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Wortbildung
von Anja Pohončowa

1. Bildung von Wörtern durch Verbindung von Wurzelmorphemen mit anderen Wortstämmen oder Affixen nach bestimmten Modellen zwecks Wortschatzerweiterung, -differenzierung oder -präzisierung.

2. Wortbildungslehre; d. h. zwischen Lexikologie, Semasiologie und Grammatik einzuordnende Lehre von den Grundsätzen und Verfahren der Wortbildung (siehe 1.).

Zu 1.: Die Wortbildung ist neben der lexikalischen Entlehnung eine der wichtigsten Quellen für den Ausbau des Wortschatzes. Sie ist abzugrenzen einerseits von der Flexion (Bildung von Wortformen), weshalb auch zwischen Wortbildungsmorphemen (Affix, das an einem Wortbildungsprozess beteiligt ist) und Flexionsmorphemen (Affix, das eine flektierte Form bildet) unterschieden wird, andererseits von der Wortschöpfung (Bildung neuer Wurzelmorpheme). Die wichtigsten Wortbildungsverfahren im Sorbischen sind Derivation (Ableitung) und Komposition (Zusammensetzung). Daneben treten Kürzung (Abkürzungen und Kurzwörter), Konversion (Wortartwechsel) und Kontamination (Wortmischung) auf.

Bei der Derivation erfolgt die Wortbildung mithilfe von Derivationsmorphemen (bzw. Affixen: Präfixe, Suffixe), die an eine Wortbildungsbasis angefügt werden. Sie kommen nicht frei vor und gehören keiner Wortart an. Aus synchroner Sicht wird zwischen produktiven und unproduktiven Affixen unterschieden. Beispiele für Suffigierung: obersorb. rjan-osć, niedersorb. rědn-osć ,Schönheit‘ (< obersorb. rjany, niedersorb. rědny ,schön‘), obersorb., niedersorb. such-ota ,Trockenheit‘ (< obersorb. suchi, niedersorb. suchy ,trocken‘), obersorb. čit-ar, niedersorb. cyt-aŕ ,Leser‘ (< obersorb. čitać, niedersorb. cytaś ,lesen‘), obersorb. čołm ować, niedersorb. cołn owaś ,Kahn fahren‘ (< obersorb. čołm, niedersorb. cołn ,Kahn‘), obersorb. wčer awši, niedersorb. wcor ajšny ,gestrig‘ (< obersorb. wčera, niedersorb. cora ,gestern‘), obersorb., niedersorb. dopokaz ,Beweis‘ (< obersorb. dopokazać, niedersorb. dopokazaś ,beweisen‘); Beispiele für Präfigierung: obersorb. dosłowo ,Nachwort‘ (< dosłowo), obersorb., niedersorb. pralěs ,Urwald‘ (< pra-lěs); Beispiele für Präfix-Suffix-Derivation: obersorb. nachribjetnik, niedersorb. nakśebjatnik ,Rucksack‘ (< obersorb. na-chribjet-nik, niedersorb. na-kśebjat-nik). Präfigierung tritt besonders häufig bei Verben auf, sie ist das wichtigste Mittel zum Ausbau des verbalen Wortschatzes, z. B. obersorb. wustupić, niedersorb. wustupiś ,austreten‘ (< wu- ,aus-‘ und obersorb. stupić, niedersorb. stupiś ,treten‘). Bei Substantiven und Adjektiven kommt Präfigierung vor allem bei Deverbativa (obersorb. nadpad ,Überfall‘) und Lehnübersetzungen (obersorb. podskupina, niedersorb. pódkupka ,Untergruppe‘) vor, ansonsten sind hier Suffigierungen häufiger.

Bei den Derivaten werden unterschieden (a) nach der Wortart substantivische (obersorb. njezbožo, niedersorb. njegluka ,Unglück‘, obersorb., niedersorb. lubosć ,Liebe‘), adjektivische (obersorb. načerwjeń, niedersorb. nacerwjeny ,rötlich‘) und verbale Derivate (obersorb. popjec ,überbacken‘, napisać ,aufschreiben‘, niedersorb. wobźěłaś ,bearbeiten‘, rozkuskowaś ,zerstückeln‘); (b) nach der Wortart des Wurzelmorphems denominale (obersorb. mužik, niedersorb. mužyk ,Männlein‘ < obersorb., niedersorb. muž ,Mann‘, obersorb. próškowy ,Staub-‘, niedersorb. proškaty ,staubig‘ < obersorb., niedersorb. proch ,Staub‘), deadjektivische (obersorb. rjanosć, niedersorb. rědnosć ,Schönheit‘ < obersorb. rjany, niedersorb. rědny ,schön‘) und deverbale Derivate (obersorb. připosłuchar, niedersorb. pśisłuchaŕ ,Zuhörer‘ < obersorb. připosłuchać, niedersorb. pśisłuchaś ,zuhören‘); (c) nach semantischen Klassen, z. B. Nomina agentis (Personenbezeichnung für den Träger einer Handlung; obersorb. běhar, niedersorb. běgaŕ ,Läufer‘, obersorb. wučer, niedersorb. wucabnik ,Lehrer‘), Nomina instrumenti (Gerätebezeichnungen; obersorb. točawa ,Schleifmaschine‘, niedersorb. wjerśawa ,Bohrmaschine‘), Nomina diminutiva (Verkleinerungsformen; obersorb. konik, niedersorb. kónik ,Pferdchen‘, obersorb. ručka, niedersorb. rucka ,Händchen‘).

Bei der Komposition wird aus mindestens zwei Wurzelmorphemen oder Morphemverbindungen ein komplexes Wort (Kompositum) gebildet. Im Altsorbischen entstandende Komposita sind als solche z. T. schwer erkennbar (niedersorb. kołoźej ,Stellmacher‘). Komposita können aus indigenen Bestandteilen gebildet sein oder fremdsprachige Elemente enthalten. In letzterem Fall spricht man von Hybridkomposita (obersorb. šlofstwa, niedersorb. šlafštuba ,Schlafstube‘, obersorb. live-wustup ,Live-Auftritt‘, obersorb. last-minute-poskitk ,Last-Minute-Angebot‘). Auch Abkürzungen können Bestandteil von Komposita sein (obersorb. USB- tykačk ,USB-Stick‘).

An der Nahtstelle zwischen den Gliedern der Komposition steht bei einem Großteil der Komposita das Interfix -o-: obersorb. prawopis, niedersorb. pšawopis ,Rechtschreibung‘, obersorb., niedersorb. žołtozeleny ,gelbgrün‘. Im Niedersorbischen ist die Bildung von substantivischen o-Komposita weniger produktiv. Als Bindeglied treten auch erstarrte Kasusformen auf, häufig die Genitivendung: obersorb. bohabojazny, niedersorb. bogabójazny ,gottesfürchtig‘, obersorb. dušepastyr, niedersorb. dušepastyŕ ,Seelsorger‘, obersorb., niedersorb. zemjepis ,Erdkunde‘, außerdem die Dativendung, obersorb. bohudźak, niedersorb. boguźěk ,Gott sei Dank‘, oder die Akkusativendung, vgl. obersorb. prochsrěbak ,Staubsauger‘, niedersorb. glukužycenje ,Glückwunsch‘. Letztere sind meist aus Syntagmen entstanden, vgl. obersorb. kofej pić ,Kaffee trinken‘ > kofejpiće ,Kaffeetrinken‘, niedersorb. kulki zběraś ,Kartoffeln lesen‘ > kulkizběranje ,Kartoffellesen‘.

Monografie zu den Deminutiva im Obersorbischen, Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego 2012

Konversion liegt z. B. vor bei obersorb. Němska, niedersorb. Nimska ,Deutschland‘ (Substantiv) < obersorb. němski, niedersorb. nimski ,deutsch‘ (Adjektiv), obersorb. škoda, niedersorb. škóda ,schade‘ (Adjektiv) < obersorb. škoda, niedersorb. škóda ,der Schaden‘ (Substantiv), niedersorb. casy ,manchmal‘ (Adverb) < erstarrter Instrumental Plural von cas ,Zeit‘ (Substantiv).

Das Resultat von Kürzungen sind Abkürzungen und Kurzwörter. Häufigste Form von Abkürzungen sind Akronyme (meist für nominale Ausdrücke), in denen die Anfangsbuchstaben der Bestandteile des Syntagmas oder eines Kompositums für den ganzen Ausdruck stehen. Geschrieben werden sie meist in Großbuchstaben ohne Punkt: SLA = Serbski ludowy ansambl, SN = Serbske Nowiny, NC = Nowy Casnik. Deutsche Abkürzungen werden heute unverändert übernommen, z. B. EDV, LKW, UNO. Im Sorbischen können Abkürzungen auch die Basis für Ableitungen sein, z. B. obersorb. CDnik ,CD-Laufwerk‘, CDka bzw. cejdejka ,CD‘, CD-ROMowy ,CD-ROM‘. Kurzwörter sind meist deutsche Lehnwörter wie die ungekürzten Versionen, z. B. lok, deko, foto, limo, uni. Sie sind besonders typisch für den mündlichen Sprachgebrauch und können auch als Erstglied in Zusammensetzungen auftreten: obersorb. infokašćik ,Infokasten‘, multikultiwječor ,Multikultiabend‘, demopask ,Demoband‘.

Beispiele für die Kontamination sind obersorb. Nukstock als Bezeichnung eines unkommerziellen Metal-Rock-Techno-Festivals (< Ortsname sorb. Nuknica und Woodstock), obersorb. snobjed ,Brunch‘ (< snědań ,Frühstück‘ und wobjed ,Mittagbrot‘ analog zur englischen Entsprechung), niedersorb. bogala ,um Gottes willen‘ (< boga dla), niedersorb. dobrejtšo ,Guten Morgen‘ (< dobre zajtšo).

Zu 2.: Zur sorbischen Wortbildung liegen bisher nur Einzeluntersuchungen vor. Eine systematische Darstellung steht sowohl für das Obersorbische als auch das Niedersorbische noch aus. Für das Niedersorbische gibt Manfred Starosta in seinem Lehrbuch (1991/92) eine Übersicht über die wichtigsten Verfahren. Für das Obersorbische wurden einige Beobachtungen schon in den frühesten obersorbischen Grammatiken festgehalten, ausführlicher erstmals bei Jan Pětr Jordan (1841), allerdings ohne Anwendung wissenschaftlicher Methoden. Eine die Derivation zusammenfassende Abhandlung stellte Mikławš Just vor (»Wo słowotwórbje w serbšćinje«, Über die Wortbildung im Sorbischen; »Časopis Maćicy Serbskeje« 1914). Mikławš Krječmar (1954) beschreibt neben der Derivation auch die Komposition, Kürzung und Hybridisierung als Mittel der Wortbildung. Eine Übersicht über sämtliche Suffixe sorbischer Substantive und Adjektive bietet Filip Jakubaš in der Zeitschrift »Serbska šula« (Sorbische Schule, 1956). Hinc Schuster-Šewc behandelt in seiner Morphologie des Obersorbischen (21984) die Wortbildung in den einzelnen Kapiteln zur jeweiligen Wortart. Präfigierungen beschreibt er – anders als Krječmar – als Teil der Derivation. Einen Überblick über die obersorbische Wortbildung wird auch im obersorbisch-russischen Wörterbuch von Konstantin K. Trofimowič (1974), in den grammatischen Tabellen für den Sorbischunterricht (1978) sowie in dem 2016 erschienenen Teilband zur Wortbildung in den Sprachen Europas, verfasst von Anja Pohontsch, gegeben. Helmut Jenč (1963) widmete sich einzelnen Problemen der sorbischen Komposita. Eduard Werner beschrieb erstmals ausführlicher die Bildung von Verben mittels Affigierung (»Die Verbalaffigierung im Obersorbischen«). In den letzten Jahren haben sich v. a. polnische Slawisten und Sorabisten mit Fragen der obersorbischen Wortbildung beschäftigt (so Bogusław Kreja, Małgorzata Milewska-Stawiany, Tadeusz Lewaszkiewicz).

Lit.: M. Krječmar: Tworjenje słowow w hornjoserbšćinje, in: Lětopis 2 (1954); K. K. Trofimowič: Hornjoserbsko-ruski słownik, Bautzen/​Moskwa 1974; H. Šewc: Gramatika hornjoserbskeje rěče: Fonetika, fonologija a morfologija, 2. nakład, Budyšin 1984; M. Starosta: Niedersorbisch schnell und intensiv, Teil 2, Bautzen 1992; E. Werner: Die Verbalaffigierung im Obersorbischen, Bautzen 2003; M. Milewska-Stawiany: Górnołużyckie deminutywa w systemie językowym i w tekście, Gdańsk 2012; A. Pohontsch: Upper Sorbian, in: Word-Formation 40.4. An International Hand¬book of the Languages of Europe, Hgg. P. O. Müller/​I. Ohnheiser/​S. Olsen/​F. Rainer, Berlin-Boston 2016, S. 2811–2831

Metadaten

Titel
Wortbildung
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Wortbildung
Autor:in
Pohončowa, Anja
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Pohončowa, Anja
Schlagwörter
Derivation (Wortbildung); Komposition (Wortbildung); Kürzung (Wortbildung); Kontamination (Wortbildung); Wortschatz; Konversion (Wortbildung); Wortbildungsverfahren
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Derivation (Wortbildung); Komposition (Wortbildung); Kürzung (Wortbildung); Kontamination (Wortbildung); Wortschatz; Konversion (Wortbildung); Wortbildungsverfahren
Abstract

Einerseits Bildung von Wörtern durch Verbindung von Wurzelmorphemen mit anderen Wortstämmen oder Affixen nach bestimmten Modellen zwecks Wortschatzerweiterung, -differenzierung oder -präzisierung. Andererseits zwischen Lexikologie, Semasiologie und Grammatik einzuordnende Lehre von den Grundsätzen und Verfahren der Wortbildung.

Abstract

Einerseits Bildung von Wörtern durch Verbindung von Wurzelmorphemen mit anderen Wortstämmen oder Affixen nach bestimmten Modellen zwecks Wortschatzerweiterung, -differenzierung oder -präzisierung. Andererseits zwischen Lexikologie, Semasiologie und Grammatik einzuordnende Lehre von den Grundsätzen und Verfahren der Wortbildung.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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