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Kirchenlied
von Jan Malink

Einstimmiges, strophisch verfasstes Lied, das im Gottesdienst von der Gemeinde gesungen wird. Die sorbischen Bezeichnungen für das Kirchenlied (obersorb. kěrluš, niedersorb. kjarliž) dürften von dem griechischen Bittruf Kyrie eleison herrühren. Das Wort, für das eine vorreformatorische Entstehung angenommen wird, hat keine Analogien in den anderen Slawinen. Christliche Legendenlieder werden obersorb. als pokěrluški, niedersorb. als bamžycki (Papstlieder) bezeichnet.

Thietmar von Merseburg erwähnte den Kirchengesang bei den Elbslawen erstmals im Zusammenhang mit Bischof Boso (968–970), der ihnen das Singen des Kyrieeleison beibringen wollte, diese jedoch hätten den unbekannten Text in „ukrivolsa“ (im Busch die Erle) verballhornt. Eine seit 1945 verschollene Magdeburger Psalmenhandschrift aus dem 12. Jh. enthielt sorbische Begriffe, doch kann daraus kaum auf sorbischen Psalmengesang geschlossen werden. Auch der Fund eines Blattes aus einem südslawischen Gesangbuch mit Marienliedern aus dem 14./15. Jh. im Niederlausitzer Goßmar bei Sonnewalde berechtigt nicht zum Schluss, in der Lausitz sei die kirchenslawische Liturgie benutzt worden. Denkbar erscheint, dass in den Gottesdiensten mit sorbischer Predigt Antifonen und Leisen in Sorbisch gesungen wurden, doch sind aus der Zeit bis 1500 keine sorbischen Kirchenlieder erhalten.

Niedersorbisches Kirchenlied aus dem Gesangbuch von Albin Moller, 1574; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

In der Reformationszeit wurden 90 % der Sorben lutherisch, etwa 10 % – um das Kloster St. Marienstern (Panschwitz-Kuckau) und das Domstift in Bautzen – blieben katholisch (→ Reformation). Der hohe Stellenwert der Muttersprache in den protestantischen Kirchen beförderte die Pflege des Kirchenlieds. Noch zu Luthers Lebzeiten begannen einige sorbische Pfarrer – insbesondere in der Niederlausitz – das reformatorische Liedgut zu übersetzen, wobei zunächst nur Interlinearübertragungen von geringem sprachlichem und literarischem Niveau gelangen. Für den Gemeindegebrauch wurden handschriftliche Sammlungen angelegt. Anfangs dominierten die Festlieder („Nun komm, der Heiden Heiland“, „Christ lag in Todesbanden“), Lehrlieder (Luthers Glaubenslied „Wir glauben all an einen Gott“, „Es ist das Heil uns kommen her“) sowie Trost- und Sterbelieder („Mitten wir im Leben sind“). Choräle der Böhmischen Brüder wie „Christus, der uns selig macht“ wurden nicht aus dem Tschechischen, sondern nach der deutschen Fassung übersetzt. Nur für das Lied „Wjeselmy so wšitcy wěrni“, für das keine deutsche Vorlage gefunden wurde, trifft zu, dass es „eines von den allerbekanntesten wendischen Osterliedern und vermutlich der Böhmischen Brüder ist“ (Vorrede in „Das neue vermehrte Deutsche und Wendische Gesangbuch“ von 1719). Die niedersorbischen Kirchenlieder wurden von Albin Moller gesammelt und 1574 herausgegeben (→ Buchdruck), ohne dass diese Edition die handschriftlichen Liedsammlungen verdrängen konnte. Sie enthält auch eine sorbisch-lateinische Gottesdienstordnung mit Noten. Eine Psalmenübersetzung aus der zweiten Hälfte des 16. Jh., der sog. Wolfenbütteler Psalter, gehört zu den frühen Bibelmanuskripten. Die katholischen Sorben rezipierten bereits im 16. Jh. die lutherischen Kirchenlieder. Im Bereich des Bautzener Domstifts, dessen Dekan Johann Leisentrit 1567 ein deutsches Gesangbuch herausgab, entstand 1593 eine handschriftliche Sammlung von zehn sorbischen Kirchenliedern, die alle reformatorischen Ursprungs waren, wobei bestimmte Strophen weggelassen wurden.

Im 17. Jh. wuchsen in den katholischen und evangelischen Gemeinden die Liedsammlungen an, in die auch aktuelle Choräle Aufnahme fanden, etwa Martin Rinckarts „Nun danket alle Gott“ und Vulpius’ „Christus, der ist mein Leben“. Domdekan Jurij Hawštyn Swětlik ließ 1690 und 1696 die ersten obersorbischen Kirchenlieder drucken, die noch auf evangelische Vorlagen zurückgingen. Auf Anordnung der Oberlausitzer Stände wurde durch eine Kommission sorbischer Geistlicher 1696 die obersorbische evangelische Agende mit Luthers Litanei herausgegeben. 1710 wurde das einheitliche Gesangbuch für die evangelischen Obersorben erstellt, worin die wesentlichen Kirchenlieder des 16. und 17. Jh. zusammengefasst waren. Die Texte wurden gründlich überarbeitet, um eine durchgehende Sangbarkeit zu erreichen. Mit der amtlichen Einführung des Gesangbuchs endete in der evangelischen Oberlausitz die Epoche der handschriftlichen Liedsammlungen. (Ein Indiz für die hohe Qualität der Edition ist die Übernahme von über 70 der insgesamt 190 Choräle in das evangelische obersorbische Gesangbuch von 2010.) Bis 1762 wurde das Gesangbuch auf 631 Nummern erweitert, wobei 1730 bis 1741 viele frühpietistische Lieder, übersetzt von Jan Pjech, aufgenommen wurden. Der Versuch Hadam Bohuchwał Šěrachs, den Einfluss des Pietismus zurückzudrängen, endete 1760 mit einem Erlass der Landstände, dass das Gesangbuch nicht mehr geändert werden dürfe. Dadurch wurde das Liedgut der Aufklärung und der Romantik verspätet und zögerlich rezipiert.

In der Niederlausitz lief die Periode der handschriftlichen Sammlungen aus, nachdem 1749 das sog. Will’sche Gesangbuch mit 209 niedersorbischen Kirchenliedern herauskam. Im 18. Jh. wurde dessen Bestand auf 566 Lieder vermehrt. Allerdings fehlte hier die kirchenamtliche Einführung, sodass weitere Gesangbücher erschienen (von Johann Gottlieb Hauptmann, Johann Michael Ertel u. a.).

Sorbische Gesangbücher; Fotografin: Hana Schön, Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Für die katholischen Sorben gab Michał Jan Wałda 1787 ein Gesangbuch mit 659 Nummern in Druck, ergänzend verfasste er ein Melodiebuch. Grundlage für seine Arbeit waren das katholische Dresdener und das schlesische Gesangbuch, daneben übernahm er etwa 80 Lieder aus dem evangelischen obersorbischen Gesangbuch. Zum Teil stellte Wałda ältere und neuere Versionen eines Chorals nebeneinander (z. B. Luthers „Vom Himmel hoch“). Die konfessionelle Eigenständigkeit zeigt sich besonders im Abschnitt der Heiligen- und Marienlieder. Im Vorwort hob Wałda die Anstrengungen der evangelischen Sorben um die Förderung des Gemeindegesangs bei der Jugend hervor. Zur Praxis merkte er an, dass häufig der Takt nicht eingehalten würde. Negativ bewertete er den ungeordneten Gesang beim Einzug in die Wallfahrtskirche Rosenthal. Einige katholische Gemeinden im Klosterbereich hielten sich auch später noch an eigene Editionen.

Bis Ende des 18. Jh. erreichten die drei Varianten, die evangelische in Ober- und Niedersorbisch sowie die katholische Tradition, jeweils einen Bestand von mehreren Hundert Chorälen. Diese waren mit wenigen Ausnahmen Übersetzungen aus dem Deutschen. Zur Frage der originalen sorbischen Melodien liegen keine aussagefähigen Untersuchungen vor. Für einige Choräle aus der Niederlausitz und der katholischen Oberlausitz können autochthone Melodien vermutet werden. Bei den evangelischen Obersorben dürfte die amtliche Einführung des Gesangbuchs von 1710 die Schaffung eigener Melodien beendet haben.

Eingeübt wurden die Kirchenlieder in dörflichen Gesangsgesellschaften unter der Leitung einer „kantorka“. In den Spinnstuben wurden während der Fastenzeit ausschließlich Kirchenlieder geübt. Gesungen wurden die Kirchenlieder nicht nur im Gottesdienst, sondern auch außerhalb der Kirche, z. B. zur Passions- und Osterzeit (→ Osterbräuche) sowie örtlich verschieden auch an Sonntagen von Himmelfahrt bis Michaelis. Weitere Anlässe waren Hochzeiten, die sog. stillen Abende unmittelbar nach einem Todesfall in den Trauerhäusern, (obersorb. pusty wječor), Beerdigungen sowie die Brand- und Bitttage. In den evangelischen Gebieten wurden Kirchenlieder auch bei den Erbauungsstunden in den Häusern gesungen (→ Brüdergemeine, → Pietismus), in der katholischen Region bei Wallfahrten und Prozessionen.

Der bedeutendste Verfasser sorbischer evangelischer Kirchenlieder war Jan Kilian mit etwa 70 Übersetzungen (u. a. Paul Gerhardts „Geh aus, mein Herz“, Meyfarts „Jerusalem“) und über 40 eigenen Chorälen, für die er zehn originale Melodien schuf. Nach reformierten Vorbildern edierte Julius Eduard Wjelan eine Sammlung von 150 Psalmliedern, die aber nicht rezipiert wurden. In der evangelischen Oberlausitz entstanden im 19. Jh. zahlreiche eigenständige Kirchenlieder oder Gedichte in Kirchenliedart, wovon zahlreiche Buchausgaben zeugen. Das obersorbische evangelische Gesangbuch wurde um immer neue Anhänge erweitert, ohne dass eine kritische Sichtung der vorherigen Ausgaben erfolgte. Inhaltlich wurde das deutsche Kirchenlied des 19. Jh. rezipiert („Stille Nacht“, „So nimm denn meine Hände“). Die im 19. Jh. entstandene sorbische Volksliteratur (Pětr Młóńk, Jan Hajnca) orientierte sich in Versmaß und Duktus stark am evangelischen Choral. In der Niederlausitz wurden die Texte 1882 unter Mitwirkung von Mato Kosyk einer Revision unterzogen, was u. a. zu Rezeptionsproblemen führte. Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. entstanden in vielen Gemeinden sorbische Kirchenchöre, die den mehrstimmigen Choralgesang pflegten.

CD mit niedersorbischen Kirchenliedern, hrsg. von der Stiftung für das sorbische Volk 2002

Im 20. Jh. stagnierte die Entwicklung des niedersorbischen Kirchenlieds bis zur Wiederbelebung der muttersprachlichen Gottesdienste im Jahr 1987. 2007 konnte ein neues Gesangbuch („Duchowne kjarliže“, Geistliche Kirchenlieder) gedruckt werden. Neu aufgenommen wurden neben einigen Originalen ältere Erweckungslieder und zeitgenössisches deutsches Liedgut (Übertragungen von Juro Frahnow, Měto Pernak u. a.).

Für das 1930 erschienene Gesangbuch der evangelischen Obersorben wurden mehrere Choräle neu übersetzt, z. T. auch ältere („Macht hoch die Tür“, „Lobe den Herren“), 1997 wurde eine modernisierte Gottesdienstordnung herausgegeben. Das Gesangbuch von 2010 orientiert sich am „Evangelischen Gesangbuch“ von 1994, enthält aber auch tschechische (von Miloš Rejchrt und Luděk Rejchrt) und original sorbische Kirchenlieder (von Jan Kilian, Siegfried Albert, Günter Schwarze, Christfried Baumann).

Michał Hórnik hatte 1888 mit dem „Pobožny wosadnik“ (Frommes Gebets- und Gesangbuch) ein einheitliches Gesangbuch für den katholischen Gottesdienst geschaffen. Das originale Liedgut wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. von Bjarnat Krawc und Jan Symank erweitert. Michał Nawka verfasste 1940 für die Wallfahrten nach Rosenthal das bekannte Lied „Miłosćiwa, zhladuj na nas“ (Barmherzige, schau auf uns). Er revidierte 1950 die Sprache des „Wosadnik“ (Gebets- und Gesangbuch) und bereicherte ihn mit eigenen Liedern und Übersetzungen. Viele Melodien sind dort nicht nach der Originalversion wiedergegeben, sondern in adaptierten Fassungen. Daneben bestehen gemeindliche Melodietraditionen. Nawkas Arbeit setzten in der zweiten Hälfte des 20. Jh. Feliks Hajna, Chrysta Meškankowa, Anton Nawka, Stanisław Nawka, Měrćin Salowski u. a. fort, wobei sie sich gern an polnischen Vorbildern orientierten (z. B. Übertragung von „Boże, coś Polskę“ als „Božo, ty Serbow wodźił sy a škitał“, Herr, du hast die Sorben begleitet und geschützt). Nachdem das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) das Sorbische zur Liturgiesprache erhoben hatte, wurde ein umfangreiches sorbisches Missale herausgegeben.

Lit.: K. Konrád: Słowo wo hymnologiji łužiskich Serbow, in: Časopis Maćicy Serbskeje 42 (1889); J. Symank: Serbski cyrkwinski spěw, in: Časopis Maćicy Serbskeje 66 (1913); M. Handrik: Wjesne spěwarki, in: Časopis Maćicy Serbskeje 55 (1902); K. Sygusch: Zur Geschichte des sorbischen Gesangbuchs, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 1977; S. Wölkowa: Gregoriusowe kěrlušowe knižki a jich pozicija mjez najstaršimi hornjoserbskimi rěčnymi pomnikami, Budyšin 2007; R. Richter: K historiji serbskich spiwarskich knigłow w Dolnej Łužycy, in: Duchowne kjarliže, Budyšyn 2007 (mit Chronologie zur niedersorbischen Hymnologie).

Metadaten

Titel
Kirchenlied
Titel
Kirchenlied
Autor:in
Malink, Jan
Autor:in
Malink, Jan
Schlagwörter
evangelische Sorben; katholische Sorben; Legendenlied; Gesangbuch; Reformation; Brüdergemeine; Pietismus; Lied; Gesang; Choral; Musik
Schlagwörter
evangelische Sorben; katholische Sorben; Legendenlied; Gesangbuch; Reformation; Brüdergemeine; Pietismus; Lied; Gesang; Choral; Musik
Abstract

Einstimmiges, strophisch verfasstes Lied, das im Gottesdienst von der Gemeinde gesungen wird. Die sorbischen Bezeichnungen für das Kirchenlied (obersorb. kěrluš, niedersorb. kjarliž) dürften von dem griechischen Bittruf Kyrie eleison herrühren.

Abstract

Einstimmiges, strophisch verfasstes Lied, das im Gottesdienst von der Gemeinde gesungen wird. Die sorbischen Bezeichnungen für das Kirchenlied (obersorb. kěrluš, niedersorb. kjarliž) dürften von dem griechischen Bittruf Kyrie eleison herrühren.

Enthalten in Sammlung
Enthalten in Sammlung
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
Im Sorabicon 1.0 zu finden unter

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