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Theater
von Dietrich Scholze

Bühnenkunst, die alle Formen szenischer Darstellung sowie der künstlerischen Kommunikation zwischen Darstellern und Publikum umfasst (Sprech-, Musik-, Puppentheater sowie Ballett und Pantomime). Das Theater der Sorben verwendet sorbische originäre Vorlagen oder sorbische Übersetzungen; es entstand im Nachklang der nationalen Wiedergeburt. Am 2.10.1862 fand in Bautzen, unter Mitwirkung von Jan Arnošt Smoler, im Gasthaus „Zur Goldenen Krone“ (später „Stadt Bautzen“) die erste Theateraufführung in Obersorbisch statt. Die Anregung empfing der örtliche Verein Bjesada von der Nationalbewegung der Tschechen. Studenten aus dem Prager Wendischen Seminar hatten die populäre tschechische Komödie „Rohovín Čtverrohý“ von Václav Kliment Klicpera (obersorbisch „Rohowin Štyrirohač“, deutsch etwa: Herr von Viereck, 1821) übersetzt, die nur männliche Rollen enthielt.

Gasthaus in Lehndorf, erster Aufführungsort eines sorbischen Theaterstücks auf dem Lande; Repro: Kurt Heine, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Ein Nationaltheater nach dem Vorbild anderer slawischer Völker – als Kanon oder als Institution – hat sich bei den Sorben nicht herausgebildet. Bis zur Gründung einer Berufsbühne (1948) wurde sorbisches Theater ausschließlich von Laien verwirklicht. Als wichtigstes Genre der Dramatik erwies sich das Schauspiel, besonders das Lustspiel. Herkömmliches Musiktheater (Singspiel, Oper, Operette, Tanz, Musical) blieb im Repertoire stets die Ausnahme. Für die sorbischen Autoren und Amateurgruppen standen Sprachbildung (→ Sprachkultur) und Unterhaltung im Vordergrund. Nachdem das ländliche Publikum die Skepsis gegenüber der „gottlosen Gaukelei“ überwunden hatte, empfand es die dramatische Darstellung meist als Teil muttersprachlicher Geselligkeit. Die unter Anleitung von Theaterliebhabern wirkenden Vereine trugen gerade auf den Dörfern, wo bis zur Gegenwart Dialekt oder Umgangssprache gesprochen wird, zu Hebung und Angleichung des Sprachniveaus bei.

Inszenierung des Stücks „Knjez a roboćan“ (Herr und Knecht) in Laske, 1931; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Inspiriert von der Jungsorbischen Bewegung, nahm das sorbische Theater im letzten Viertel des 19. Jh. in der Oberlausitz einen Aufschwung. Es wurden deutsche, tschechische, polnische u. a. Vorlagen übertragen und z. T. bearbeitet. Am 2.9.1877 traten Studenten und Gymnasiasten in Lehndorf bei Kamenz erstmals vor ländlichem Publikum auf. In seinem Bericht darüber nannte Jakub Bart-Ćišinski das Theater ein „mächtiges Mittel, um allerlei Gedanken und hohe Ideen im Volke zu verwurzeln“ (Lipa Serbska, 1877/78). Eine erste Vereinsbühne agierte in den 1880er Jahren in Saritsch. Das agile Nationalsorbische Bauerntheater aus Quatitz stellte sich 1896 – während der Ausstellung des Sächsischen Handwerks und Kunstgewerbes – auf einer Dresdener Freilichtbühne vor. Die Vereine Meja in Radibor und Bratrowstwo in Wittichenau inszenierten nach 1900 klassische osteuropäische Dramen sowie Molières „Der Geizige“. Bis zur Jahrhundertwende konnte die Bühne ihren Platz in der sorbischen Kultur festigen. 1913 verzeichnete Franc Kral-Rachlowc in dem Handbuch „Naše dźiwadło“ (Unser Theater) 66 dramatische Texte, die gedruckt oder vervielfältigt in Sorbisch vorlagen. Zwischen 1900 und 1914 sind rund 250 Theatervorstellungen an 35 Orten bezeugt, häufig zu den Stiftungsfesten der Vereine (→ Vereinswesen).

In der kulturpolitisch liberaleren Atmosphäre der Weimarer Republik erreichte das Laientheater seinen Höhepunkt, auch die Dramenproduktion nahm zu (z. B. Mikławš Hajna, Marja Kubašec, Józef Nowak, Jurij Wjela). Bis zum Betätigungsverbot 1937 waren in der Oberlausitz 30–40 Amateurgruppen aktiv, die regelmäßig oder gelegentlich in Gasthäusern oder im Freien auftraten. 1920, zur 46. Schadźowanka, konnten sorbische Studenten erstmals das städtische Theater in Bautzen mieten. Im Juli 1921 begann in Kopschin eine Serie von Aufführungen unter freiem Himmel; die vier Vorstellungen von Bart-Ćišinskis Nationaldrama „Na Hrodźišću“ (Auf dem Burgwall, 1880) durch den Jünglingsverein Crostwitz erlebten 4 000 Zuschauer. In der NS-Zeit demonstrierten einige obersorbische Vereine, so Radosć in Hochkirch, mithilfe metaphorischer Stücke gewachsenes nationales Selbstvertrauen sowie politischen Protest. Eine bereits geplante Inszenierung wurde dort 1937 untersagt, zur vorerst letzten sorbischen Vorstellung gab man am 20.2.1938 in Wittichenau das volkstümliche Trauerspiel „Genofeva“. Die Kirchgemeinde Crostwitz veranstaltete noch bis 1940 Passionsspiele in Sorbisch. 1918–1937 wurden in ca. 65 Oberlausitzer sorbischen Dörfern und einigen Städten insgesamt über 100 Stücke in mehreren hundert Inszenierungen gezeigt. Nunmehr lagen 136 sorbischsprachige Stücke im Manuskript vor, davon 45 Übersetzungen (überwiegend aus dem Deutschen und Tschechischen). Unter den scheinbaren Originalen – vier davon in Niedersorbisch – waren freilich zahlreiche Bearbeitungen unbekannter Quellen.

In der Niederlausitz erfuhr am 22.3.1882 das sorbische Theater seinen Auftakt, als die Jugend von Werben zum 85. Geburtstag von Kaiser Wilhelm I. die Szene „Božemje serbskich wojakow“ (Abschied der wendischen Soldaten) von Mato Kosyk präsentierte. Bis auf einige Vorstellungen von Seminaristen in Altdöbern zu Beginn des 20. Jh. konnten sich niedersorbische Laiengruppen vor 1945 jedoch nicht etablieren, da das nationale Interesse der dortigen Bildungsschicht gering war. Es entstanden lediglich fünf originale Texte, wovon einer – „Z chudych žywjenja“ (Aus dem Armenleben) von Marjana Domaškojc – 1932 auf Tschechisch in Prag vom Bund slawischer Frauen aufgeführt wurde.

Ehemaliges Funktionsgebäude des Sorbischen Volkstheaters, Vor dem Schülertor in Bautzen; Fotograf: Kurt Heine, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Infolge des ersten sächsischen Sorbengesetzes wurde im Herbst 1948 das Sorbische Volkstheater gegründet (→ Deutsch-Sorbisches Volkstheater). Damals existierten erneut rund 30 sorbische Amateurgruppen, von denen etwa ein halbes Dutzend noch für Jahrzehnte aktiv blieb. Das erste Berufsensemble unter Regisseur und Schauspieler Jan Krawc zog zunächst als Tourneetheater durch die Dörfer der Oberlausitz, selten der Niederlausitz; am Sitz in Bautzen besaß es ein Funktionsgebäude, aber 15 Jahre lang keine eigene Bühne. Vorrangige Aufgaben waren, attraktive und zugleich unaufwendige Spielvorlagen zu finden, unter den Bewohnern im Einzugsgebiet ein Stammpublikum zu gewinnen und den Darstellern aus der Laienbewegung eine berufliche Qualifikation zu sichern. Der kulturpolitische Auftrag der Wanderbühne (seit 1953 Deutsch als Volkstheater bezeichnet) war, die Zuschauer zu bilden, zu belehren und zu erziehen. Nicht zuletzt durch Theaterkunst sollte ein weltanschauliches Ideal verbreitet werden, das in der DDR-Zeit den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild zum Ziel hatte. Bestimmend für die Spielplangestaltung waren a) die soziale Struktur der Adressaten und b) die personellen Voraussetzungen des jungen Ensembles. Viele Sorben kannten um 1950 noch kein Theater in ihrer Muttersprache. Das Repertoire bestand daher zu drei Vierteln aus populären Komödien, Possen oder Schwänken der deutschen und internationalen Literatur, was die Kritik teils tadelte, teils als Ausdruck des historischen Optimismus deutete. Bis 1953 wurden 20 Inszenierungen mit 550 Vorstellungen an 91 Orten vor jährlich bis zu 20 000 Besuchern präsentiert. Nach dem ersten Intendantenwechsel im Sommer 1958 wurden anspruchsvollere Programme aufgestellt, nun gelangten fünf bis sechs (zuvor drei oder vier) Inszenierungen pro Spielzeit zur Premiere, darunter „fortschrittliche Zeitstücke“ (so die zeitgenössische Kritik). Die staatliche Kulturförderung ebnete allmählich neuen sorbischen Bühnenwerken den Weg. Jurij Brězans epische Chronik „Marja Jančowa“ (1959), die Parallelen zu Berthold Brechts „Mutter Courage“ aufweist, bildete eine erste Zäsur. Nach dem Mauerbau 1961 erfolgte die Ausrichtung auf das Eigene, „Nationalspezifische“.

Die gegen interne Widerstände durchgesetzte Vereinigung des Sorbischen Volkstheaters mit dem seit 1796 bestehenden Stadttheater Bautzen steigerte ab 1963 die künstlerischen und technischen Möglichkeiten des nunmehr zweisprachigen Ensembles am Deutsch-Sorbischen Volkstheater. Die Sorben erhielten nun Zugang zu einem festen, voll ausgestatteten Haus am Bautzener Lauengraben, zu dem zusätzlich eine Kammerbühne sowie eine Puppenbühne gehörten. Zugleich musste das Deutsch-Sorbische Volkstheater seine spezifischen Wirkungschancen als Theater einer ethnischen Minderheit in der Kooperation mehrerer Sparten finden (Schauspiel, Musiktheater, Ballett, Puppentheater). Bei deutlicher Reduzierung der Spielorte sollten die Überlieferungen und Mythen einer authentischen Volkskultur im bikulturellen Kontext erlebbar werden. Eine Diskussion um die Anteile zwischen deutschen und sorbischen Produktionen (Verhältnis ca. 4 : 1) flammte mehrfach auf. Bald nach der Fusion, 1965 bzw. 1966, zeigte das zweisprachige Haus Jurij Pilks Singspiel „Smjertnica“ (Die Todesgöttin, 1901) und Korla Awgust Kocors komische Oper „Jakub a Kata“ (1871), zwei Hauptwerke ihres Genres bei den Sorben.

Szene aus dem Drama „W sćinje swěčki“ (Im Schatten der Kerze) von Jěwa-Marja Čornakec, 2009; Fotograf: Miroslaw Nowotny, Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

Szene aus dem Drama „Wopušćeny dom“ (Das leere Haus) von Carla Niewöhner, 2019; Fotograf: Miroslaw Nowotny, Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

Das Deutsch-Sorbische Volkstheater wurde vom Rat des Bezirkes Dresden – der zuständigen staatlichen Instanz – u. a. beauftragt, das klassische Erbe sowie die demokratischen und revolutionären Traditionen der deutschen und sorbischen Dramatik zu pflegen, aktuelle DDR-Stücke in beiden Arbeitssprachen einzustudieren und die Entwicklung neuer Bühnenwerke dramaturgisch zu begleiten. Die gering ausgeprägte sorbische Musikdramatik sollte den Zuschauern auch in Deutsch nahegebracht werden. Spezielle Aufmerksamkeit hatte der Literatur der osteuropäischen Länder zu gelten. Aus diesen Anforderungen ergaben sich für das Repertoire drei konstante Schwerpunkte, zwischen denen ein Gleichgewicht angestrebt wurde: 1. eigenes Erbe (einschließlich Musikschaffen), 2. zeitgenössische Dramatik sorbischer Autoren, 3. Übersetzungen aus anderen, vornehmlich slawischen Kulturen. Darüber hinaus sollten die Berufsschauspieler das dramatische Laienschaffen in beiden Lausitzen anleiten und fördern.

1975 eröffnete an der Bautzener Seminarstraße ein neues Großes Haus mit Bühne und Zuschauerraum (damals 460 Plätze), das – nach Schließung und Sprengung des Theatergebäudes in der historischen Schützenbastei am Ende der 1960er Jahre – an die Kammerbühne in der ehemaligen „Sozietät“ angebaut worden war. Die meisten sorbischsprachigen Inszenierungen wurden im Tourneebetrieb weiterhin auf dörflichen Spielstätten gezeigt. Seit 1974 wird in jedem Frühjahr ein Stück, meist eine Komödie, in Niedersorbisch für das Publikum im Raum Cottbus einstudiert. Ab den 1980er Jahren sollte pro Spielzeit ein zeitgenössisches Schauspiel (möglichst als Erstaufführung) in Obersorbisch inszeniert werden. Die wenigen Versuche eines ständigen sorbischen Kabaretts vor 1989 gingen von unabhängigen Gruppen aus (Studenten, junge Intelligenz). Nach der politischen Wende verlief die Auseinandersetzung am Theater weniger um die Inhalte als um die allgemeine Akzeptanz beim Publikum (ca. 30 % der Finanzierung der zweisprachigen Bühne übernahm ab 1992 die Stiftung für das sorbische Volk). 2003 wurde mit dem Bautzener Burgtheater eine zweite Spielstätte für kleinere Inszenierungen sowie das Puppentheater eingeweiht.

Premierenaufführung der Laientheatergruppe Bratrowstwo aus Wittichenau, 2012; Fotograf: Rafael Ledschbor

Das Berufsensemble hat zwischen 1948 und 2019 mehr als 400 sorbische Inszenierungen angeboten (hinzu kamen 41 sorbische Projekte des Puppentheaters). Von den über 50 sorbischsprachigen Textvorlagen, die nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstanden, wurden etwa 35 umgesetzt (einige danach auf Deutsch). Über 40 Stücke stammten aus dem eigenen Erbe, etwa 90 Dramentexte wurden aus Osteuropa, v. a. aus der tschechischen sowie aus anderen slawischen Literaturen, übersetzt. Aus Westeuropa kamen ca. 40, aus dem deutschsprachigen Raum ca. 60 Stücke zum Einsatz. Mehr als 90 zweisprachige Schauspieler waren seit 1948 insgesamt fest am Haus engagiert. Die Zahl der sorbischen Zuschauer bewegte sich zu Beginn des 21. Jh. zwischen 5 000 und 8 000 pro Jahr. In der evangelischen Oberlausitz und in der Niederlausitz wurde umso stärker von der vorhandenen Simultan-Übersetzungsanlage Gebrauch gemacht, je mehr die sorbische Sprachkompetenz an den Spielorten sank.

Professionelles Theater als Teil der Hochkultur wurde nach 1945 zu einem stabilen Faktor sorbischer nationaler Identität. Parallel dazu haben sich in wechselnder Zusammensetzung einige obersorbische Amateurgruppen langfristig behauptet (z. B. Bautzen, Crostwitz, Zerna-Rosenthal, Schönau-Cunnewitz, Wittichenau), seit der Wende auch in der Niederlausitz (Drachhausen, Cottbus).

Lit.: D. Scholze: Das Theater der Sorben, in: Die Sorben in Deutschland. Sieben Kapitel Kulturgeschichte, Hg. D. Scholze, Bautzen 1993; D. Scholze: Sorbisches Berufstheater in der DDR, in: Perspektiven sorbischer Literatur, Hg. W. Koschmal, Köln/​Weimar/​Wien 1993; J. Młynk/​D. Scholze: Stawizny serbskeho dźiwadła. 1862–2002, Bautzen 2003. M. Lorenz: Bautzener Theater-Geschichten, Berlin 2013.

Metadaten

Titel
Theater
Titel
Theater
Autor:in
Scholze, Dietrich
Autor:in
Scholze, Dietrich
Schlagwörter
Ballett; Berufstheater; Bühne; Deutsch; Dramatik; Intendant; Intendantin; Musiktheater; Sorbische Sprache(n); Schauspiel; Laientheater
Schlagwörter
Ballett; Berufstheater; Bühne; Deutsch; Dramatik; Intendant; Intendantin; Musiktheater; Sorbische Sprache(n); Schauspiel; Laientheater
Abstract

Bühnenkunst, die alle Formen szenischer Darstellung sowie der künstlerischen Kommunikation zwischen Darstellern und Publikum umfasst. Das Theater der Sorben verwendet sorbische originäre Vorlagen oder sorbische Übersetzungen; es entstand im Nachklang der nationalen Wiedergeburt.

Abstract

Bühnenkunst, die alle Formen szenischer Darstellung sowie der künstlerischen Kommunikation zwischen Darstellern und Publikum umfasst. Das Theater der Sorben verwendet sorbische originäre Vorlagen oder sorbische Übersetzungen; es entstand im Nachklang der nationalen Wiedergeburt.

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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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