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Sprichwort
von Susanne Hose

Allgemein bekannter, fest geprägter Satz, der eine partiell gültige Lebensweisheit kurz und prägnant wiedergibt und sich durch eine originelle sprachliche Form vom übrigen Text abhebt. Das Sprichwort wird anonym und als sprachliches Klischee teils mündlich über Generationen, teils schriftlich durch die Literatur überliefert. Im Unterschied zu anderen Redewendungen (→ Phraseologie) ist das Sprichwort ein abgeschlossener Text mit logischer Aussage, während sprichwörtliche Redensarten erst in einen Satz eingebaut werden müssen. So entspricht obersorb. na račej wopuši sedźeć wörtlich ,auf des Krebses Schwanz sitzen’, übertragen ,auf den Hund kommen’, erst einer vollständigen Aussage, wenn man es mit einem Subjekt in Verbindung bringt (z. B. obersorb. Brojak na račej wopuši sedźi ,Der Verschwender sitzt auf des Krebses Schwanz’). Die sorbischen Begriffe für Sprichwort, obersorb. přisłowo und niedersorb. pśisłowo, erscheinen erstmals in den Bibelübersetzungen und sind Lehnübertragungen von lateinisch proverbium. Die Bezeichnungen für sprichwörtliche Redensart, obersorb. přisłowne prajidmo, niedersorb. pśisłowne grono, rühren von obersorb. prajić bzw. niedersorb. groniś ,sagen’, her.

Populäre Sprichwörtersammlungen, Domowina-Verlag 1978, 1980

Sprichwörter haben nach Inhalt und Form eine anerkannte überlieferte Fassung, die Varianten zulässt. Zu den produktivsten sprachlichen Formeln im sorbischen Sprichwortgut zählen:

Anderes A, anderes B niedersorb. Druga wjas, drugi pjas ,Anderes Dorf, anderer Hund’

Wie A, so B obersorb. Kajkiž ptačik, tajke hrónčko ,Wie der Vogel, so das Lied’

Wenn/​Wo A, dann/​dort B niedersorb. Gaby kóza dlejšu wopuš měła, by luźam wócy wubiła ,Wenn die Ziege einen längeren Schwanz hätte, dann würde sie den Leuten die Augen ausschlagen’,

obersorb. Hdźež kury spěwaja, woněmi kapon ,Wo die Hühner krähen, verstummt der Hahn’

Jedes A hat/​lobt sein B niedersorb. Kuždy cas ma swóje nałogi ,Jede Zeit hat ihre Sitten’

Lieber A als B niedersorb. Lubjej bósy ako w póžyconych crjejach ,Lieber barfuß als in geborgten Schuhen’

Je A, desto B obersorb. Čim wjetši štom, ćim bliši błysk ,Je höher der Baum, desto näher der Blitz’

Sprichwörter bedienen sich vielfältiger Mittel der Verssprache, was ihre Einprägsamkeit fördert und sie stilistisch heraushebt. Im Sorbischen überwiegen zweigliedrige Sprichwörter (z. B. obersorb. Wulka robota, małe twarožki ,Große Fron, kleiner Käse’; niedersorb. Gaž guba mjelcy, ma kśebjat měr ,Wenn der Mund schweigt, hat der Rücken Frieden’). Auffallend ist der relativ geringe Anteil von Sprichwörtern in gereimter Form. Wo Reime auftreten, verstärken sie den Rhythmus und betonen dem Sinn nach bedeutsame Wörter (z. B. obersorb. Ćichi spar je Boži dar ,Ein ruhiger Schlaf ist eine Gabe Gottes’; niedersorb. Gerc zagrajo, towzynt ból zažyjo ,Der Musikant stimmt an, tausend Gebrechen heilen’). Da der Wortakzent im Sorbischen meist auf der ersten Silbe liegt, sind die fallenden Versmaße Daktylus und Trochäus vorherrschend.

Sprichwörtersammlung von Jakub Buk, 1862; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Für die Volkssprache typische sprachliche Bilder spiegeln die Umwelt und die Gewohnheiten der Sorben im ausgehenden 18. und im 19. Jh. Sie zeugen von der genauen Beobachtungsgabe und von der Fähigkeit, treffende Vergleiche zu ziehen, von der Fantasie und dem urwüchsigen Humor ihrer Schöpfer, die meist aus dem bäuerlichen Milieu stammten. Die allegorischen Bilder sind anschaulich und verständlich (z. B. obersorb. Mało róži, połno ćerni ,Wenig Rose, viele Dornen’; niedersorb. Derjony pjas kjawcy ,Der getroffene Hund bellt’). Allerdings erklärt sich der übertragene Sinn häufig erst aus der konkreten Situation, auf die sich das Sprichwort bezieht (z. B. obersorb. Hdyž je juška jara słódka, da so bórze wutunka ,Ist die Tunke sehr süß, wird sie schnell ausgetunkt’, d. h. allzu „süße“ Freundschaften haben ein schnelles Ende; niedersorb. Prozne sudy nejwěcej zukuju ,Leere Fässer klingen am meisten’, d. h. je dümmer einer ist, desto lauter macht er auf sich aufmerksam). Mitunter ist nicht das gesamte Sprichwort im übertragenen Sinn zu verstehen, sondern nur eine Wendung darin (z. B. obersorb. Maš-li so jako w dźećelku zajac, njezabudź hłódnych ,Lebst du wie der Hase im Klee’ = wie die Made im Speck ,vergiss die Hungrigen nicht’). Viele Sprichwörter kommen ohne Metapher aus (z. B. obersorb. Lutuj, doniž maš ,Spare, solange du hast’). Für die sorbische Sprichwörter spezifisch sind Personennamen zur Bezeichnung bestimmter Eigenschaften, oftmals ganzer Charaktertypen (z. B. chromy Pětr ,der lahme Peter’, pyšna Wórta ,die eitle Wórta’, zaspany Mots ,der verschlafene Mots’ oder Njerodźic Kašpor ,Liederlichs Kasper’). Überhaupt ist die Personifikation einzelner Charaktere und Gegenstände ein beliebtes Mittel der bildlichen Darstellung (z. B. obersorb. Młoda lubosć pře wšě płoty łazy ,Junge Liebe steigt über alle Zäune’; niedersorb. Lěto ma dłujki pysk ,Das Jahr hat einen langen Schnabel’).

Vergleicht man das sorbische Sprichwortgut mit dem anderer europäischer Völker, so ergeben sich zahlreiche Parallelen. Die Internationalismen gehen auf ein schon seit dem Mittelalter in Europa populäres Gemeingut zurück, das die Verständigung mit den die Lausitz durchwandernden Händlern, Handwerkern, Wandermönchen, Spielleuten bzw. unter Söldnern in den ethnisch gemischten Heeren erleichterte. Die Verbreitung der in vielen Sprachen bekannten Sprichwörter funktionierte bei den Sorben v. a. durch Weitersagen, nicht aber durch Übersetzung der klassischen Literatur. Die schriftliche Überlieferung setzte hier erst mit dem Druck der Bibel und der Verbreitung religiöser Lehrtexte im 18. Jh. ein. Aus der Bibel sind besonders viele Sprichwörter noch heute geläufig (z. B. obersorb. Štož syješ, to žnjeješ = Was man sät, das erntet man, niedersorb. Chtož smołu pśimjejo, se z njeju wumažo = Wer Pech anfasst, besudelt sich). Von den griechischen und lateinischen Klassikern hingegen haben sich im Sorbischen lediglich die Formeln durchgesetzt, die dann allerdings produktiv mit neuen Inhalten ausgefüllt wurden. So hat z. B. das lateinische Multum clamoris, parum lanae = Viel Geschrei und wenig Wolle zur Variantenbildung angeregt (obersorb. Wulki dakot a drobne jejko ,Großes Gegacker und ein winziges Ei’; obersorb. Wjele pluwow a mało zorna ,Viel Spreu und wenig Korn’).

In vielen Fällen beziehen Sprichwörter einander widersprechende Positionen: obersorb. Štož dźensa hotowe, jutře njemórči ,Was heute fertig ist, brummt morgen nicht mehr’ mahnt zur Eile, während Bóle chwataš, bóle šmjataš ,Je mehr du eilst, desto mehr bringst du durcheinander’ gerade davor warnt. Sprichwörter klingen vertraut und überzeugend; sie wirken belehrend und autoritär, da sie eine immer wieder bestätigte Erfahrung wiederholen. Daher dienten Sprichwörter seit jeher zur Erziehung in der Familie, in Schule und Kirche (z. B. niedersorb. Wótśejšy pšut, lubše jo góle ,Je schärfer die Rute, desto lieber das Kind’; obersorb. Hotowe dźěło, witany swjatok ,Fertige Arbeit, willkommener Feierabend’). Einige Sprichwörter zeugen von ihrer einstigen Funktion als Rechtsspruch (z. B. niedersorb. Nuza jo bźez kazni = Not hat kein Gebot, regelt die Straffreiheit bei Mundraub, oder obersorb. Prózdny dyrbi rumować ,Der Leere muss weichen’, d. h. derjenige, der weniger geladen bzw. zu tragen hat, muss Platz machen).

Sprichwörterlexikon von Susanne Hose, Lusatia Verlag 1996

Die ersten Sammlungen entstanden im 17. und 18. Jh., als Sprichwörter wegen ihres lehrhaften Charakters im Sinne einer „alten Weisheit“ benutzt wurden. Dies trat besonders bei Handroš Tara zutage, der im Kapitel „Das Traubüchlein“ seines Katechismus „Enchiridion Vandalicum“ (1610) seinen Worten mittels Sprichwörter mehr Gewicht verlieh. Ansonsten wurden Sprichwörter als sprachliche Formeln in Wörterbüchern und Grammatiken angeführt, z. B. in Johann Gottlieb Hauptmanns „Niederlausitzischer Wendischer Grammatica“ (1761), oder erschienen in persönlichen Niederschriften, die das zunehmende Interesse an der Volkssprache ab Ende des 18. Jh. bekundeten. Zu einer intensiven Sammeltätigkeit kam es in der ersten Hälfte des 19. Jh. unter den sorbischen Studenten an den Universitäten in Breslau, Prag und v. a. bei der Wendischen Predigergesellschaft in Leipzig. Der katholische Pfarrer Jakub Buk war in den 1850er Jahren der Erste, der die bis dahin in obersorbischen Zeitungen, Zeitschriften und Kalendern verstreuten Sprichwörter zusammentrug, systematisierte und veröffentlichte („1 000 serbskich přisłowow a přisłownych prajidmow“,1862, 1 000 sorbische Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten). Im niedersorbischen Sprachraum zeichneten besonders der Papitzer Lehrer Hendrich Jordan und der Dichter Mato Kosyk Sprichwörter auf, in der Schleifer Region Pfarrer Matej Handrik. Die Redakteure des „Bramborski Casnik“ Kito Šwjela und Bogumił Šwjela regten zur weiteren Suche und Veröffentlichung in ihrer Zeitung an. Als bester Kenner des obersorbischen Sprichwortguts erwies sich Jan Wjela-Radyserb. Seine Sammlung „Přisłowa a přisłowne hrónčka a wusłowa Hornjołužiskich Serbow“ (Sprichwörter und sprichwörtliche Sprüche und Redensarten, 1902; Neubearbeitung von Gerhard Wirth 1997) zählt mehr als 9 000 Einträge und enthält neben Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten auch Bauern- und Wetterregeln, Kinderreime, religiöse Lehrsätze und Aphorismen. Indem er alles aufschrieb, was ihm sprichwörtlich, sprachlich reizvoll oder moralisch sinnvoll erschien, hinterließ er ein Kompendium authentischer Aussagen von Zeitzeugen am Ende des 19. Jh., welches das von Kirche und Schule, v. a. aber von den Alltagserfahrungen geprägte Weltbild der in und um Bautzen lebenden Sorben widerspiegelt. Regeln für gutes Benehmen (Njezmyta ruka za blido njesmě ,Die ungewaschene Hand darf nicht an den Tisch’) stehen neben praktischen Arbeitsanweisungen (Mlokowe sudobja maja so z kopřiwu parić ,Milchbottiche müssen mit Brennnesseln gebrüht werden’), Vorurteile gegenüber Fremden (Žid wobrězuje dźěći a złotki ,Der Jude beschneidet Kinder und Goldstücke’) neben Gedanken zum Zeitgeschehen (Saksam je ze škodu, hdyž jich wjerch wo Pólsku jězdźi ,Den Sachsen ist’s zum Schaden, wenn ihr Fürst um Polen reitet’). Solche nichtsprichwörtlichen Aussagen wurden für das „Sorbische Sprichwörterlexikon“ (1996) aussortiert. Dieses folgt Kriterien der kontrastiven Erforschung europäischer Sprichwörter und würdigt die seit den 1960er Jahren von Pawoł Nedo und Izolda Gardoš unternommenen Untersuchungen am sorbischen Sprichwortgut.

Lit.: L. Röhrich/​W. Mieder: Sprichwort, Stuttgart 1977; S. Hose: Sprüche klopfen. Sprichwörter im Kommunikationsprozess, in: Proverbium 17 (2000).

Metadaten

Titel
Sprichwort
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Sprichwort
Autor:in
Hose, Susanne
Autor:in
Hose, Susanne
Schlagwörter
Redensart; Literatur; Phraseologie; Parömiologie; Volkssprache; Metapher
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Redensart; Literatur; Phraseologie; Parömiologie; Volkssprache; Metapher
Abstract

Allgemein bekannter, fest geprägter Satz, der eine partiell gültige Lebensweisheit kurz und prägnant wiedergibt und sich durch eine originelle sprachliche Form vom übrigen Text abhebt.

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Allgemein bekannter, fest geprägter Satz, der eine partiell gültige Lebensweisheit kurz und prägnant wiedergibt und sich durch eine originelle sprachliche Form vom übrigen Text abhebt.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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