Gesamtheit der aus dem Volksmund bewahrten poetischen Ăberlieferung. Der Begriff geht auf
Johann Gottfried Herder zurĂŒck. In
den nord- und osteuropĂ€ischen sowie den angelsĂ€chsischen LĂ€ndern wird âFolkloreâ
fĂŒr die sprachliche Ăberlieferung und âFolkloristikâ fĂŒr die entsprechende
Fachdisziplin benutzt. Neben den volkstĂŒmlichen ErzĂ€hlungen wie MĂ€rchen, Sage und Schwank zĂ€hlen zur Volksdichtung szenische
und musikalische Formen wie Volksschauspiel und Volkslied (â Legendenlied, â Kirchenlied), Sprachformeln wie Sprichwort und Redensart (â Phraseologie) oder Funktionsformeln wie GruĂ, Zauberspruch (â Volksmedizin) sowie formelhafte
Inschriften. Der Begriff Volksdichtung ist von der volkskundlichen
ErzĂ€hlforschung (â Volkskunde) in der
zweiten HĂ€lfte des 20. Jh. erweitert worden um die Genres Klatsch und GerĂŒcht,
um Erlebnisberichte und autobiografische ErzÀhlungen.
Herder als BegrĂŒnder des Konzepts der Volkspoesie erhob den naiven, ungekĂŒnstelten Stil v.âŻa.
der Volkslieder zur poetischen Norm, an der sich die Dichtung orientieren
sollte. In der sorbischen Volksdichtung fĂ€llt die Vorliebe fĂŒr das Diminutiv
auf, das als sprachliches Gestaltungsmittel die Formelhaftigkeit erhöht
(niedersorb. BÄĆu tu rucycku lubcycce, zĆoty ten pjerĆĄÄenik na palack
,dem Liebchen das weiĂe HĂ€ndchen (reichen), das goldene Ringlein aufs Fingerlein
(stecken)â). Sprachliche Bilder (Metaphern, Epitheta, Allegorien) und hĂ€ufige
Wiederholungen verfestigen die Texte bes. in den breit erzÀhlenden Genres
MĂ€rchen und Volkslied, v.âŻa. den Balladen, und erhöhen die Reproduzierbarkeit.
So stehen z.âŻB. die Farben WeiĂ und Rot fĂŒr die Schönheit eines MĂ€dchens
(obersorb. rjana holÄka, bÄĆa, Äerwjena ,das schöne MĂ€dchen, das weiĂe,
roteâ); beliebt sind tautologische Epitheta (obersorb. slÄpc slÄpcowski
,Nichtsnutz nichtsnutzigerâ, lubka najlubĆĄa ,Liebchen allerliebstesâ).
Die Dreizahl ist im MĂ€rchen ein wichtiger Teil der Handlungsstruktur. An die
Stelle von Abstrakta treten konkrete Beispiele oder Personifikationen. Die
emotionale Anteilnahme am ErzÀhlten oder Gesungenen wird durch die Verwendung
des â in der heutigen Standardsprache ungebrĂ€uchlichen â ethischen Dativs
angezeigt (obersorb. Po tej mi drĂłze mi ĆĄÄrokej, bÄĆĄtaj tam, bÄĆĄtaj hrodaj
mi dwaj ,An der StraĂe mir, der mir breiten, waren dort, waren
Schlösser mir zweiâ). Ein Merkmal der Sage ist die schmucklose, karge Sprache,
die auf poetische Bilder und weitschweifige Beschreibungen verzichtet. In ihr
dominiert die Angst im Gegensatz zum Schwank, in dem die Freude an der Komik
ĂŒberwiegt, der aber in seiner Bauart ebenso schlicht wie die Sage wirkt. Ein
weiteres Gestaltungselement in der Volksdichtung ist die Personifikation
bestimmter sozialer Typen oder Charaktere, etwa des pfiffigen Heidebauern, der
fleiĂigen oder faulen Bauerntochter, der bösen Stiefmutter usw.
Hana ChÄĆŸcyna, sorbische MĂ€rchenerzĂ€hlerin aus Horka; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut
Die sorbische Volksdichtung projiziert zwar kein exaktes Abbild der sozialen Wirklichkeit,
enthĂ€lt aber zahlreiche BezĂŒge zur Arbeits- und Lebenswelt der Dorfbewohner und
StÀdter in der Ober- und Niederlausitz des ausgehenden 18. und des 19. Jh.
Elemente höfischer Konventionen und Figuren, wie der König, der Ritter und das
BurgfrÀulein, erscheinen nur vereinzelt in den ZaubermÀrchen und in einigen
Volksliedern, sie werden auch da den Lausitzer Gegebenheiten angepasst. Die sich
in der Volksdichtung reflektierenden Lebenserfahrungen, Normen und Werte
entsprechen dem Weltbild der ĂberlieferungstrĂ€ger, das stark von den
Institutionen Schule und Kirche geprÀgt wurde. Dabei schlossen Schulwissen,
christliche Frömmigkeit und DĂ€monenglaube (z.âŻB. von Mittagsfrau, Wassermann oder Hausgeistern wie dem obersorb. zmij,
niedersorb. plon ,Drakâ, oder dem obersorb. kuboĆÄik ,Koboldâ)
einander nicht aus, sondern gingen wie in den Sagen oder den Besprechformeln
eine Symbiose ein.
Die mĂŒndliche und die literarische Tradition haben einander durchdrungen. Diffusionsprozesse
zeigen sich zum einen in der Ăbernahme von Stoffen, Formen und Motiven aus der
Volksdichtung in die sorbische Literatur,
zum anderen in der Verbreitung von Sprichwort- und ErzÀhlmotiven aus dem
klassischen und dem vorderasiatischen Schrifttum in der sorbischen Ăberlieferung
(â Krabat). Zwar konnten im 18. und 19. Jh.
nur wenige Menschen in bĂ€uerlichen und kleinbĂŒrgerlichen Schichten sorbisch
lesen und schreiben. Seinerzeit sorgten jedoch typische Vorlesestoffe wie die
Bibel (â BibelĂŒbersetzungen), das â Gesangbuch, der Katechismus, einige
religiöse Erbauungsschriften (â Pietismus),
der Kalender sowie auf FlugblÀttern
gedruckte Gelegenheitsschriften fĂŒr die Vermittlung literarischer Stoffe. Diese
wurden wiederum im privaten Umkreis und in der Nachbarschaft bzw. in der
Ăffentlichkeit von Kirche, Schule, Schenke und verschiedenen Kreisen, etwa der
Spinnstube, mĂŒndlich weitergegeben. So
erklĂ€rt sich die FĂŒlle an Varianten zu demselben ErzĂ€hlmotiv, derselben Melodie
oder sprichwörtlichen Formel. Die Vermittlung ĂŒber die Sprachgrenzen hinweg
besorgten Berufsreisende wie Hausierer, Handwerker, Soldaten und Wanderprediger.
Bes. die Volksmusikanten betÀtigten
sich als professionelle Ăbersetzer. Sie verfĂŒgten ĂŒber ausreichend Talent und
KreativitĂ€t sowie ein berufliches Interesse an âNeuemâ. So sind die sorbischen
Balladen den deutschen, tschechischen, slowakischen und polnischen Fassungen
zwar sehr Àhnlich, wurden jedoch inhaltlich der sozialen RealitÀt des
sorbisch-bĂ€uerlichen Milieus angepasst. GroĂen Anteil an den Adaptionen hatten
Kantoren und Schulmeister. Das Kralsche Geigenspielbuch enthĂ€lt z.âŻB. neben
sorbischen Liedern und TĂ€nzen auch deutsche Titel, die zwischen 1780 und 1790 in
der Umgebung des Klosters St. Marienstern in Panschwitz-Kuckau aufgezeichnet wurden. Mit wachsender
LesefÀhigkeit gewannen seit Mitte des 19. Jh. auch Zeitungen und billige Hefte mit Kolportageliteratur sowie originÀrer
Lyrik aus dem Volk an Einfluss auf das mĂŒndliche ErzĂ€hl-, Lied- und Spruchgut.
Mit zunehmender Zweisprachigkeit der
Bevölkerung, namentlich in den Randgebieten, wurde dieses auch in deutsche
Sprache aufgezeichnet bzw. von den Sammlern ins Deutsche ĂŒbersetzt.
Die sorbische Volksdichtung wurde im 19. Jh. gemÀà den vorherrschenden ethischen und
Àsthetisch-sprachlichen GrundsÀtzen erfasst. Mit der Verschriftlichung einher
ging die Ăbertragung der dialektalen ErzĂ€hlungen, SprĂŒche und Lieder in die
ober- und niedersorbische Schriftsprache nebst einer inhaltlichen Redaktion, da
die Texte und Melodien in der Regel auĂerhalb ihres eigentlichen Lebensbereichs
(â BrĂ€uche, Rituale, ErzĂ€hlsituationen) in
Sammlungen erfasst und publiziert werden sollten. Aufgezeichnet wurde
hauptsĂ€chlich nach Beobachtung und Befragung auf dem Lande. Den AnstoĂ
vermittelte die 1779 gegrĂŒndete Oberlausitzische
Gesellschaft der Wissenschaften, die sich zu einem Zentrum
slawistischer Studien und deutsch-slawischer Wechselseitigkeit entwickelte. In
den Arbeiten des deutschen Philologen Karl
Gottlob von Anton und des sorbischen Gymnasiallehrers Jan HĂłrÄanski entstand das Bild von den
Sorben als schuldlos unterdrĂŒcktes Volk, das sich lediglich auf seine
Ăberlieferung besinnen mĂŒsse, um national zu erstarken (â nationale Wiedergeburt). Das aus der
Altertumskunde erwachsene Interesse maĂ der Volksdichtung die Bedeutung frĂŒher
literarischer Zeugnisse bei und suchte in der Ăberlieferung nach Spuren eines
Entstehungsmythos (â Mythologie), der die
slawische Schicksalsgemeinschaft begrĂŒnden konnte.
Erste Ergebnisse veröffentlichten die sorbischen Studenten um Handrij Zejler an der UniversitĂ€t Leipzig in ihrer 1826 gegrĂŒndeten handschriftlichen Zeitschrift âSserska/âSerbska Nowinaâ (Sorbische
Zeitung). Zejler orientierte sich an der Volksdichtung, um eine Dichtung zu
schaffen, die wieder zurĂŒckflieĂen und auf das Sozium âsorbisches Volkâ
befruchtend wirken sollte. Die Sammlung âVolkslieder der Wenden in der Ober- und
Nieder-Lausitzâ (1841/43) von Jan ArnoĆĄt
Smoler und Leopold
Haupt vereint die Aufzeichnungen mehrerer Sammler. Sie
reprĂ€sentiert enzyklopĂ€disch den Wissensstand ĂŒber Geschichte, Sprache, Lebens-
und Denkweise der sorbischen Landbevölkerung bis Mitte des 19. Jh. Ab den 1860er
Jahren erschienen auf Initiative MichaĆ
HĂłrniks in den sorbischen Zeitungen ErgĂ€nzungen, was schlieĂlich
zur erneuten BeschĂ€ftigung mit dem Thema durch eine jĂŒngere Generation
volkskundlich interessierter Forscher fĂŒhrte. Wilibald von Schulenburg, Adolf
ÄernĂœ und ArnoĆĄt Muka
lieferten in ihren Veröffentlichungen detaillierte Informationen ĂŒber
Aufnahmeorte und -situationen sowie ihre GewÀhrspersonen. Jan Wjela-Radyserb schuf mit seinen
lebenslangen Aufzeichnungen von Sprichwörtern, Redensarten und metaphorischen
Wendungen einen am Volksmund orientierten sprachlichen Fundus, der stilbildend
auf die Literatur einwirkte.
Die Bewertung der Volksdichtung als Ausdruck vormodernen Bewusstseins fĂŒhrte im 20. Jh. dazu,
dass sie innerhalb der Kinder-
und Jugendliteratur einen hohen Stellenwert erhielt und fĂŒr die
Heimatpflege und Heimatkunde genutzt wurde. Mit der bildnerischen Darstellung
des Komplexes hat sich als Erster MÄrÄin
Nowak-NjechorĆski beschĂ€ftigt, der gemÀà seiner eigenen Berufung
als âMaler des sorbischen Volkesâ dem Figurenensemble der Volksdichtung ein
âkanonischesâ ĂuĂeres verlieh, das durch stĂ€ndige Reproduktion im GedĂ€chtnis der
Sorben Wurzeln schlug. Literatur und Kunst haben sich ausgiebig von der
Volksdichtung inspirieren lassen.
Lit.: P. Nedo: GrundriĂ der sorbischen Volksdichtung, Bautzen 1966; H. Bausinger:
Formen der âVolkspoesieâ, Berlin 1968; H. Strohbach u.âŻa.: Deutsche
Volksdichtung. Eine EinfĂŒhrung, Leipzig 1979; Volksdichtung zwischen
MĂŒndlichkeit und Schriftlichkeit, Hg. L. Röhrich/âE. Lindig, TĂŒbingen 1989.