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Minder­heiten­politik
von Ludwig Ela

Inhaltliche, prozessuale und institutionelle Regelung gesellschaftlicher Beziehungen im Hinblick auf nationale Minderheiten, hier mit Fokus auf die deutsch-sorbischen Beziehungen. Verschiedene Politikbereiche (→ Sprachenpolitik, Kultur- und Bildungspolitik, Rechtsordnung) sind minderheiten- bzw. nationalitätenpolitisch relevant. Minderheitenpolitik ist von Macht- und Interessenstrukturen geprägt und dient der Vermittlung zwischen den politischen Akteuren durch Konflikt und Konsens.

Die Interessen nationaler Minderheiten umfassen in einer demokratischen Ordnung das gemeinschaftliche Bestreben nach Gleichheit, Integration und Nichtdiskriminierung, nach Anerkennung, Schutz und Achtung sprachlicher und kultureller Besonderheiten, den Wunsch nach einer eigenen Identität und eigenen Gruppenbeziehungen. Minderheitenpolitik wird nicht zuletzt von den verfügbaren gesellschaftlichen Ressourcen bestimmt. Alle Akteure, Institutionen und Instrumentarien politischen Handelns (etwa Parteien, Medien, staatliche Institutionen, Gesetze; seitens der Minderheiten auch spezielle Minderheitenorganisationen, Minderheitenmedien usw.) können Träger von Minderheitenpolitik sein.

Jan Skala, bedeutender sorbischer Minderheitenpolitiker der Zwischenkriegszeit; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Grundsätzlich kann Minderheitenpolitik als Unterdrückung, Duldung oder Förderung nationaler Minderheiten betrieben werden. Seitens der Minderheiten kann sie (in Gestalt einer Nationalbewegung) auf Integration bei Wahrung sprachlicher, kultureller oder religiöser Spezifik sowie einer eigenen Identität abzielen. Sie kann aber auch irredentistische Ziele beinhalten (Abspaltung vom Staat, Anschluss an einen Staat gleicher Nationalität).

Die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jh. war geknüpft an die Fiktion vom Nationalstaat mit ethnisch homogener Bevölkerung. Mit den Staaten entstand Minderheitenpolitik als Instrumentarium zur Regulierung der zwischennationalen Beziehungen. Historisch bildeten sich zwei Grundrichtungen heraus, von denen Erstere bis in die jüngste Zeit dominierte: 1. Im Kampf um die politische und institutionelle Vorherrschaft setzte die Französische Revolution auf die Schaffung gesamtnationaler sprachlicher und kultureller Strukturen und einer ethnisch einheitlichen Nation. Dies war verbunden mit einer Politik der Assimilation der Minderheiten und der Unterdrückung ihrer Sprachen, Kulturen und Identitäten. 2. In der Verfassungsdebatte der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 (Paulskirchen-Verfassung) sah man die »nicht deutsch redenden Volksstämme« als gleichberechtigt an, und zwar bei Anspruch auf freie volkstümliche Entwicklung. Im Unterricht, im Kirchenwesen, in Verwaltung und Rechtspflege sollte sprachliche Gleichberechtigung gewährt werden. Das Scheitern der bürgerlich-demokratischen Revolution verhinderte, dass diese Vorstellungen in der Minderheitenpolitik des Deutschen Reiches ab 1871 verwirklicht wurden.

Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt die Minderheitenpolitik internationalen Rang. Es wurden zwischenstaatliche Minderheitenschutzabkommen vereinbart, die der Völkerbund überwachte. Nach 1945 wurde Minderheitenpolitik als eine innerstaatliche Angelegenheit betrachtet, der Minderheitenschutz spielte in internationalen Beziehungen zunächst nur eine geringe Rolle. Erst mit Beginn der 1990er Jahre wurde die internationale Dimension der nationalen Minderheiten erkannt (KSZE-Konferenz in Kopenhagen 1990) und 1992 in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (in der Bundesrepublik seit 1999 in Kraft), 1994 dann im Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten (in Deutschland seit 1998 rechtskräftig) völkerrechtlich verankert. Fördernde Minderheitenpolitik wird heute als Bestandteil einer Politik der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und insofern als Bereich der internationalen Zusammenarbeit verstanden. Sie soll darauf gerichtet sein, in allen Bereichen des sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen von nationalen Minderheiten und Mehrheiten herzustellen.

Die Minderheitenpolitik gegenüber den Sorben schwankte vor 1945 in Deutschland zwischen Duldung und Unterdrückung. Entsprechend dem kleindeutschen Weg zum Einheitsstaat von 1871 bestimmten nationalistische, »völkische« Ideologien die Politik im Reich. Verbunden war damit eine Minderheitenpolitik der Germanisierung, der Beschneidung bzw. Beseitigung von bestehenden Rechten in Schule und Kirche. Die sorbische nationale Bewegung versuchte unter Ausschöpfung bürgerlich-demokratischer Rechte, etwa der Versammlungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit, dem verstärkten Assimilationsdruck zu begegnen. Die Bemühungen um Entfaltung eines nationalen und kulturellen Lebens waren ständigen Angriffen antisorbisch und antislawisch gesinnter deutscher-nationalistischer Kräfte ausgesetzt.

Zeitschrift des Verbands nationaler Minderheiten Deutschlands, 1927; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Auch die Politik der Weimarer Republik war weiterhin von nationalistischen und repressiven Elementen bestimmt (Überwachung sorbischer Aktivitäten durch die Wendenabteilung). Forderungen von Minderheitenvereinigungen (ab 1924 im Verband der nationalen Minderheiten Deutschlands), Petitionen u. a. Initiativen für ein im Deutschen Reich geltendes positives Minderheitenrecht (besonders in der Schule) blieben ohne Erfolg. Die wichtigsten minderheitenpolitischen Repräsentanten der Sorben waren bis 1933 die im Wendischen Volksrat wirkenden sorbischen Organisationen Maćica Serbska, Domowina und Wendische Volkspartei. Während der NS-Zeit war die Politik gegenüber Minderheiten auf Gleichschaltung und rasche Assimilation ausgerichtet. Die sorbische nationale Bewegung war zunächst Repressionen ausgesetzt, 1937 kam es zum Verbot der Tätigkeit der Domowina und nahezu aller öffentlichen Aktivitäten.

Nach 1945 wurde in beiden Teilen Deutschlands die Wende zu einer fördernden Minderheitenpolitik eingeleitet. 1948 beschloss der Sächsische Landtag das Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung (→ Sorbengesetze); 1950 wurde es als Verordnung für Brandenburg übernommen. Im Artikel 11 der Verfassung der DDR wurde 1949 der slawischen Minderheit Förderung bei der Wahrnehmung sprachlicher und kultureller Rechte zugesichert. Es erfolgte eine umfassende staatliche Institutionalisierung des sorbischen Kulturlebens (Sorbisches Institut für Lehrerbildung, Sorbisches Institut, Institut für Sorabistik, Deutsch-Sorbisches Volkstheater, Sorbisches National-Ensemble, sorbischer Rundfunk etc.). In Sachsen wurde 1948 das Sorbische Kultur- und Volksbildungsamt eingerichtet, in der DDR-Zeit bestanden in drei Ministerien (Inneres, Kultur, Volksbildung) Abteilungen bzw. Sektoren für Sorbenfragen. Der Umsetzung von Minderheitenpolitik diente ein ganzes System von Rechtsvorschriften. Die sorbische Sprache sollte gleichgestellte regionale Amtssprache sein, vielfältige Maßnahmen der Zweisprachigkeit im öffentlichen Leben wurden verwirklicht.

Die Minderheitenpolitik in der DDR wurde als »marxistisch-leninistische Nationalitätenpolitik« deklariert und stand unter politischer und ideologischer Anleitung der SED. Erklärtes Ziel war die vollständige Einbeziehung der sorbischen Bevölkerung in den sozialistischen Aufbau und den »antiimperialistischen Klassenkampf« sowie die Vermittlung der marxistischen Ideologie. Dem sollte letztlich auch die Förderung der sorbischen Sprache und Kultur dienen. Als Interessenvertreterin der Sorben schloss sich die Domowina als einzige zugelassene Organisation diesen Vorgaben an.

Die zunächst nur duldende Minderheitenpolitik der Bundesrepublik nach 1945 beruhte auf dem im Grundgesetz verankerten Verbot der Diskriminierung wegen Sprache oder Herkunft. 1955 wurde mit dem Königreich Dänemark eine Übereinkunft über die wechselseitige Förderung der Dänen in Deutschland und der Deutschen in Dänemark getroffen (Bonn-Kopenhagener Erklärungen). Eine nennenswerte Unterstützung der friesischen Volksgruppe und der Sinti und Roma begann erst in den 1980er Jahren. Im Einigungsvertrag wurden 1990 Grundsätze für die Minderheitenpolitik gegenüber den Sorben in einer Protokollnotiz festgehalten.

Forderungen nach Verankerung des Minderheitenschutzes im Grundgesetz fanden 1994 nicht die erforderliche parlamentarische Mehrheit. Inzwischen gelten die o. g. europäischen Abkommen als Bundesrecht. Der Bund ist für die Sorben minderheitenpolitisch aktiv durch Beteiligung an der Stiftung für das sorbische Volk, durch einen beim Bundesministerium des Innern tätigen Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, einen Beratenden Ausschuss für Fragen des Sorbischen Volkes beim Bundesministerium des Innern sowie einen Kontaktausschuss bei der Bundesregierung. Ein Sekretariat der vier autochthonen Minderheiten beim Bundesministerium des Innern unterstützt die Wahrnehmung ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber Bundesregierung und Bundestag.

In den Landesverfassungen Brandenburgs und Sachsens ist für die Sorben das Recht gesichert, ihre Identität zu bewahren sowie ihre Kultur und Sprache zu pflegen und weiterzuentwickeln. Die wesentlichen rechtlichen Regelungen betreffen das Schulwesen und Vorschuleinrichtungen, den Gebrauch der sorbischen Sprache bei Behörden, die Anbringung von zweisprachigen topografischen und sonstigen amtlichen Beschriftungen, die Förderung sorbischer Medien, Institutionen und Organisationen sowie Besonderheiten in der Kommunalgesetzgebung. Beide Landtage und Landesregierungen werden von Räten für sorbische Angelegenheiten beraten. In den neuen Minderheitengesetzen der Länder (Brandenburg 1994, geändert 2014, Sachsen 1999) sind diese Rechte zusammengefasst, Details werden in weiteren Rechtsvorschriften berücksichtigt. Zu den grundlegenden Aspekten aktueller Minderheitenpolitik gegenüber den Sorben gehören: 1. Schutz und Förderung des sorbischen Volkes als Teil der Verwirklichung der Menschenrechte; 2. Bekenntnisfreiheit der Zugehörigkeit zum sorbischen Volk; 3. Recht auf öffentlichen Gebrauch der beiden sorbischen Sprachen, ohne dass daraus Nachteile entstehen; 4. Bewahrung des bikulturellen Charakters der Region; 5. die Verpflichtung zur Förderung von Bildung, Kultur, Medien und Wissenschaft.

Lit.: Minderheiten – Rechte und Realitäten/​Mjeńšiny – prawa a realita, Hg. L. Elle, Lětopis Sonderheft, Bautzen 1995; Th. Pastor: Die rechtliche Stellung der Sorben in Deutschland, Bautzen 1997; Zwischen Zwang und Beistand. Deutsche Politik gegenüber den Sorben vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Hg. E. Pech/​D. Scholze, Bautzen 2003; L. Elle: Das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten und die Minderheitenpolitik in der Lausitz, Bautzen 2005.

Metadaten

Titel
Minder­heiten­politik
Titel
Minder­heiten­politik
Autor:in
Ela, Ludwig
Autor:in
Ela, Ludwig
Schlagwörter
Kulturpolitik; Bildungspolitik; Minderheit; Rechtsordnung; Sprachenpolitik
Schlagwörter
Kulturpolitik; Bildungspolitik; Minderheit; Rechtsordnung; Sprachenpolitik
Abstract

Inhaltliche, prozessuale und institutionelle Regelung gesellschaftlicher Beziehungen im Hinblick auf nationale Minderheiten, hier mit Fokus auf die deutsch-sorbischen Beziehungen. Verschiedene Politikbereiche (Sprachenpolitik, Kultur- und Bildungspolitik, Rechtsordnung) sind minderheiten- bzw. nationalitätenpolitisch relevant.

Abstract

Inhaltliche, prozessuale und institutionelle Regelung gesellschaftlicher Beziehungen im Hinblick auf nationale Minderheiten, hier mit Fokus auf die deutsch-sorbischen Beziehungen. Verschiedene Politikbereiche (Sprachenpolitik, Kultur- und Bildungspolitik, Rechtsordnung) sind minderheiten- bzw. nationalitätenpolitisch relevant.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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