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Autonomie­bestrebungen
von Peter Schurmann

Streben nach politischer Eigenständigkeit und kultureller Selbstverwaltung zwecks Erhalts von Sprache und Kultur, bei den Sorben oft als Reaktion auf assimilatorischen Druck von außen (→ Assimilation). Sorbische Autonomiebestrebungen wurden getragen von der Nationalbewegung. Deren Ziel bestand darin, auf regionaler und überregionaler Ebene Rahmenbedingungen für die Bewahrung des sorbischen Volkes zu schaffen. Autonomiekonzepte wurden v. a. in Phasen historischer Zuspitzung, so in bzw. nach Kriegen, Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen, entwickelt. Dies betraf speziell die Zäsuren 1918/19 (→ Weimarer Republik) und 1945–1948, z. T. auch 1989/90 (→ politische Wende).

Bestimmte Autonomiebestrebungen zielten darauf, die Belange der Sorben per Erlass oder Gesetz zu regeln. Die Notwendigkeit ergab sich daraus, dass die herrschenden Kreise in Sachsen und Preußen im 19. Jh. die sorbische Sprache und Kultur zumindest dem „Selbstlauf“ zu überlassen suchten. Der wachsende polnische Widerstand gegen die Minderheitenpolitik des Kaiserreichs schärfte bei den betreffenden staatlichen Stellen auch den Blick für die Sorbenfrage in der Lausitz, die wiederholt mit dem von Russland ausgehenden Panslawismus in Verbindung gebracht wurde. Nun forcierten besonders die Schulbehörden ihre Aktivitäten, „die Reste des Wendentums ihrem Ende entgegen“ zu führen (→ Schule). Sie wiesen die sorbischen Lehrer in der Niederlausitz an, „kein Volkstum“ zu pflegen. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die Chance auf Selbstbestimmung der Völker nutzten Vertreter der Sorben, um das Recht auf Anwendung und Pflege ihrer Muttersprache einzufordern. Sie stießen jedoch auf Ablehnung, denn die Nachkriegsentwicklung war von nationalistischen Tendenzen begleitet, die auch zum Aufleben von Vorurteilen führten. Gleichzeitig sahen viele Deutsche in den Forderungen der Sorben mögliche Einflüsse der ungeliebten tschechischen und polnischen Nachbarn und witterten Gefahr für den ohnehin geschwächten Staat.

Nach dem Krieg kam es zur Radikalisierung nationaler Forderungen der Sorben, die aber – im Vergleich etwa zu den Basken – nie gewaltsam verfolgt wurden. Der im November 1918 gegründete Wendische Nationalausschuss – ein von sorbischen Intellektuellen gebildetes und mit Vertretern der Domowina besetztes politisches Gremium – strebte eine kirchliche, schulische, wirtschaftliche und politische Selbstverwaltung und kulturelle Selbstständigkeit an. Die Grundlage dafür sollte die verwaltungsmäßige Vereinigung der von Sorben bewohnten Gebiete in der Ober-- und Niederlausitz bilden (→ Siedlungsgebiet). Dies ging zeitweilig einher mit dem Wunsch nach einem eigenen Staat, der in letzter Konsequenz der Ende 1918 neu entstandenen Tschechoslowakei als autonomes Gebiet angeschlossen werden sollte. Der Anstoß dazu kam von Adolf Černý in Prag. Noch während der Friedenskonferenz von Versailles distanzierte sich der Nationalausschuss von diesem Ansinnen. Allerdings hatten seine Aktivitäten als Gegenströmung die Bewegung sachsentreuer Wenden hervorgerufen. Dabei handelte es sich v. a. um Intellektuelle evangelischen Glaubens, die jegliche Kritik an der Obrigkeit zurückwiesen und vor einer zu starken Betonung des Sorbischen warnten. Ihre Vertreter stellten das Autonomiekonzept grundsätzlich infrage, griffen jedoch einzelne Forderungen des Nationalausschusses auf, so z. B. nach Erhalt des sorbischen Schulunterrichts. Dies fand im sächsischen Übergangsgesetz für das Volksschulwesen vom 22.7.1919 Niederschlag. Die Regelung für die Sorben in Sachsen war durch den Artikel 113 der Weimarer Verfassung (→ Weimarer Republik) erleichtert worden, der vorsah, die „fremdsprachigen Volksteile des Reichs (…) durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht, sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege“ zu beeinträchtigen. Allerdings erließ der Staat keine der dafür nötigen Durchführungsbestimmungen. 1920 löste sich der Nationalausschuss auf, nachdem es ihm mit dem Wendischen Bund v. a. in Sachsen gelungen war, Vereinigungen unter den Sorben zu gründen bzw. zu erneuern. Darunter war die Lausitzer, später Wendische Volkspartei, die an die Forderung des Nationalausschusses anknüpfte, das gemischtnationale Territorium der Ober- und Niederlausitz zu einer selbstständigen Provinz zusammenzufassen. 1935 griff auch die Domowina den Wunsch nach einer Gebietsreform auf, bei der beide Lausitzen zur Verwaltungseinheit „Reichsgau Lausitz“ vereinigt werden sollten, um einheitliche rechtliche Bestimmungen für die Sorben zu ermöglichen. Diese Bestrebungen blieben jedoch ohne Erfolg.

Nach 1945 brachten Vertreter der Sorben das uneingelöste Autonomiekonzept erneut ins Gespräch. Die Pläne des in Prag neu gebildeten Sorbischen Nationalausschusses, der für einige Monate gemeinsam mit der Domowina einen Nationalrat als exekutive Instanz schuf und eng mit tschechischen Politikern zusammenarbeitete, reichten wiederum vom Anschluss der Lausitz an die Tschechoslowakei bis zur Errichtung eines unabhängigen sorbischen Staates. Auch von polnischer Seite wurden Angebote unterbreitet, die auf eine separatistische Lösung der Sorbenfrage abzielten. Der schließlich von der Domowina verfolgte Weg der Unterstützung politischer und sozialer Reformen in der Sowjetischen Besatzungszone/​DDR trug den Machtverhältnissen Rechnung und sollte die Lösung der Sorbenfrage in den Ländern Sachsen und Brandenburg befördern.

Politische Karte der Lausitz, Anlage zum Memorandum des Lausitzisch-sorbischen Nationalrats an die Moskauer Außenministerkonferenz vom 10.3.1947; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Beeinflusst von der Idee der slawischen Wechselseitigkeit, unterwarf sich die Domowina im Unterschied zum Nationalausschuss den Anweisungen der Besatzungsmacht und suchte die Zusammenarbeit mit den deutschen Parteien, darunter der SED. Letztere war es auch, die die Domowina bei der Regelung der sorbischen Belange in Sachsen aktiv unterstützte. Ergebnis der Annäherung, die nicht konfliktfrei verlief, war das am 23.3.1948 vom Sächsischen Landtag verabschiedete Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung (→ Sorbengesetze), das zwei Jahre später durch eine Verordnung auch in Brandenburg in Kraft trat. Diese Regelungen, komplettiert durch die Verfassung der DDR von 1949 (Art. 11), billigten der sorbischen Bevölkerung erstmals staatlichen Schutz und Förderung zu, was sich auf Bildung und Kultur, auf Wissenschaft und regionale Verwaltung erstreckte. Bereits im März 1949 hatte die sächsische Landesregierung der Domowina den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts verliehen. Sie war damit als alleinige Interessenvertretung der Sorben anerkannt und den anderen sog. Massenorganisationen im Prinzip gleichgestellt. Fortan blieb die sorbische Frage ein „innerdeutsches Problem“. Allerdings wurde in den 1950er Jahren und erneut 1989/90 die Idee einer verwaltungsmäßig „einigen Lausitz“ – bei Zusammenlegung der von Sorben bewohnten Gebiete – geäußert, sie fand jedoch bei der deutschen und auch der sorbischen Bevölkerung, besonders in der Niederlausitz, kaum Resonanz. Seit 1989/90 gibt es Bemühungen der Domowina, den Handlungsspielraum speziell im Schulwesen in Richtung einer kulturellen Autonomie zu erweitern (→ Sprachenpolitik, → Witaj-Modellprojekt).

Die Autonomiebestrebungen der Sorben wurden von der Minderheitenpolitik des jeweiligen deutschen Staates beeinflusst, was sich unmittelbar auf das deutsch-sorbische Verhältnis in den Lausitzen auswirkte. Keine der beiden Seiten verfügte über ein einheitliches Konzept. Es gab unter den Sorben voneinander abweichende und einander ausschließende Auffassungen und Programmvorstellungen, so 1918/19 zwischen dem Wendischen Nationalausschuss und der Bewegung sachsentreuer Wenden oder ab Ende 1945 zwischen der Domowina und dem Sorbischen Nationalrat bzw. Nationalausschuss. Später setzte sich Pragmatismus innerhalb der Nationalbewegung durch. Bestrebungen der Sorben um Autonomie und Eigenständigkeit wurden von deutscher Seite stets beargwöhnt. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg wuchs ein tiefes Misstrauen, das bis in die DDR-Zeit nachwirkte. Trotz einer pragmatischen Haltung bei der Lösung der sorbischen Frage wurden auch nach 1949 berechtigte Forderungen der Domowina nach kultureller Autonomie immer wieder mit Nationalismus und Separatismus in Verbindung gebracht. Dies war u. a. eine von der SED angewandte Methode, um Kritik an der DDR-Minderheitenpolitik kontrollieren und letztlich unterbinden zu können.

Lit.: F. W. Remes: Die Sorbenfrage 1918/19. Untersuchung einer gescheiterten Autonomiebewegung, Bautzen 1993; P. Schurmann: Die sorbische Bewegung 1945–1948 zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung, Bautzen 1998; M. Kasper: Die Lausitzer Sorben in der Wende 1989/1990. Ein Abriss mit Dokumenten und einer Chronik, Bautzen 2000; Zwischen Zwang und Beistand. Deutsche Politik gegenüber den Sorben vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Hg. E. Pech/​D. Scholze, Bautzen 2003.

Metadaten

Titel
Autonomie­bestrebungen
Titel
Autonomie­bestrebungen
Autor:in
Schurmann, Peter
Autor:in
Schurmann, Peter
Schlagwörter
Politische Bewegung; Separatismus; Lausitz; Nationalbewegung; Minderheitenpolitik; Minderheitenrecht; Partikularismus
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Politische Bewegung; Separatismus; Lausitz; Nationalbewegung; Minderheitenpolitik; Minderheitenrecht; Partikularismus
Abstract

Streben nach politischer Eigenständigkeit und kultureller Selbstverwaltung zwecks Erhalts von Sprache und Kultur, bei den Sorben oft als Reaktion auf assimilatorischen Druck von außen. Sorbische Autonomiebestrebungen wurden getragen von der Nationalbewegung.

Abstract

Streben nach politischer Eigenständigkeit und kultureller Selbstverwaltung zwecks Erhalts von Sprache und Kultur, bei den Sorben oft als Reaktion auf assimilatorischen Druck von außen. Sorbische Autonomiebestrebungen wurden getragen von der Nationalbewegung.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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