau trotzdem als „wendische Stadt“ bezeichnet (Samuel Grosser), was auf die vorherrschende Umgangs- und Marktsprache hindeutet. Die Predigt erfolgte jeweils in der Muttersprache der Kirchgänger, wobei das Abendmahl in der ethnisch und sozial differenzierten Gemeinde bis ins 18. Jh. gemeinsam begangen wurde. Die deutsche Kirche war mit einem Glockenturm und der ersten Orgel versehen, die Organisten hatten von ihren Einkünften die Pfarrer in Schleife mit zu versorgen. Die sorbischen Dorfkirchen, in denen die evangelischen Kirchenlieder vom Küster bzw. Kirchschulmeister vorgesungen wurden, blieben bis weit ins 19. Jh. ohne Musikinstrumente. Das obersorbische Gesangbuch wurde in einer 1770 durch Hadam Bohuchwał Šěrach ergänzten Neuauflage flächendeckend eingeführt. Bis ins 19. Jh. wurde den Bauern, vertreten durch die Dorfgerichte, ein Mitspracherecht bei der Neubesetzung der Pfarrstellen gewährt. Die Probepredigten der Kandidaten wurden besonders nach deren sorbischer Aussprache beurteilt.

Schüler beim Schulfest in Sagar, um 1900; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Graf Hermann von Callenberg dekretierte 1777 die allgemeine Schulpflicht für die Kinder seiner Untertanen, sodass vor den Napoleonischen Kriegen die Jüngeren bereits sorbisch lesen konnten. Callenberg, der sorbisch sprach, ließ sich als einziger Standesherr in der Wendischen Kirche bestatten, deren Neubau im klassizistischen Stil er persönlich plante und 1788 abschloss (1945 zerstört). Das nach ihm einheiratende Geschlecht derer von Pückler hatte schon auf seinem Stammgut in Branitz bei Cottbus Erfahrungen mit sorbischen Untertanen gesammelt. Der Letzte dieser Linie, der in den Fürstenstand erhobene Gartenkünstler und Schriftsteller Hermann von Pückler-Muskau, fügte dem Ensemble des Muskauer Schlossparks am westlichen Abhang des Neißetals eine verfallene romantische Kirchenruine ein. Darin hatten einst die sorbischen Bauern der zehn Dörfer umfassenden Kirchgemeinde Muskau Zuflucht vor der Reformation gefunden. Pückler lobte auch die sich „immer mehr (…) verlierende Sprache“ der Sorben, die „reich und poetisch“ sei, ließ es jedoch nicht an abfälligen Bemerkungen über den sorbischen Volkscharakter fehlen; zur Förderung von Volksschulen trug er nichts mehr bei. Eine Privatfehde entzweite ihn mit dem Schleifer Pfarrer Jan Wjelan. Auf die Rückkehr Pücklers von einer mehrjährigen Weltreise verfasste Wjelan 1840 ein ironisch gemeintes Gedicht in Sorbisch.

Nach der Revolution 1848 erfolgte in den letzten Dörfern die seit Jahrzehnten angekündigte und verhandelte Ablösung der gegenseitigen Verbindlichkeiten zwischen Herrschaft und Untertanen. Da die „befreiten“ Bauern ihre Waldnutzungsrechte verloren, wurde die traditionelle Schrotholzbauweise durch Ziegelbau ersetzt, zu dem die herrschaftlichen Eigenbetriebe das Material lieferten. Die Kleidung für beide Geschlechter wurde unter dem Einfluss der Industrialisierung farbenfroher; die bäuerliche Tracht der Frauen blieb vielfach bis zum Zweiten Weltkrieg lebendig. Die Muskauer Standesherrschaft investierte in Holz- und Papierverarbeitung, in Glasindustrie und Bergbau, wo viele Sorben Arbeit fanden. Besonders von Osten her drang die deutsche Sprache in die Region vor. Der letzte „wendische“ Pfarrer der Muskauer Landgemeinde namens Otto Jurk klagte 1900, dass unter den elf Dörfern nur in Weißkeißel, Sagar, Skerbersdorf, Haide und Brand sorbisch gesprochen würde. Er predigte noch jede zweite Woche in dieser Sprache, deren Abschaffung die Lehrer meist förderten. Seit dem 18. Jh. wurden oft deutsche und sorbische Gottesdienste zusammengelegt, selbst die Lieder simultan zweisprachig gesungen. In Nochten erlosch die sorbische Predigt mit Bogumił Šwjela 1913; sein Nachfolger wurde nach längerer Vakanz ein aus China zurückgekehrter Missionar.

Altes Bauernhaus in Sagar, 1955; Fotograf: Ernst Tschernik, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Südflügel des Neuen Schlosses Muskau

In Schleife wurde der sorbische Gottesdienst im Einvernehmen bzw. mit Duldung der schlesischen Kirchenleitung sowie des letzten standesherrlichen Patrons von Arnim während der NS-Zeit verboten. Nach 1945 wurde seitens der evangelischen Kirche nichts unternommen, um die Sprache erneut ins Kirchenleben zu integrieren, obwohl der größte Teil der Landbevölkerung damals noch das Sorbische beherrschte. Gegenläufige Bemühungen der Schule konnten am Trend zum Sprachwechsel nichts mehr ändern, weil die sorbische Sprache mit kommunistischen Wertvorstellungen verbunden wurde, die die Mehrheit der Bevölkerung ablehnte.

Die Muskauer Standesherrschaft mit 18 Eigenbetrieben und einem Millionenbudget wurde auf Anordnung der sowjetischen Besatzungsbehörden am 11.7.1945 „entschädigungslos enteignet“.

Lit.: J. Mörbe: Ausführliche Geschichte und Chronik von der Stadt und der Freien Standesherrschaft Muskau, Muskau 1861; S. Gräfin von Arnim: Bilder aus Muskaus Vergangenheit, Grünwald 1973; H. Fürst von Pückler-Muskau: Briefe eines Verstorbenen. Ein fragmentarisches Tagebuch aus Irland, England und Frankreich, geschrieben in den Jahren 1828 und 1829, Frankfurt am Main/​Leipzig 1991; H. Graf von Arnim / W. A. Boelcke: Muskau. Standesherrschaft zwischen Spree und Neiße, Frankfurt am Main/ Berlin 1992; P. M. Jahn: Vom Roboter zum Schulpropheten – Hanso Nepila (1766–1856). Mikrohistorische Studien zu Leben und Werk eines wendischen Fronarbeiters und Schriftstellers aus Rohne in der Standesherrschaft Muskau, Bautzen 2010.

Metadaten

Titel
Muskauer Standes­herr­schaft
Titel
Muskauer Standes­herr­schaft
Autor:in
Jahn, Peter Milan
Autor:in
Jahn, Peter Milan
Schlagwörter
Herrschaft; Regionalkultur; Kirchengeschichte; Volksschule; evangelische Sorben
Schlagwörter
Herrschaft; Regionalkultur; Kirchengeschichte; Volksschule; evangelische Sorben
Abstract

Eine der vier Oberlausitzer Freien Standesherrschaften, deren Wirtschaftsraum im 16. Jh. zu typisch ostelbischem Großgrundbesitz erweitert wurde und den gesamten nordöstlichen Teil der Oberlausitz zwischen Neiße und Spree abdeckte.

Abstract

Eine der vier Oberlausitzer Freien Standesherrschaften, deren Wirtschaftsraum im 16. Jh. zu typisch ostelbischem Großgrundbesitz erweitert wurde und den gesamten nordöstlichen Teil der Oberlausitz zwischen Neiße und Spree abdeckte.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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