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Kinder- und Jugend­literatur
von Sylvia Schön

Gesamtheit der für Kinder und Jugendliche verfassten oder empfohlenen sowie von diesen gemeinhin rezipierten künstlerischen Texte. Die Anfänge einer sorbischen Kinder- und Jugendliteratur sind in der Aneignung von Teilen der Volksdichtung durch Kinder und Jugendliche zu sehen (→ Märchen, → Sage, → Volkslied), die zu eigenen Schöpfungen wie Sprachspielen und Kinderreimen inspirierte. Parallel dazu dienten im 18. Jh. übersetzte religiöse Schriften (z. B. „Dźěćaca postila“, die Kinderpostille von Johann Ludwig Langhans, 1717) und in der zweiten Hälfte des 19. Jh. schulische Lese- und Lehrbücher als Lesestoffe für die Altersgruppe (→ Schule).

Zeitgleich mit der Herausbildung der sorbischen Literatur schufen namhafte Autoren auch belehrende und unterhaltsame Gedichte und Erzählungen für Kinder, an erster Stelle Handrij Zejler mit seinen Fabeln sowie Jan Wjela-Radyserb mit seinen Gedichten, Reimen, Liedern und Erzählungen „für brave Kinder“. Diese und weitere Texte fanden Eingang in Michał Hórniks „Čitanka – mały wuběrk z narodneho a nowišeho pismowstwa hornjołužiskich Serbow“ (Lesebuch – kleine Auswahl nationalen und neueren Schrifttums der Oberlausitzer Sorben, 1863). Weniger literarischen, dafür mehr moralisierenden Stoff boten die zweisprachigen Schullesebücher von Lehrern wie Křesćan Kulman, Jan Bartko und Hendrich Jordan. Spezielle sorbische Kinderbücher erschienen wegen des schwach entwickelten Verlagswesens erst Ende des 19. Jh., z. B. zwei „Struwwelpeteriaden“ in freien Nachdichtungen.

Die bewusste Entwicklung sorbischer Kinder- und Jugendliteratur setzte im 20. Jh. ein. Der Seminarist Franc Kral gab ab 1906 als Zeitungsbeilage ein obersorbisches Blatt für Kinder heraus: „Raj“ (Paradies) (→ Zeitschriften). Der junge Lehrer Michał Nawka stellte 1914 unter dem Titel „Baje, bajki a basnički“ (Sagen, Märchen, Fabeln) sorbische Märchen für das erste Heft der „Rajowa knihownja“ (Bibliothek des „Raj“) zusammen. In der Niederlausitz veröffentlichte Fryco Rocha Kindergedichte in der Zeitschrift „Wosadnik“ (Pfarrgemeindeblatt). Der Erste Weltkrieg unterbrach diese Bemühungen.

Niedersorbisches Lesebuch für Kinder von Bogumił Šwjela, 1907; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Jan Wjela-Radyserb; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

In den 1920er Jahren gelang es der evangelischen und katholischen Lehrerschaft, mit dem Schulbuch „Kwětki“ (Blumen, 1921), ein grundlegendes Lesebuch für die oberen Klassen herauszugeben. Darauf folgten mit dem Lesebuch „Zahrodka“ (Der Garten, 1925) und besonders der Fibel „Na wsy“ (Auf dem Dorf, 1925), verfasst von Michał Nawka und illustriert von Měrćin Nowak-Njechorński, spezifische Kinderbücher für die unteren Schulklassen. Beide Autoren brachten 1928 auch das erste originäre farbige Bilderbuch heraus: „Dźěćatka hladajće, kajke to rjanosće“ (Kinderchen, schaut, welche Schönheiten). Neben Nawka schrieb Marja Kubašec Bühnenstücke für Kinder („Tři hodowne hry za dźěći“, 1923, Drei Weihnachtsspiele für Kinder), geprägt vom Pathos der „Sonnenliteratur“ des 19. Jh. Der Lehrer Jan Lajnert schrieb Gedichte, Kindererzählungen und Wiegenlieder. Thematisch bewegte sich die sorbische Kinder- und Jugendliteratur vorwiegend im Kreis von Sagen und Märchen.

Nach der Konfiskation des Vermögens sorbischer Vereine in der NS-Zeit wurden 1941 noch vorhandene Lagerbestände an Kinder- und Lesebüchern eingestampft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte zunächst die sich verzögernde Erneuerung des Verlagswesens sichtbare Aktivitäten. Erst die beim Berliner Verlag Volk und Wissen 1951 in Bautzen gebildete sorbische Redaktion konnte sich neben der Entwicklung von Lehrbüchern auch der Kinder- und Jugendliteratur annehmen. In ansprechender, mit deutschen Büchern vergleichbarer Ausstattung erschienen erstmals für Kinder bearbeitete Sagen und Märchen: obersorbisch „Serbske baje“ (Sorbische Sagen, 1951), „Serbske ludowe bajki“ (Sorbische Volksmärchen, 1955), die Anthologie „Klepam, klepam pišćałku“ (Ich klopfe mir eine Flöte, 1957) und niedersorbisch „Wužowy kral a źěśe a druge bajki z Łužyce“ (Der Schlangenkönig und das Kind und andere Märchen aus der Lausitz, 1958) und schließlich 1964 das reich illustrierte Märchenbuch „Der Kienpeter“ („Łučlany Pětr“, 1966).

Obersorbisches Lesebuch von Michał Hórnik, 1863; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Obersorbische Fibel von Michał Nawka mit Illustrationen von Měrćin Nowak-Njechorński, 1925; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

An Neuschöpfungen sorbischer Kinder- und Jugendliteratur erschien in den 1950er Jahren nur wenig. Erwähnt seien die Bearbeitung der Sage von Krabat durch Nowak- Njechorński („Mištr Krabat“, 1954; „Meister Krabat“, Berlin 1954), Ben Budars Novelle über die Lohsaer Bauernunruhen „Rebel Jan Cuška“ (1955) und Jurij Brězans Mädchenroman „Christa“ (1958) über die Suche eines vom Vater zur NS-Zeit verstoßenen jüdischen Mädchens nach der eigenen Identität. Mit systematischer Förderung nahm sich ab 1958 der Domowina-Verlag des Genres an. Fühlten sich bis dahin fast nur Lehrer für die Kinder- und Jugendliteratur zuständig, wurden nun alle Autoren dazu animiert. Das erste Verlagsjahrzehnt zeichnete sich besonders durch Experimentierfreude aus – die Literatur für Kinder und Jugendliche gewann neue Räume, Themen und Akzente. Es entstanden Abenteuer-, Kriminal- und Science-Fiction-Erzählungen, autobiografische und psychologische Jugendprosa sowie Liebesgeschichten. Hańža Bjeńšowa fesselte Kinder mit ihrer Feriengeschichte „Spušćej so na Maksa“ (Verlass dich auf Max, 1961), Marja Młynkowa erfasste treffend das Schulmilieu in „Starosće w dźewjatce“ (Sorgen in der Neunten, 1964), Jan Wornar schuf mit „Opium“ (1965) einen Agentenkrimi und Pětr Malink „AK 71 – start 18.15 hodź.“ (AK 71 – Start um 18.15 Uhr, 1959) die erste utopische Vision in Sorbisch. Letzterer legte mit „Dwě horšći pěska“ (Zwei Handvoll Sand, 1964) eine autobiografische Skizze seiner Jugend im Nationalsozialismus vor. Spannungen der deutsch-deutschen Realität zeichneten Jurij Brězan mit der Liebesgeschichte „Robert a Sabina“ (1961, „Eine Liebesgeschichte“, 1962) und Jurij Krawža mit Jugendfreundschaften in „Módre listy“ (Blaue Briefe, 1962). Cyril Kola mit „Róža. Powědančko z njedawneho časa“ (Rosa. Erzählung aus jüngerer Zeit, 1961) und Jurij Koch mit „Židowka Hana“ (Die Jüdin Hana, 1963) rührten ihre Leser mit Mädchenschicksalen der Vergangenheit. Sprachspielerische Kinderlyrik bot der „Płomjo“-Redakteur Gerat Libš mit „Z połnej karu“ (Mit vollem Schubkarren, 1970). In den 1970er Jahren versuchten Jan Wornar mit „Honače pjerja“ (Hahnenfedern, 1974) und Jurij Krawža in „Bajka so kónči“ („Das Ende des Märchens“, 1975) stärker die Gegenwartserfahrungen sorbischer Jugendlicher abzubilden.

Trotz dieser emanzipatorischen Bemühungen wandte sich die sorbische Kinder- und Jugendliteratur seit Wornars viel gelesener Sagenadaption „Čapla a Hapla“ (1969, „Im Lande des Riesen“, 1971) erneut den Märchen und Sagen zu, so Gerat Hendrich mit „Dyrdomdejstwa Pumpota“ („Die Abenteuer des Pumpot“, 1970; → Pumphut) und „Kito husličkar“ („Kito und die Tanzfiedel“, 1979), Jan Wornar mit „Šěrikowe huslički“ („Die Lärchengeige“, 1978), Madlena Nasticcyna mit „Dźowka wódneho muža“ („Die Tochter des Wassermannes“, 1986) u. a. Idee, Erzählweise und Stil von Märchen und Sagen treffen am besten die kindliche Auffassungsgabe. Die Verwendung folkloristischer Elemente wurde häufig verbunden mit der didaktischen Absicht, ein Bewusstsein für die Volkstraditionen auszubilden. Diesen Zweck förderte der Verlag mit der Editionsreihe „Bajka“ (Märchen, 1980–1991), in der Schriftsteller sorbische Märchen neu erzählten.

In den 1980er Jahren tauchten mehrere Tiergeschichten in Kinderbüchern auf, so bei Ben Budar „Ja, kocor Stani“ (1983, „Ich, Kater Stani“, 1988), Jurij Brězan „Stara liška“ („Dalmat hat Ferien“, 1985), Křesćan Krawc „Malko a pos Lui“ (1981, „Mirko und der fremde Hund“, 1985), Pawoł Grojlich „Mój přećel Pusij“ (Mein Freund Pussi, 1988) und Jan Wornar „Mudra wudra a druhe powědki wo zwěrjatach“ (Der schlaue Otter und andere Tiergeschichten, 1988). Fabelhaftes begegnet in der sprachspielerischen Lyrik von Kito Lorenc „Rymarej a dyrdomdej“ (1985, „Die Rasselbande im Schlamassellande“, 1983), wo sich mit Witz und Humor die Realität spiegelt. Zeitkritische Themen erschienen in sorbische Jugendbüchern vorwiegend Ende der 1980er Jahre, so in Jurij Kochs „Wšitko, štož ja widźu“ (1989, „Augenoperation“, 1988, bzw. „Schattenrisse“, Stuttgart 1990), der Geschichte eines Jugendlichen, der um Ehrlichkeit ringt, und in Angela Stachowas „Vineta“ (1983), einer Liebesgeschichte in einem sorbischen Dorf, das dem Braunkohlenbergbau geopfert werden soll.

Seit der politischen Wende spielen nationale und mythologische Themen sowie didaktische Tendenzen in der sorbische Kinder- und Jugendliteratur eine geringere Rolle. Kinder und Jugendliche werden mit ihren alltäglichen Problemen gezeigt, wobei das sorbisch-deutsche Zusammenleben bisher kaum vorkommt. Zu den bekannten Autoren – Brězan mit „Naš wuj z Ameriki“ (Unser Onkel aus Amerika, 1997), Koch mit den kriminalistischen Geschichten „Golo a Logo“ (1990, „Golo und Logo“, 1993) sowie „Koče slěbro“ (2000, „Jakub und das Katzensilber“, 2001), Křesćan Krawc mit „Woko Mok, syn wódneho muža“ (Woko Mok, Sohn des Wassermannes, 2003) – gesellten sich einige jüngere Autorinnen: so Jěwa-Marja Čornakec mit fantastischen Themen in „Potajnstwo zeleneho kamjenja“ (Das Geheimnis des grünen Steins, 1994), „Matej w štwórtej dimensiji“ (Matej in der vierten Dimension, 1996), „Łójerjo sonow“ (Die Jäger der Träume, 2018) und Tierfreundschaftserlebnissen „Wroblik Frido a jeho přećeljo“ (Der Spatz Frido und seine Freunde, 2011), Lubina Hajduk-Veljkovićowa mit der Tiergeschichte „Ćipka w lěsu“ (Das Küken im Wald, 2004), dem Großstadterlebnis eines Mädchens in „Juliana“ (2007) und der Fantasy-Erzählung „W putach Čorneho pana“ (In den Fängen des Schwarzen Pan, 2011) sowie Měrka Mětowa mit den Teenagerbüchern „Skónčnje 14“ (Endlich 14, 2008) und „Komplot na ptačim kwasu“ (Komplott auf der Vogelhochzeit, 2014). Für die niedersorbisch Lesenden schrieben u. a. Mirelle Nagora – „Im Tal der roten Kleeblüten. W Dole cerwjenych kwiśinkow“ (1999) – und Gerat Nagora – „Anka, Jonas a 7 bajankow“ (Anka, Jonas und 7 Erzählungen, 2004).

Kinderbücher aus dem Verlag Volk und Wissen und dem Domowina-Verlag zwischen 1957 und 2008; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Kinderbuchangebot in der Schmolerʼschen Verlagsbuchhandlung, 2020; Fotograf: Frank Müller, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Die sorbische Kinder- und Jugendliteratur bereicherten zahlreiche Übersetzungen aus anderen Literaturen. Neben Klassikern wären Bilderbücher zu nennen, aber auch Comics wie die polnische Serie „Bolek a Lolek“, die meist auf Kooperationsbeziehungen des Domowina-Verlags zu auswärtigen Verlagen beruhen. Auch weniger bekannte Werke wie Daniel Heviers „Krajina Agord“ (Das Land Agord, 1999) oder Ivan Kušans „Koko a operacija Barbarossa“ (Koko und die Operation Barbarossa, 2001) lernten junge sorbische Leser kennen.

Die sorbische Kinder- und Jugendliteratur hat sich im 20. Jh. in allen Genres entwickelt – inzwischen auch in Form von Hörbüchern, Comics und Manga-Editionen. Den Interessenten steht eine weit gefächerte Lektüre in Sorbisch zur Verfügung. Zwar treten weiterhin nationale Anliegen und Themen auf, das Spektrum hat sich jedoch deutlich in Richtung Universalität verbreitert.

Lit.: M. Ziółkowska-Sobecka: Serbska dźěćaca a młodźinska literatura. Kritiska skica, in: Lětopis D 4 (1989); H. Orsesowa: K stawiznam serbskeje dźěćaceje a młodźinskeje literatury, Budyšin 1991 (unveröffentlichtes Manuskript); M. Ziółkowska-Sobecka: Dźěćaca a młodźinska literatura, in: Přinoški k stawiznam serbskeho pismowstwa lět 1945-1990, Budyšin 1994, S. 161-191

Metadaten

Titel
Kinder- und Jugend­literatur
Titel
Kinder- und Jugend­literatur
Autor:in
Schön, Sylvia
Autor:in
Schön, Sylvia
Schlagwörter
Literatur; Kinderbuch; Sorben; Sorbische Sprache(n); Zweisprachigkeit; Lausitz; Schriftsteller; Schriftstellerin; Jugendbuch
Schlagwörter
Literatur; Kinderbuch; Sorben; Sorbische Sprache(n); Zweisprachigkeit; Lausitz; Schriftsteller; Schriftstellerin; Jugendbuch
Abstract

Gesamtheit der für Kinder und Jugendliche verfassten oder empfohlenen sowie von diesen gemeinhin rezipierten künstlerischen Texte. Die Anfänge einer sorbischen Kinder- und Jugendliteratur sind in der Aneignung von Teilen der Volksdichtung durch Kinder und Jugendliche zu sehen.

Abstract

Gesamtheit der für Kinder und Jugendliche verfassten oder empfohlenen sowie von diesen gemeinhin rezipierten künstlerischen Texte. Die Anfänge einer sorbischen Kinder- und Jugendliteratur sind in der Aneignung von Teilen der Volksdichtung durch Kinder und Jugendliche zu sehen.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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