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Sokoł
von Timo Meškank

Verein zur Leibesübung und patriotischen Erziehung, entstanden ab 1920 in der Lausitz nach dem Beispiel nationaler Turnerbünde anderer slawischer Völker. Auf Initiative von Miroslav Tyrš wurde 1862 in Prag der erste tschechische Turnverein „Sokol“ (Falke, sorb. Sokoł) gegründet. Die deutsche Turnbewegung, die den Slawen in der Habsburgermonarchie als Vorbild diente, war 1811 von Friedrich Ludwig Jahn ins Leben gerufen worden, der während der napoleonischen Herrschaft die physische und moralische Kraft des deutschen Volkes zu stärken suchte. Doch ähnlich wie bei den deutschen Burschenschaften machten sich bei den Turnern bald Anzeichen eines betonten Nationalismus bemerkbar. Die tschechische Turnbewegung vertrat im Gegensatz dazu den Gedanken einer Klassen übergreifenden Demokratie und propagierte unter dem Motto der slawischen Wechselseitigkeit gleichrangige Beziehungen zu anderen Völkern. Die Verfechter der Sokoł-Idee distanzierten sich vom politisch begründeten Panslawismus.

Sokoł-Verein aus Hochkirch, um 1930; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Turnübung von Sokoł-Frauen in Purschwitz, 1928; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als die Aktivitäten der Sokoł-Organisationen eingeschränkt wurden, waren slowenische, polnische, kroatische, serbische, bulgarische, ukrainische und russische Sokoł-Verbände entstanden. Die erste sorbische Einheit wurde am 9.11.1920 unter Federführung von Herman Šleca, Jan Skala und Marko Smoler in Bautzen gegründet. Als Leitspruch für den Sokoł sollte gelten: „Weder Gewinn noch Ruhm, sondern uneigennützige Liebe zu jedem Bruder und jeder Schwester und so zum ganzen Volk.“ Bis Mitte 1923 wurden zehn Einheiten in der sächsischen Oberlausitz aufgestellt. 1922 traten Vertreter der schon bestehenden Sokoł-Einheiten zusammen, um eine zentrale Leitung zu wählen. Der Verband trug seit der zweiten Hauptversammlung 1923 den offiziellen Namen „Łužisko-serbski sokołski zwjazk“ (Lausitzisch-sorbischer Sokoł-Bund). Vorsitzende waren 1922 Jakub Šajba, 1923–1927 Michał Nawka, ab 1927 erneut Šajba. Der Vorsitzende führte die Geschäfte, die sportliche Leitung oblag dem Verbandsturnwart. 1923 wurde Arnošt Bart jr. in diese Funktion berufen, 1927 übernahm sie Měrćin Kerk, 1930 Jan Meškank. Bis 1930 wurden elf weitere Sokoł- Einheiten gegründet, darunter drei in der preußischen Oberlausitz, eine wurde aufgelöst. Es gab örtliche Abteilungen für Frauen bzw. Kinder, die Vereinsmitglieder trugen besondere Trachten und Symbole. In der Niederlausitz konnte die Organisation nicht Fuß fassen, da sich die dortige sorbische Jugend – gemäß der preußischen Tradition – in deutschen Verbänden organisierte.

Aus den 20 Einheiten, zu denen rund 2 000 Mitglieder gehörten, wurden vier territoriale Übungsverbände gebildet, die ihre Turn- bzw. Sportausbildung selbstständig durchführten und in gewissen Abständen Sokoł-Feste veranstalteten. Trotz Behinderung durch deutsche staatliche und nichtstaatliche Instanzen sowie der eigenen personellen Schwäche fand das erste Verbandstreffen 1924 in Panschwitz statt, ihm folgten zwei weitere – 1927 in Groß Zeißig und 1931 in Radibor. Ende 1921 legte Šleca für die sorbischen Turner eine spezielle sorbische Terminologie vor. Die Verbandszeitschrift „Sokołske Listy“ erschien von 1924 bis 1932, die Beiträge untermauerten Ziele wie Körperertüchtigung und patriotische Erziehung. Die Einheiten wirkten in zwei Disziplinen, den Ordnungs- und den Geräteübungen, was es ermöglichte, auch bei Mangel an Turngeräten den Übungsbetrieb aufrechtzuerhalten. Um dem Defizit an sorbischen Turnwarten abzuhelfen, bot der tschechoslowakische Verband in den Jahren 1925, 1926 und 1928 in Prag bzw. Nordböhmen Kurse für Sorben an. Zur Jahreswende 1928/29 konnte der sorbische Sokoł-Verband in Wittichenau, im Januar 1930 in Bautzen und im Dezember 1930 in Radibor eigene Schulungen abhalten. Vorträge zur sorbischen Geschichte, Literatur und Sprache dienten der nationalen Bildung.

Am VIII. allslawischen Sokoł-Treffen, das 1926 in Prag stattfand, nahm eine über 150 Mitglieder zählende sorbische Delegation teil. Im Vorfeld hatte die katholische Kirchenhierarchie von der Teilnahme abgeraten, weil der Bund eine antikatholische bzw. überkonfessionelle Haltung einnahm. Die in Prag zu anderen slawischen Sokoł-Organisationen geknüpften Kontakte wurden vom sorbischen Verband zielstrebig ausgebaut. Die Beteiligung an Kongressen des jugoslawischen Sokoł 1928 in Skopje und des polnischen Sokoł 1929 in Poznań sollte die Idee der slawischen Wechselseitigkeit weiter stärken. Die nationalen Spannungen in der Lausitz, die in Zusammenstößen zwischen den Mitgliedern des Sokoł und deutschen militaristischen Verbänden (Stahlhelm) ihren Ausdruck fanden, waren Anfang der 1930er Jahre so angewachsen, dass eine Teilnahme an Veranstaltungen in Prag in der deutschen Öffentlichkeit als landesverräterischer Akt interpretiert werden konnte. Hinzu kam die wirtschaftliche Krise, die die meist sozial schwachen Sokoł-Mitglieder von einer Reise abhielt. Der Verbandsführung gelang es zunächst, dem seit der Gründung schwelenden Konflikt zwischen der katholischen Kirchenführung, die den Turnverband ablehnte, und den Sokoł-Befürworten im nationalen Lager auszuweichen. Um den Gegnern die Argumente zu entziehen, wurde auf Empfehlung des Tschechen Vladimír Zmeškal eine Neustrukturierung des Bundes eingeleitet. Ende 1929 beschloss die Verbandsführung, drei Regionalverbände zu bilden, wobei im ersten alle acht katholischen Sokoł-Einheiten zusammengefasst werden sollten. Dies sicherte der Organisation bis zur Jahreswende 1932/33 ihre Existenz, zumal sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch die sorbischen katholischen Geistlichen für einen einheitlichen Sokoł-Verband aussprachen. Der von katholischer Seite in Crostwitz am 22.3.1933 dennoch vollzogene Bruch mit der Sokoł-Idee war ein Ergebnis der sich zuspitzenden politischen Lage nach der Machtergreifung Hitlers.

Sorben beim Sokoł-Treffen in Prag, 1932; Sorbisches Kulturarchiv am Sorbischen Institut

„Sokołske listy“ als Beilage der obersorbischen Tageszeitung, 2010; Repro: Sorbische Zentralbibliothek am Sorbischen Institut

Auf der Hauptversammlung des Verbands am 9.4.1933 in Bautzen fassten die Vertreter der verbliebenen Sokoł-Einheiten den Beschluss zur Auflösung der Organisation. Nach Meinung der Zeitgenossen war der Sokoł die bedeutendste demokratische Organisation der Sorben in der Weimarer Republik, weil sie ungeachtet konfessioneller und sozialer Unterschiede einen Großteil der Jugend an sich binden konnte und sie damit der nationalen Sache erhielt.

Nach 1945 lebte die Sokoł-Bewegung in der Lausitz kurzzeitig wieder auf. Ein Markstein im Vereinsleben war die Teilnahme von über 200 Mitgliedern am XI. allslawischen Sokoł-Treffen in Prag 1948. Nach dem kommunistischen Putsch vom Februar 1948 und der darauffolgenden Marginalisierung des tschechischen Sokoł stellte auch der sorbische Verband seine Tätigkeit ein. Erst nach der politischen Wende 1989/90 konnte man an die Tradition anknüpfen. Der am 28.12.1993 in Horka gegründete Sokoł-Bund zählt etwa 300 Mitglieder (2010), die dem Bund als Einzelmitglieder oder als Mitglieder von Sportvereinen und mannschaften angehören. Im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen volkssportliche Turniere in Volleyball, Fußball und Kegeln. Die neuen „Sokołske Listy“ erschienen 1994–2006 als zweimonatliche Beilage der Tageszeitung „Serbske Nowiny“. Seitdem werden sie als Bestandteil des Informationsblatts „Naša Domowina“ herausgegeben, um über Geschichte und Gegenwart der Turnvereinigung zu berichten.

Lit.: A. Wićaz: Serbski Sokoł, Bautzen 1990; Die slawische Sokolbewegung. Beiträge zur Geschichte von Sport und Nationalismus in Osteuropa, Hg. D. Blecking, Dortmund 1991; T. Meškank: Kultur besteht – Reich vergeht. Tschechen und Sorben (Wenden) 1914–1945, Berlin 2000. www.sokol.sorben.com

Metadaten

Titel
Sokoł
Titel
Sokoł
Autor:in
Meškank, Timo
Autor:in
Meškank, Timo
Schlagwörter
Turnbewegung; Sokoł; Sport; Sportler; Sportlerin; Nationalbewegung; Verein; Sportverein
Schlagwörter
Turnbewegung; Sokoł; Sport; Sportler; Sportlerin; Nationalbewegung; Verein; Sportverein
Abstract

Verein zur Leibesübung und patriotischen Erziehung, entstanden ab 1920 in der Lausitz nach dem Beispiel nationaler Turnerbünde anderer slawischer Völker.

Abstract

Verein zur Leibesübung und patriotischen Erziehung, entstanden ab 1920 in der Lausitz nach dem Beispiel nationaler Turnerbünde anderer slawischer Völker.

Enthalten in Sammlung
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Im Sorabicon 1.0 zu finden unter
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